Leitlinie Diabetische Polyneuropathie: Ein umfassender Überblick

Die diabetische Neuropathie stellt eine bedeutende Herausforderung in der klinischen Praxis dar, sowohl in Bezug auf die Diagnose als auch auf die Therapie. Definitionsgemäß umfasst die Erkrankung eine Vielzahl von klinischen Manifestationen am peripheren oder autonomen Nervensystem, die im Rahmen des Diabetes mellitus auftreten und auf keine anderen Ursachen einer peripheren Neuropathie zurückzuführen sind.

Einleitung

Etwa jeder dritte Mensch mit Diabetes ist von einer diabetischen Neuropathie betroffen. Diese kann die Lebensqualität der Betroffenen erheblich einschränken - vor allem durch quälende neuropathische Schmerzen, aber auch durch Missempfindungen oder Taubheitsgefühl in den unteren Extremitäten. Die klinische Bedeutung der diabetischen Neuropathie wird nach wie vor unterschätzt. Verschiedene Daten weisen darauf hin, dass das Neuropathie-Screening in der allgemeinmedizinischen Praxis nicht hinreichend in Anspruch genommen wird. Daher wurde 2013 die nationale Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?” ins Leben gerufen und in diesem Rahmen die PROTECT-Studie durchgeführt, an der 1850 Personen mit und ohne Diabetes teilgenommen haben.

Relevanz von Leitlinien

Medizinischer Fortschritt findet durch Leitlinienaktualisierungen statt. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) engagiert sich durch die Festlegung medizinischer Standards, die Veröffentlichung eigener Leitlinien, die Beteiligung an der Erstellung von Leitlinien anderer Fachgesellschaften und die Erstellung jährlich praxisrelevanter Empfehlungen für Klinik und Niederlassung für die bundeseinheitlich hochwertige Sicherstellung der Behandlungsqualität für Menschen mit Diabetes. Die DDG nutzt die Unterstützung der AWMF und das von der AWMF vorgegebene methodische Regelwerk. Die Leitlinien werden von ehrenamtlich tätigen Expertinnen der DDG unabhängig von Interessengruppen erstellt und ausschließlich mit Mitteln der Deutschen Diabetes Gesellschaft finanziert. Potenzielle Interessenkonflikte der Autorinnen werden nach den Vorgaben der AWMF offengelegt. Die Verantwortlichkeit für die Leitlinien liegt bei der DDG, vertreten durch ihre Leitlinienbeauftragten Frau Prof. Dr. med. Monika Kellerer und Herrn Prof. Dr. med.

Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Neuropathie bei Diabetes

Im Rahmen des Programms für Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL) steht die NVL Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter seit August 2011 im Internet bereit. Hintergrund: Die diabetische Neuropathie ist eine häufige Folgeerkrankung des Typ-1- oder Typ-2-Diabetes und kann verschiedene Organsysteme betreffen. Die Betroffenen sind nachweislich besonders gefährdet, Fußkomplikationen zu entwickeln oder an Herz-Kreislauf-Erkrankungen frühzeitig zu versterben. International finden sich meist nur kurz gefasste Empfehlungen in Unterkapiteln von Leitlinien zum Diabetes mellitus. Daher bestand die Notwendigkeit, dieser Folgeerkrankung ein ausführliches und eigenständiges NVL-Modul zu widmen. Ziel ist es, anhand von evidenz- und konsensbasierten Empfehlungen die Langzeitversorgung von Menschen mit Diabetes und Neuropathie optimal abzustimmen und damit zu verbessern.

Epidemiologie und Dunkelziffer

Die klinische Untersuchung ergibt neuropathische Defizite (Zeichen) wie Reduktion oder Verlust der Berührungs-, Druck- oder Vibrationsempfindung, die eindeutige Prädiktoren für die Entstehung von Fußulzera und erhöhter Sterblichkeit sind. Fußulzera wiederum erhöhen bei Diabetespatienten die Morbidität und Mortalität erheblich. Daher sollten Diabetespatienten regelmäßig einem Screening auf das Vorliegen einer diabetischen Neuropathie zugeführt und frühzeitig behandelt werden.

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Die PROTECT-Studie zeigte, dass von den Teilnehmern mit Typ-2-Diabetes, bei denen eine schmerzhafte DSPN festgestellt wurde, 57 % angaben, dass bei ihnen bisher keine Neuropathie diagnostiziert worden war. Bei Teilnehmern mit schmerzloser DSPN traf dies sogar auf 82 % zu. Es ergab sich demnach eine sehr hohe Dunkelziffer von 70 % einer zuvor nicht diagnostizierten DSPN bei Patienten mit Typ-2-Diabetes. Bei den Teilnehmern mit Typ-1-Diabetes war der Anteil jeweils etwas geringer. Die höchste Dunkelziffer ließ sich bei den Teilnehmern feststellen, bei denen kein Diabetes bekannt war.

Im Rahmen einer Nachbefragung der Teilnehmer der PROTECT-Studie berichtete ein Drittel der Befragten mit Typ-2-Diabetes und neuropathischen Symptomen, sie würden gegen diese Beschwerden keine Pharmakotherapie erhalten. Die DSPN wird demnach häufig nicht diagnostiziert und auch nicht hinreichend therapiert. Darüber hinaus zeigte eine Umfrage im Rahmen des PROTECT Study Surveys bei rund 560 Ärzten, dass die Umsetzung von Leitlinien in der Praxis eine große Herausforderung bei der Untersuchung auf DSPN darstellt. So setzten lediglich 28 % bzw. 20 % der Befragten Fragebögen bzw. Scores ein, um den Schweregrad der neuropathischen Symptome bzw. Defizite festzustellen, und nur die Hälfte der Befragten orientierte sich bei der Diagnostik der DSPN an Leitlinien.

Risikofaktoren und Ursachen

Zu den wichtigen Risikofaktoren für das Auftreten einer diabetischen Neuropathie gehören das Alter, die Diabetesdauer, eine unzureichende Diabeteseinstellung und Übergewicht/Adipositas. Hinzu kommen mangelnde Bewegung sowie Hypertonie im Rahmen des metabolischen Syndroms, Nervengifte wie Nikotin und Alkohol und die Dyslipidämie. Komorbiditäten wie die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) und weitere mikro- und makrovaskuläre Folgeschäden erhöhen das Risiko ebenfalls. Eine Neuropathie kann bereits im Stadium des Prädiabetes vorliegen, das heißt bei gestörter Nüchternglukose (IFG) und/oder gestörter Glukosetoleranz (IGT). Mehrere Studien weisen darauf hin, dass im Vergleich zu Gesunden eine erhöhte Prävalenz sowohl der DSPN als auch einer kardiovaskulären autonomen Neuropathie bei Prädiabetes besteht.

Zu den weiteren wichtigen möglichen Ursachen einer DSPN gehören Alkoholabusus, Niereninsuffizienz, Vitamin-B12-Mangel, Hypothyreose, entzündliche Prozesse und Paraproteinämie. Hinzu kommen eine Reihe von Metallen und Toxinen (z. B. Blei oder Quecksilber) sowie Medikamente (wie Nitrofurantoin oder Amiodaron). Allerdings bleibt auch nach gründlicher Abklärung bei etwa einem Drittel der Patienten die Ursache der Neuropathie weiterhin unklar.

Diagnostik

Aufgrund der schwerwiegenden Folgen der DSPN ist die Früherkennung wichtig. Mithilfe einfacher Screeningtests sollte bereits frühzeitig nach Hinweisen auf eine DSPN gesucht werden, um rechtzeitig eine Therapie einleiten zu können. Erfassung neuropathischer Plus- und Minussymptome (ggf. Untersuchung auf eine pAVK (Pulsstatus, ggf. Neurologische Untersuchungen (ggf.

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Im Rahmen eines Konsensus mit strukturiertem Delphi-Prozess von 15 Experten aus zwölf Ländern wurden kürzlich Empfehlungen für das Screening, die Diagnostik und das Management der DSPN in der klinischen Praxis publiziert. Ziel war es, Empfehlungen aus publizierten Daten unter Verwendung einer hierarchischen Struktur und unter Berücksichtigung der Evidenz aus systematischen Reviews, Metaanalysen und einzelnen randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) abzuleiten und, falls RCTs nicht verfügbar waren, die persönliche Erfahrung der teilnehmenden Experten zu nutzen. In Übereinstimmung mit der NVL werden als Minimalkriterium für das Screening zwei Tests vorgeschlagen (Schmerz- und Vibrationsempfindung). Neuropathische Schmerzen können mithilfe von Fragebögen wie dem „Douleur Neuropathique 4”-(DN4)-Interview verifiziert werden, während Schmerzskalen der Quantifizierung der Schmerzstärke dienen. Im Allgemeinen gilt ein Schmerzniveau von ≥4 Punkten auf der numerischen Ratingskala (NRS) als klinisch relevanter Indikator für eine Schmerztherapie. Die klinische Diagnostik umfasst weitere Tests wie Prüfung der Temperatur- (z. B. TipTherm) sowie Druck- und Berührungsempfindung (10-g-Monofilament), der Propriozeption und der Achillessehnenreflexe. Zur Erfassung des Schweregrades der neuropathischen Symptome und Defizite (selten Allodynie bzw. Hyperalgesie) können validierte Scores eingesetzt werden, die nicht zuletzt auch der Standardisierung der klinischen Diagnostik dienen.

Empfehlungen der NVL zur Diagnostik

Im Bereich der Diagnostik wird zwischen Basisuntersuchungen und weiterführenden Untersuchungen unterschieden. Letztere sind teilweise nur an speziellen Zentren verfügbar.

Therapie der Diabetischen Neuropathie

Die Therapie der diabetischen Neuropathie basiert auf den drei Säulen kausale Therapie, pathogenetisch orientierte Therapie und symptomatische Schmerztherapie.

Kausale Therapie

Bei der kausalen Therapie steht im Vordergrund, den ätiologischen Faktor Hyperglykämie durch eine möglichst normnahe Diabeteseinstellung und, falls erforderlich, Lebensstiländerung auszuschalten. Es besteht jedoch Konsens, dass bei allen Diabetestypen Risikofaktoren für die Neuropathie (Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum) und assoziierte Begleiterkrankungen (Nephropathie, Retinopathie, KHK, pAVK, Hypertonie, viszerale Adipositas, Dyslipidämie) erfasst und therapiert (initial durch Lebensstilmodifikation) werden müssen. Für Patienten mit Typ -1-Diabetes zeigte die DCCT/EDIC-Studie präventive Effekte einer intensiven im Vergleich zur konventionellen Insulintherapie auf die DSPN. Am Ende der randomisierten Interventionsphase (DCCT) lag bei 9 % (intensive Therapie) vs. 17 % (konventionelle Therapie) der Teilnehmer eine bestätigte DSPN vor; nach einer Beobachtungsphase von 13 bis 14 Jahren (EDIC) war der Anteil in beiden Gruppen gestiegen (25 % vs. 35 %). Die Daten zeigen, dass sich die Entwicklung der DSPN zwar aufhalten, aber nicht vollständig verhindern lässt. Selbst bei sehr schwerer, fortgeschrittener DSPN kann eine kausale Therapie zu einer Besserung beitragen.

Beim Typ-2-Diabetes sind die Daten zur Prävention der DSPN durch eine kausale Therapie nicht eindeutig. In der Look-AHEAD-Studie schnitten Typ-2-Diabetespatienten mit Übergewicht oder Adipositas, die eine intensive Lebensstilintervention erhielten, über einen Zeitraum von zwölf Jahren bei jährlichen Befragungen zu neuropathischen Symptomen mit dem Fragebogen „Michigan Neuropathy Screening Instrument” (MNSI) punktuell besser ab als die Gruppe ohne diese Intervention. Bei neuropathischen Defiziten (MNSI-Untersuchung) am Ende der Studie zeigte sich jedoch kein Unterschied zwischen beiden Gruppen bezüglich der Anteile der Teilnehmer mit DSPN (67,4 % bzw. 67,8 %). Ähnliches gilt für die Effekte der intensiven Diabetestherapie beim Typ-2-Diabetes.

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Pathogenetisch orientierte Therapie

Hinzu kommt die pathogenetisch begründete Therapie, die sich von der Pathogenese der Neuropathie ableitet. Diese kann sowohl der Nervenschädigung als auch den Symptomen entgegenwirken. Hier gehört zu den offenen Fragen, ob diese Therapie präventiv wirkt und wie lange sie erfolgen sollte. Die zweite Säule der Therapie leitet sich aus der komplexen Pathogenese der diabetischen Neuropathie ab. Sie soll krankheitsmodifizierend in die verschiedenen Pathomechanismen eingreifen, um neuropathische Defizite und Symptome langfristig zu beheben. Bei der diabetischen Neuropathie spielen neben der Hyperglykämie weitere Faktoren eine ursächliche Rolle, dazu gehören u. a. Dyslipidämie, Insulinresistenz (Typ-2-Diabetes), inflammatorische Prozesse und Carbonyl-Stress durch Methylglyoxal (eine hochreaktive Vorstufe der fortgeschrittenen glykierten Endprodukte „advanced glycation endproducts”, AGE). Ein zentraler Pathomechanismus ist nach diesem Konzept die Überproduktion von Superoxid durch die mitochondriale Elektronentransportkette. Sie führt zu oxidativem Stress, der über verschiedene Stoffwechselwege die Nerven schädigt.

In diesen Pathomechanismus können mehrere Wirkstoffe eingreifen: Alpha-Liponsäure, ein Antioxidans, reduziert den oxidativen Stress. Benfotiamin, eine fettlösliche Vorstufe von Thiamin (Vitamin B1), hemmt pathogene Stoffwechselwege einschließlich der Bildung von AGE. Für Alpha-Liponsäure liegt die höchste Evidenz in Form von zahlreichen Metaanalysen vor. Sowohl die intravenöse als auch die orale Gabe der Substanz führt nach einigen Wochen zu einem signifikanten und klinisch relevanten Rückgang der Symptome (brennende und stechende Schmerzen, Parästhesien, Taubheitsgefühl) und Defizite bzw. Zeichen (drei Metaanalysen). In der NATHAN-1-Studie zeigten sich positive Effekte von Alpha-Liponsäure in der langfristigen Anwendung bei Patienten mit milder bis moderater, nahezu asymptomatischer DSPN.

Symptomatische Schmerztherapie

Bei der schmerzhaften Form der DSPN kommt häufig eine symptomatische Schmerztherapie zum Einsatz, die die Schmerzen reduzieren und so die Lebensqualität des Patienten erhalten soll. Die Therapie der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie (= diabetische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN)) ist symptomatisch. Die Therapie der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie sollte so früh wie möglich beginnen und somit zu einer Verbesserung der Lebensqualität (z. Wirkstoffe zur Erstlinientherapie: Antiepileptika wie Gabapentin und Pregabalin, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Duloxetin und Venlafaxin sowie trizyklische AntidepressivaNota bene: Capsaicin 8 % Pflaster hat bei Patienten mit diabetischer sensomotorischer Polyneuropathie (DSPN) im direkten Vergleich mit Pregabalin genau so gut abgeschnitten.Das wirksame Medikament muss bei jedem einzelnen Patienten durch Erprobung gefunden werden. Dabei müssen das individuelle Beschwerdebild sowie die Nebenwirkungen und Kontraindikationen berücksichtigt werden.

Leitliniengerechte Schmerztherapie ist jedoch nur bei einem von sieben Menschen mit schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie befriedigend wirksam.

Empfehlungen der NVL zur Therapie

Da für eine diabetische Neuropathie, abgesehen von einer optimierten Diabeteseinstellung und Risikoaufklärung, keine kausale Therapie zur Verfügung steht, liegt der Schwerpunkt der NVL auf der Früherkennung und der symptomorientierten Behandlung. Besonders detailliert wird auf die medikamentöse Schmerztherapie bei sensomotorischer diabetischer Polyneuropathie und die Therapie autonomer Störungen am Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt eingegangen. Therapeutische Schritte werden in klinischen Algorithmen zusammengefasst oder stufenweise aufgeführt, so dass eine Zuordnung zu verschiedenen Versorgungsebenen möglich wird.

Autonome Diabetische Neuropathie (ADN)

Die NVL geht detailliert auf die Therapie autonomer Störungen am Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt ein.

Kardiale Autonome Diabetische Neuropathie (KADN)

Beachte: Substanzen mit erhöhten renalen und kardiovaskulären Langzeitrisiken (z. B. kardialer autonomer diabetischer Neuropathie (KADN; s. AND am Gastrointestinaltrakt (s. AND am Urogenitaltrakt (s. sind Trizyklische Antidepressiva ebenfalls wirksam (Evidenzlevel B).

Harnwegsinfekte

Antibiotische Therapie von symptomatischen Harnwegsinfekten entsprechend der Resistenzlage; bei komplizierten Harnwegsinfekten (z. B.

Ergänzende Maßnahmen

Beachte: Die aufgeführten Vitalstoffe sind kein Ersatz für eine medikamentöse Therapie.

Bedeutung von Disease-Management-Programmen (DMP)

DMPs sind strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen. Sie sollen eine koordinierte und qualitätsgesicherte Versorgung gewährleisten.

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