Viele Menschen assoziieren Epilepsie mit Anfällen, die mit Bewusstseinsverlust und Muskelkrämpfen einhergehen. Doch epileptische Attacken können sich vielfältiger äußern, und die Symptome sind oft unbekannt. Sie reichen von falschen Sinneswahrnehmungen bis hin zu Verwirrtheit. Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend, da hinter den Anfällen oft andere Erkrankungen stecken können.
Was sind Epilepsien?
Epilepsie umfasst eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems, die durch eine Überaktivität der Nervenzellen im Gehirn verursacht werden. Diese Überaktivität kann zu anfallsartigen Funktionsstörungen führen, die von kaum merklichen geistigen Abwesenheiten (Absencen) über Wahrnehmungsstörungen bis hin zu schweren Krampfanfällen mit Bewusstseinsverlust reichen. Es gibt generalisierte Anfälle, die das gesamte Gehirn betreffen, und fokale Anfälle, die nur in einem Teil des Gehirns entstehen. Epileptische Anfälle sind in der Regel sehr kurz und dauern meist nicht länger als zwei Minuten. Ein Anfall, der länger als fünf Minuten anhält, wird als Status epilepticus bezeichnet. Ebenso spricht man von einem Status epilepticus, wenn zwei oder mehr Anfälle kurz hintereinander auftreten, ohne dass sich der Betroffene dazwischen erholen konnte.
Einzelne epileptische Anfälle können auch bei Menschen ohne Epilepsie auftreten, beispielsweise ausgelöst durch akute Erkrankungen, Verletzungen oder Fieberkrämpfe bei Kindern. Von Epilepsie spricht man erst, wenn mindestens zwei epileptische Anfälle ohne ersichtlichen Grund im Abstand von mehr als 24 Stunden aufgetreten sind oder nach einem ersten Anfall ohne bekannten Auslöser eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre weitere Anfälle auftreten. Letzteres kann beispielsweise angenommen werden, wenn die Krankheit in der Familie bereits häufiger diagnostiziert wurde.
Symptome leichter epileptischer Anfälle
Die Symptome eines epileptischen Anfalls können vielfältig sein und hängen davon ab, welcher Teil des Gehirns betroffen ist.
- Falsche Sinneswahrnehmungen: Ein Beispiel ist Ahmed Yilmaz, der in seiner Wohnung Abfallgeruch wahrnimmt, den seine Frau und Tochter nicht riechen. Dr. Wolf-Oliver Krohn von der Deutschen Hirnstiftung betont, dass solche falschen Sinneswahrnehmungen wichtige Warnsignale sein können.
- Verwirrtheit: Kurze Episoden von Verwirrtheit oder verminderter Reaktion auf Ansprache können auftreten.
- Sehstörungen: Auch Sehstörungen können ein Symptom sein.
- Unkontrollierte Bewegungen oder Zuckungen: Muskelzuckungen oder unkontrollierte Bewegungen sind möglich.
- Missempfindungen: Kribbeln oder Taubheitsgefühle können auftreten.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Ursachen der Epilepsie sind noch nicht vollständig geklärt. In vielen Fällen tritt Epilepsie familiär gehäuft auf, was für eine erbliche Veranlagung spricht. In einigen Fällen können Veränderungen im Erbmaterial (Genmutationen) erkannt werden. Manche Anfälle können sich in Folge von Unfällen (posttraumatisch) oder als Reflexantwort ereignen. Bei anderen Anfällen können Veränderungen in der Gehirnstruktur (z. B. eine fokale kortikale Dysplasie) ursächlich sein.
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Mögliche Auslöser (Trigger) von epileptischen Anfällen:
- Schlafmangel
- Unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus
- Starke körperliche oder seelische Belastung (Stress)
- Hohes Fieber
- Alkohol und Alkoholentzug
- Drogen- oder Schlafmittelentzug
- Eher selten: flackerndes Licht (Computerspiele, Stroboskopbeleuchtung in Clubs)
Klassifikation epileptischer Anfälle
Die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE) hat im Jahr 2017 ein System zur Klassifikation der Anfallsformen entwickelt. Im ersten Schritt wird nach dem Beginn des Anfalls unterschieden:
- Fokaler Beginn: Der Anfall findet in einer Hirnhälfte statt.
- Generalisierter Beginn: Der Anfall geht von beiden Hirnhälften aus.
- Unbekannter Beginn: Es ist nicht bekannt, wie der Anfall angefangen hat.
Klassifikation von Anfällen mit fokalem Beginn
Anfälle mit fokalem Beginn werden danach unterschieden, ob der Betroffene sie bewusst erlebt oder nicht. Anschließend werden sie nach ihrem anfänglichen Erscheinungsbild klassifiziert, wobei zwischen einem motorischen und einem nicht-motorischen Beginn unterschieden wird.
Motorischer Beginn:
- Klonisch: Symmetrische oder asymmetrische Zuckungen, die rhythmisch sind und identische Muskelgruppen betreffen.
- Myoklonisch: Plötzliche, sehr kurze, einzelne oder mehrfache unrhythmische Muskelzuckungen.
- Tonisch: Eine zunehmende Muskelanspannung (Kontraktion), die einige Sekunden bis Minuten anhält.
- Epileptische Spasmen: Plötzliche Muskelaktivität, die anfallsweise häufig wiederholt werden kann.
- Automatismus: Bewegungen, die wie alltägliche koordinierte Handlungen aussehen, die die Betroffenen jedoch nicht willentlich steuern.
- Hyperkinetisch: Die Betroffenen bewegen sich sehr stark, sie strampeln beispielsweise.
Nicht-motorischer Beginn:
- Innehalten: Aktivitätspause, Erstarren, Bewegungslosigkeit.
- Kognitive Einschränkungen: z. B. Sprach- und Sprechstörungen (Aphasie, Apraxie), Wahrnehmungsstörungen oder Halluzinationen.
- Emotionales Verhalten: z. B. Angst, Furcht, Wut sowie Lachanfälle oder Weinen.
- Autonome Reaktionen: z. B. Erröten, Blässe, Gänsehaut, Erektion, Veränderungen des Herzschlags oder der Atmung, Übelkeit.
- Sensible/sensorische Störungen (Sinnesstörungen): z. B. Störungen des Hör-, Geschmacks- oder Geruchssinns, Gleichgewichtsstörungen oder Sehstörungen.
Anfälle mit fokalem Beginn können auf eine Hirnhälfte begrenzt bleiben oder auf die andere Hirnhälfte übergreifen und dann beidseitig (bilateral) eine tonisch-klonische Aktivität hervorrufen.
Klassifikation von Anfällen mit generalisiertem Beginn
Ein generalisierter Anfallsbeginn wird von den Betroffenen niemals bewusst erlebt. Man beschreibt diese Anfälle nach ihren motorischen und nicht-motorischen Symptomen.
Motorische Symptome bei generalisiertem Beginn:
Neben den tonischen, klonischen und myoklonischen Muskelaktivitäten, der Atonie und den epileptischen Spasmen, die man auch bei fokalen Anfällen beobachten kann, können bei einem Anfall mit generalisiertem Beginn Kombinationen dieser Symptome auftreten:
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- Tonisch-klonisch
- Myoklonisch-tonisch-klonisch
- Myoklonisch-atonisch
Nicht-motorische Symptome bei generalisiertem Beginn:
Anfälle mit generalisiertem Beginn und nicht-motorischen Symptomen können auch als Absencen bezeichnet werden. Absencen treten typischerweise eher bei Kindern auf als bei Erwachsenen. Man unterscheidet:
- Typische Absence-Anfälle
- Atypische Absence-Anfälle (mit langsamem Beginn oder Ende oder bei signifikanter Veränderung der Muskelspannung)
- Myoklonische Krampfanfälle (kurze, vereinzelte und plötzlich auftretende Muskelzuckungen, hauptsächlich in Schultern und Armen)
- Augenlid-Myoklonie (Lidzuckungen, Drehen der Augäpfel)
Anfälle mit unbekanntem Beginn
Der Beginn eines Anfalls ist unbekannt, wenn der Betroffene ihn nicht bewusst erlebt hat und es auch keine Zeugen gibt, die den Anfallsbeginn genau beschreiben können.
Diagnose
Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, da hinter den Anfällen oft andere Erkrankungen als Auslöser stecken können, wie Entzündungen im Gehirn, ein unbemerkter Schlaganfall oder ein Tumor. Um den Auslöser zu finden, sind oft umfangreiche Untersuchungen nötig, zum Beispiel in neurologischen Kliniken, die sich auf Epilepsie spezialisiert haben.
Wichtige Diagnosewerkzeuge:
- Elektroenzephalogramm (EEG): Misst die elektrische Aktivität des Gehirns und kann zeigen, ob und wie sich die Nervenzellen im Gehirn ungewöhnlich entladen. Eine besondere Form ist das Langzeit-Video-EEG, bei dem die Hirnströme über 72 Stunden oder länger dauerhaft aufgezeichnet werden.
- Anamnese: Eine ausführliche Befragung des Betroffenen und seiner Angehörigen, um Details über die Anfälle und mögliche Auslöser zu erfahren.
- Neurologische Tests: Umfasst verschiedene Untersuchungen zur Überprüfung der neurologischen Funktionen.
- Bildgebungsverfahren (MRT): Um strukturelle Veränderungen im Gehirn zu erkennen, die für die Anfälle verantwortlich sein könnten.
Verhalten bei einem epileptischen Anfall
Wenn man Zeuge eines epileptischen Anfalls bei einer anderen Person wird, ist es sehr wichtig, ruhig und besonnen zu bleiben. Vor allem sollte man überlegen, wie man die Person vor Verletzungen schützt. Alles andere hängt von der Stärke und der Art der Anfälle ab.
Leichte epileptische Anfälle mit wenigen Symptomen:
Bei kurzen Absencen oder Muskelzuckungen besteht keine unmittelbare Gefahr. Danach können sich die Betroffenen unsicher fühlen und Unterstützung benötigen.
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Anfälle mit eingeschränktem Bewusstsein oder Verhaltensänderungen:
Wenn Menschen mit einem epileptischen Anfall verwirrt wirken, ist es wichtig, sie vor Gefahren zu schützen (z. B. im Straßenverkehr). Gehen Sie dabei mit der Person ruhig um und fassen Sie sie nicht hart an. Hektik, Zwang oder Gewalt können zu starken Gegenreaktionen führen. Versuchen Sie dem oder der Betroffenen Halt und Nähe zu vermitteln.
Große generalisierte epileptische Anfälle:
Bei einem großen generalisierten Anfall verkrampft der ganze Körper und die Person verliert das Bewusstsein. In diesen Fällen sollten Sie Folgendes tun:
- Wählen Sie immer den Notruf 112 und rufen Sie professionelle Hilfe.
- Sorgen Sie für Sicherheit, indem Sie z. B. gefährliche Gegenstände beiseite räumen.
- Polstern Sie den Kopf des Betroffenen ab.
- Nehmen Sie seine/ihre Brille ab.
- Lockern Sie enge Kleidung am Hals, um die Atmung zu erleichtern.
- Bitten Sie Menschen, die in der Situation nicht helfen können, weiterzugehen.
- Bleiben Sie nach dem Anfall bei der Person und bieten Sie Ihre Unterstützung an.
- Wenn die Person nach dem Anfall erschöpft ist und einschläft, bringen Sie sie in die stabile Seitenlage.
Das sollten Sie in keinem Fall tun:
- Die/den Betroffene/n festhalten oder zu Boden drücken
- Der betroffenen Person etwas in den Mund schieben - auch wenn sie sich in die Zunge beißt
Behandlung
Liegt keine andere Erkrankung als Ursache vor, können Medikamente die elektrische Empfindlichkeit der betroffenen Hirnzellen verringern und so einen Schutz vor Anfällen aufbauen.
Weitere Behandlungsmöglichkeiten:
- Ketogene Diät: Eine spezielle Ernährungsform mit wenig Kohlenhydraten und viel Fett, die bei einigen Kindern mit schwer behandelbarer Epilepsie die Anfallshäufigkeit reduzieren kann.
- Operation: Infrage kommt eine Operation, wenn sich eine belastende Epilepsie nicht gut mit Medikamenten behandeln lässt und die Anfälle von einer ganz bestimmten Stelle im Gehirn ausgehen (fokale Epilepsie).
- Vagusnerv-Stimulation: Dabei wird eine Elektrode links am Hals eingepflanzt und mit einem kleinen Gerät verbunden, das im Brustbereich unter der Haut eingesetzt wird. Das Gerät sendet über die Elektrode elektrische Impulse an den Vagusnerv und weiter ans Gehirn.
Verlauf und Prognose
Epilepsien können unterschiedlich verlaufen. Es gibt Menschen, die nur wenige Anfälle in ihrem Leben erleiden. Die Krankheit hat in diesen Fällen kaum Einfluss auf die Lebensplanung und -qualität der Betroffenen. Unter Umständen können diese Personen nach einigen Jahren Anfallsfreiheit ihre Epilepsie-Medikamente unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle sehr langsam ausschleichen. Wenn die Medikamente dazu führen, dass die Betroffenen anfallsfrei sind oder deutlich weniger Anfälle erleiden, können diese ein weitgehend normales Leben führen. Solange das Risiko von Anfällen besteht, dürfen die Betroffenen jedoch kein Kraftfahrzeug fahren.
Etwa 30-40 Prozent der Patientinnen werden durch die medikamentöse Therapie nicht vollständig anfallsfrei. Wenn zwei sorgfältig ausgewählte Medikamente in ausreichender Dosierung versagen, gilt eine Epilepsie als pharmakoresistent, d.h. sie spricht nicht ausreichend gut auf medikamentöse Therapien an. Wenn eine Stelle im Gehirn (Fokus) zu erkennen ist, von der die Anfälle ausgehen, kann eine Operation Patientinnen mit einer pharmakoresistenten Epilepsie unter Umständen helfen.
Hilfsmittel und Unterstützung
- Epilepsie-Überwachungsgeräte: Diese Geräte erkennen Anfälle und lösen einen Alarm aus, z. B. bei den Eltern, beim Partner oder in einer Notrufzentrale.
- Sturzmelder: Können bei Anfällen mit Bewusstseinsverlust und Sturz helfen.
- Epilepsie-Assistenzhunde: Warnhunde haben die Fähigkeit, einen kommenden Anfall zu spüren und warnen dann den Betroffenen. Anzeigehunde lernen, einen tatsächlichen Anfall zu erkennen und dann in vorher geübter Art und Weise zu helfen.
Leben mit Epilepsie
Die Angst vor einem Anfall kann Betroffene psychisch belasten. Darüber hinaus ist das Risiko für eine Depression bei Menschen mit Epilepsie erhöht. Es ist wichtig, sich aus mehreren Quellen zu informieren, welche Risiken in welchem Umfang tatsächlich bestehen, um weder übervorsichtig die Lebensqualität zu sehr einzuschränken, noch fahrlässig die Gesundheit und das Leben aufs Spiel zu setzen.