Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die in Deutschland etwa 250.000 Menschen betrifft. Jedes Jahr erhalten mehr als 10.000 Menschen die Erstdiagnose. Um den neuesten Erkenntnissen und Therapieoptionen Rechnung zu tragen, wurde die Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS umfassend aktualisiert und erweitert. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat am 10.05.2021 die aktualisierte und erweiterte S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose (MS) veröffentlicht. Diese Leitlinie bietet medizinischem Fachpersonal im Praxisalltag Unterstützung und soll eine bestmögliche Gesundheitsversorgung der Betroffenen gewährleisten. Im Wesentlichen enthalten Leitlinien Empfehlungen für die Diagnose und Therapie der jeweiligen Erkrankung. Die Empfehlungen dienen als Entscheidungshilfe, es sind keine rechtlich bindenden Richtlinien.
Beteiligte Fachgesellschaften und Organisationen
An der Erstellung dieser Leitlinie waren zahlreiche Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt, darunter:
- Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) Bundesverband e. V.
- Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG-SSN)
- Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN)
- Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN) e. V.
- Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN) e. V.
- Deutsche Fachgesellschaft für Aktivierend-therapeutische Pflege (DGATP) e. V.
- Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) e. V.
- Deutscher Verband für Physiotherapie (ZVK) e. V.
- Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) e. V.
- NeurologyFirst, eine unabhängige Initiative von Neurologen
- Neuromyelitis optica Studiengruppe (NEMOS).
Erstmals haben an der konsensbasierten S2k-Leitlinie auch MS-Erkrankte bzw. Patientenvertreter mitgearbeitet, um deren Perspektiven besser zu berücksichtigen. Dazu gehört auch die Ehrenvorsitzende des Bundesbeirates MS-Erkrankter der DMSG, Dr. med. Edeltraud Faßhauer.
Ziel und Charakter der Leitlinie
Ziel der Leitlinie ist es, das aktuelle Wissen zur Diagnostik und Therapie der MS und verwandter Erkrankungen zusammenzufassen. Die Leitlinie hat beratenden Charakter und setzt der ärztlichen Therapiefreiheit keine neuen Grenzen. Die neuen Leitlinien haben beratenden Charakter - natürlich ohne der ärztlichen Therapiefreiheit zu enge Grenzen zu setzen. Ziel dieser Leitlinie ist es, das aktuelle Wissen zur Diagnostik und Therapie der MS und verwandter Erkrankungen zusammenzufassen. Selbst heute gibt es dabei allerdings für viele alltagsrelevante Fragen weiterhin nur wenig oder keine ausreichende Evidenz. Um auch diese Aspekte adressieren zu können, wurde die Leitlinie als konsensbasierte S2k-Leitlinie entwickelt, die durch mehrheitliche Entscheidungen handlungsorientierte Empfehlungen zu vielen versorgungsrelevanten Themen geben kann. Diese Empfehlungen haben beratenden Charakter und setzen der ärztlichen Therapiefreiheit keine neuen Grenzen. gültig bis: 30.11.2023
Hauptänderungen und Neuerungen
Die aktualisierte Leitlinie enthält mehrere wichtige Änderungen und Neuerungen, die darauf abzielen, die Versorgung von MS-Patienten zu verbessern:
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Konkrete Angaben zur Immuntherapie
Neu sind unter anderem konkrete Angaben, ob, wann und welche der verlaufsmodifizierenden Immuntherapien im individuellen Fall angemessen sein kann. Durch die neuen MS-Therapieoptionen ist es möglich, die individuell angepasste Behandlung von MS-Erkrankten weiter zu verbessern. Die Leitlinienautoren haben das bisherige Behandlungs-Stufenschema durch eine Einteilung von MS-Medikamenten in drei Wirksamkeitskategorien ersetzt. Diese Eingruppierung erfolgt anhand der Schubratenreduktion aus den Zulassungsstudien.
- Kategorie 1: Betainterferone, Dimethylfumarat, Glatirameroide und Teriflunomid
- Kategorie 2: Cladribin, Fingolimod sowie Ozanimod
- Kategorie 3: Alemtuzumab, CD20-Antikörper (Ocrelizumab, off label Rituximab) und Natalizumab
Es ist wichtig zu beachten, dass mit zunehmender Wirksamkeit auch die seltenen unerwünschten schweren Arzneimittelwirkungen zunehmen.
Berücksichtigung spezieller Patientengruppen
Besonderheiten bei der Behandlung von Kindern und älteren MS-Patienten sind neu aufgenommen worden. Die immuntherapeutische Behandlung wird der Erkrankungsaktivität zugeordnet. Auch werden definierte Einstiegs-, Wechsel- und auch Ausstiegsszenarien vorgestellt, und es wird auf spezielle Situationen eingegangen (z. B. Schwangerschaft und Stillzeit sowie MS bei Älteren und Kindern/Jugendlichen).
Patientenbeteiligung
Erstmals haben an der konsensbasierten Leitlinie auch zwei an MS erkrankte Patientenvertreterinnen mitgearbeitet. Die Autoren haben sich insbesondere um den Aspekt der Patientenbeteiligung bei der Behandlung gekümmert. „Für den Behandlungserfolg ist es wichtig, die Patientinnen und Patienten aktiv in Therapieentscheidungen miteinzubeziehen und sie dazu zu ermutigen, ihren Krankheitsverlauf selbst positiv zu beeinflussen, zum Beispiel durch Anpassung des Lebensstils und eine gute Adhärenz“, erklärt Professor Dr. Bernhard Hemmer, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum der Technischen Universität München und neben Dr. Klaus Gehring vom Neurozentrum am Klosterforst Itzehohe einer der beiden federführenden Leitlinienautoren.
Dementsprechend wurden zwei neue Kapitel aufgenommen, die sich mit der Seite der Patienten befassen. Im Kapitel „Patientenzentrierte Kommunikation“ geben die Experten etwa die Empfehlung, im ärztlichen Gespräch und bei der Übermittlung der Diagnose „die individuellen Präferenzen, Bedürfnisse, Sorgen und Ängste der Betroffenen“ zu berücksichtigen. Weiter heißt es, „Personen mit Multipler Sklerose sollen über alle für sie relevanten Therapieoptionen, deren Erfolgsaussichten und deren mögliche Auswirkungen informiert werden“.
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Lebensstilmanagement
Im Kapitel „Lebensstilmanagement mit MS“ geht es um die Themen „Körperliche Aktivität, Sport und Training“, „Ernährung und Gewicht“, „Vitamin D“, „Osteoporose“, „Mentale Gesundheit und Stress“ sowie „Genussgifte: Rauchen und Alkohol“. Neben der Empfehlung „für alle MS-Erkrankten, deren Behinderungsgrad auf der „Expanded Disability Status Scale“ (EDSS) unter 7 liegt, 75 Minuten lang ein intensives oder 150 Minuten lang ein moderates Ausdauertraining pro Woche zu absolvieren“, sollen Betroffene Übergewicht vermeiden und ihnen wird zu „einer nach aktuellen Ernährungsstandards ausgewogenen Ernährung und in Bezug auf die kardiovaskuläre Gesundheit präventiv wirksamen Ernährungsweise“ geraten. Ein Vitamin-D-Mangel sollte ausgeglichen werden und Rauchen und Passivrauchen vermieden werden, heißt es weiter. Ob Alkoholkonsum eine MS negativ beeinflusst, sei dagegen bislang unklar. Ein „üblicher“ Alkoholkonsum scheine zumindest kein Risikofaktor zu sein, an MS zu erkranken, so die Autoren der Leitlinie.
Überarbeitete Symptom-Therapien
Das längste Kapitel der Leitlinie, das sich mit der Therapie der Symptome befasst, wurde überarbeitet und um etliche neue Therapien ergänzt. Neu aufgenommen in den Katalog der Empfehlungen wurden dabei auch die Symptome Stürze, Sehstörungen sowie Schlafstörungen und Restless-Legs-Syndrom.
Neue Empfehlungen aufgrund einer mittlerweile besseren Evidenz gibt es für diese Behandlungsmöglichkeiten:
- repetitive Magnetstimulation zur Therapie der Spastik
- Hoch-Intensitäts-Intervalltraining als körperliche Trainingsform in allen Stadien der MS
- tiefe Hirnstimulation bei MS-bedingtem Tremor
- Beckenbodentraining bei sexuellen Funktionsstörungen
- DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen) bei Depression
Neu aufgenommen wurden auch Generika und Biosimilars bei den Immuntherapeutika. Neu bewertet wurden zudem Zelltherapien wie die autologe Stammzelltherapie und die CAR-T-Zelltherapie. Die autologe Zelltherapie könne demnach „erwogen werden, wenn es zu Krankheitsdurchbruch unter einer Medikation der Wirksamkeitskategorie 3 kommt“. Als Wirksamkeitskategorie 3 bei MS werden dabei hochwirksame Arzneimittel wie Alemtuzumab, Natalizumab, Ofatumumab, Ublituximab, Ocrelizumab und Rituximab (off-label) verstanden, die bei der Mehrzahl der Patienten die Schubrate reduzieren und helfen, die Krankheit zu kontrollieren. „Die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (aHSZT) hat das Potenzial, sich zu einer Therapieoption vor allem bei schubförmiger MS zu entwickeln“, heißt es in der Leitlinie. Diese Therapie ist ähnlich dem Verfahren bei einer Leukämie - das Immunsystem wird durch eine Knochenmarkstransplantation gewissermaßen „resetted“. Konsens ist aber auch, dass „unter Sicherheitsaspekten“ eine aHSZT vorerst nur im Rahmen einer kontrollierten Studie durchgeführt werden sollte. Für die CAR-T-Zelltherapie als neues innovatives Verfahren zur Behandlung von B-zellvermittelten Autoimmunerkrankungen gibt es dagegen aktuell noch keine Bewertung der Wirkung und Risiken. Die Autoren empfehlen, das Verfahren nicht außerhalb von klinischen Studien anzuwenden.
Neue Diagnose-Kriterien
Bislang erst vorgestellt in der neuen Leitlinie, aber noch nicht bei der Diagnose berücksichtigt, ist die Überarbeitung der sogenannten McDonald-Kriterien für MS. Unter anderem heißt es da, eine „rein klinische Diagnosestellung“ solle nicht mehr möglich sein, also nur anhand von Symptomen. Vielmehr soll eine MS-Diagnose durch typische Läsionen im MRT-Befund untermauert sein.
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Physiotherapeutische Behandlungsempfehlungen
Die aktuelle S2k Leitlinie Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN) hat in einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe mit einer Vielzahl an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen die aktuelle Evidenz zusammengetragen. Darüber hinaus fließen die Inhalte der S2e Leitlinie Bewegungstherapie zur Verbesserung der Mobilität von Patienten mit Multipler Sklerose der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation e.V. (DGNR) in Zusammenarbeit mit PHYSIO-DEUTSCHLAND in diesen EgP-Flyer ein, da sie einen wichtigen Teil der physiotherapeutischen Behandlungen im Bereich der Mobilität mit abdeckt.
Bedeutung der Leitlinie
Die aktualisierte und erweiterte Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS ist ein wichtiges Instrument, um die Versorgung von MS-Patienten in Deutschland und den beteiligten Ländern zu verbessern. Sie bietet eine Grundlage für evidenzbasierte Entscheidungen und unterstützt Ärzte und andere medizinische Fachkräfte bei der individuellen Anpassung der Behandlung an die Bedürfnisse ihrer Patienten. Durch die Einbeziehung von Patientenvertretern in die Erstellung der Leitlinie wird zudem sichergestellt, dass die Perspektiven der Betroffenen berücksichtigt werden.
Die neuen Leitlinien haben beratenden Charakter - natürlich ohne der ärztlichen Therapiefreiheit zu enge Grenzen zu setzen.
Living Guideline
Um neue Erkenntnisse und Therapieoptionen zu berücksichtigen, werden medizinische Leitlinien regelmäßig aktualisiert - so auch die MS-Leitlinie. Seit der letzten veröffentlichten Version erfolgt die Aktualisierung der MS-Leitlinie als sogenannte Living Guideline. Diese ist seit dem 31.03.2023 online abrufbar. Das bedeutet, dass die Leitlinie mindestens einmal jährlich aktualisiert wird, bei Bedarf auch vor Ablauf eines Jahres. Hintergrund für dieses Vorgehen ist der schnelle Fortschritt in der Therapie der MS.
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