Das menschliche Gehirn, ein Organ von etwa 1,5 kg Gewicht, beherbergt rund 86 Milliarden Neuronen, die durch Milliarden von Synapsen miteinander verbunden sind. Die komplexen Mechanismen dieser Verbindungen sind noch nicht vollständig entschlüsselt, was die Arzneimittelforschung und -entwicklung vor große Herausforderungen stellt. Doch nun könnte die Alzheimer-Forschung vor einer entscheidenden Wende stehen.
Hoffnungsschimmer: Monoklonale Antikörper
Bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) liegen Zulassungsanträge für zwei monoklonale Antikörper zur Prüfung vor. Diese Antikörper können die Alzheimer-Krankheit zwar nicht heilen, haben aber in Studien gezeigt, dass sie das Fortschreiten der Demenzerkrankung deutlich verlangsamen können. Dies wäre ein bedeutender Fortschritt und dringend notwendig, da die Zahl der Betroffenen stetig steigt. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt, dass im Jahr 2050 in Deutschland bis zu 2,7 Millionen Menschen mit Demenz leben werden, wobei die meisten von ihnen an der Alzheimer-Krankheit leiden.
Die lange Reise der Forschung
Jörg Schaub, Neuroscience, Lilly Deutschland, betont die jahrzehntelange Forschung, die nun endlich erste Medikamente hervorbringt, die an der Entstehung der Krankheit ansetzen. Die Komplexität des Gehirns hat die Entwicklung lange verzögert. Trotzdem hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten wichtige Erkenntnisse darüber gewonnen, wie Alzheimer entsteht und welche Therapieansätze möglich sind. Derzeit werden weltweit etwa 130 Moleküle erforscht, von denen sich viele in frühen Stadien der klinischen Prüfung (Phase 1 oder 2) befinden.
Rückschläge als Wegbereiter
Obwohl viele Moleküle in der Erprobung gescheitert sind, waren diese Rückschläge nicht umsonst. Sie haben wertvolle Erkenntnisse geliefert, die zum besseren Verständnis der Krankheit beitragen. Lilly hat nun einen Antikörper entwickelt, der in klinischen Studien gezeigt hat, dass er im frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit das Fortschreiten der Erkrankung signifikant verzögern kann. Dieser Antikörper richtet sich gezielt gegen die Beta-Amyloid-Plaques und ist damit potentiell krankheitsmodifizierend.
Finanzierung der Forschung
Die Finanzierung von mehr als 35 Jahren Forschung ohne Zulassung ist eine enorme Herausforderung. Das Geschäftsmodell der forschenden Pharmabranche ist finanziell riskant und funktioniert nur, wenn Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich sind und sich Fehlschläge leisten können. Lilly reinvestiert mehr als 25 Prozent des Gesamtumsatzes in Forschung und Entwicklung und beschäftigt weltweit rund ein Viertel aller Mitarbeiter in diesem Bereich.
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Mehr Zeit für Betroffene und ihre Familien
Obwohl der Antikörper keine Heilung darstellt, kann er den Betroffenen und ihren Familien wertvolle Zeit verschaffen, um Dinge zu tun, die ihnen wichtig sind, da sie länger selbstständig bleiben können. Zudem bietet er die Chance, von weiteren Fortschritten in der Forschung zu profitieren.
Prävention und Früherkennung
Neben der medikamentösen Behandlung sind Prävention und Früherkennung entscheidend. Es sind 14 Risikofaktoren für die Alzheimer-Erkrankung bekannt, deren Beachtung das Risiko mindern und den Verlauf der Krankheit verzögern kann. Allerdings wird die Krankheit oft zu spät diagnostiziert, da die Verschlechterung der Kognition im Alter fälschlicherweise als normal angesehen wird. Die Stigmatisierung der Krankheit trägt ebenfalls dazu bei, dass viele Betroffene ohne Diagnose und Behandlung bleiben.
Paradigmenwechsel in der Diagnostik
Die neue S3-Leitlinie Demenz, die seit November 2023 gilt, stellt einen Paradigmenwechsel in der Diagnostik dar. Sie empfiehlt eine klinische und Biomarker-gestützte Diagnostik, die eine Diagnose bereits im Stadium der leichten kognitiven Störung ermöglicht, wenn die Symptome noch nicht stark ausgeprägt sind. Dies ist besonders wichtig, da die neuen Medikamente zur Behandlung von Menschen mit einer frühen symptomatischen Alzheimer-Krankheit entwickelt wurden. Lilly arbeitet eng mit verschiedenen Partnern zusammen, um die frühzeitige Versorgung von Alzheimerpatienten zu verbessern.
Zukünftige Forschungsrichtungen
Lilly verfolgt verschiedene Forschungsansätze, darunter den Einsatz von medikamentösen Therapien in noch früheren Stadien der Alzheimer-Krankheit und die Erforschung anderer therapeutischer Ziele als das Beta-Amyloid. Das Ziel ist, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen oder sogar zu stoppen.
Neue Erkenntnisse zum Zelltod bei Alzheimer
Ein Forschungsteam der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit der chinesischen Shandong-Universität hat möglicherweise einen Ansatz für eine wirksame Therapie bei Alzheimer-Patienten gefunden. Sie entdeckten einen neuen Mechanismus, der erklären könnte, warum Nervenzellen absterben: Ein giftiger Protein-Komplex, genannt „Todeskomplex“.
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Der „Todeskomplex“
Die Forscher fanden heraus, dass ein eigentlich nützlicher Schalter im Gehirn, der NMDA-Rezeptor, unter bestimmten Umständen eine Verbindung mit dem Ionenkanal TRPM4 eingeht. Diese Verbindung führt zur Entstehung des toxischen „Todeskomplexes“, der Nervenzellen angreift und absterben lässt. Der NMDA-Rezeptor wird normalerweise durch den Botenstoff Glutamat aktiviert, was für das Überleben von Nervenzellen und den Erhalt kognitiver Fähigkeiten entscheidend ist. TRPM4 verleiht diesen Rezeptoren jedoch toxische Eigenschaften. Dieser neurotoxisch wirkende NMDA/TRPM4-Komplex ist bei Alzheimer-Mäusen deutlich vermehrt zu finden.
Mögliche Behandlung durch Auflösung des Komplexes
Das Forschungsteam konnte nachweisen, dass dieser „Todeskomplex“ eine Schlüsselrolle beim kognitiven Verfall spielt. Mithilfe eines neuartigen Wirkstoffprinzips, einem sogenannten „TwinF Interface Inhibitor“ mit der Bezeichnung FP802, gelang es, den schädlichen Komplex aufzulösen und den geistigen Abbau bei Mäusen deutlich zu bremsen. Mäuse, die mit FP802 behandelt wurden, behielten ihre Lern- und Gedächtnisfähigkeiten länger, und auch die Nervenzellen blieben intakt. Zudem bildeten sich die für Alzheimer typischen Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn langsamer.
Hoffnung für weitere neurodegenerative Erkrankungen
Das Forschungsteam hofft, dass FP802 möglicherweise nicht nur das Fortschreiten von Alzheimer verlangsamen, sondern auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) wirken könnte. Bis zu einer möglichen Anwendung beim Menschen sind jedoch noch umfangreiche pharmakologische Entwicklungsarbeiten, toxikologische Untersuchungen sowie klinische Studien erforderlich.
Wohin führt die Alzheimer-Forschung?
Die Alzheimer-Forschung ist äußerst komplex, da viele der Prozesse im Gehirn noch nicht vollständig verstanden sind. Zudem beginnt Alzheimer lange bevor die ersten Symptome sichtbar werden. Wenn das Gedächtnis nachlässt, sind die Schäden im Gehirn meist bereits weit fortgeschritten und der Krankheitsprozess nicht mehr umkehrbar.
Hoffnung durch neue Medikamente und Therapien
Trotz der Herausforderungen gibt es Hoffnung. Erste Medikamente greifen gezielt in den Krankheitsverlauf ein, und Therapien können das Leben von Menschen mit Demenz bereits heute spürbar verbessern, indem sie den Alltag erleichtern, Fähigkeiten länger erhalten und die Lebensqualität steigern.
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Schwerpunkte der Demenzforschung im Jahr 2025
Die Demenzforschung verfolgt heute verschiedene Mechanismen und Ansätze, von der Diagnostik bis zur Therapie. Zu den wichtigsten Schwerpunkten gehören:
- Früherkennung: Neue Bluttests, bildgebende Verfahren und digitale Methoden sollen es ermöglichen, die Krankheiten deutlich früher und zuverlässiger zu erkennen.
- Antikörper-Medikamente: Mit den Antikörpern Leqembi und Kisunla gibt es erstmals Medikamente, die den Verlauf von Alzheimer verlangsamen können.
- Verständnis der Krankheitsmechanismen: Forschende untersuchen zentrale Prozesse im Gehirn von Menschen mit Alzheimer, wie die Ablagerung der Proteine Amyloid-beta und Tau, entzündliche Vorgänge, die Bedeutung von Umwelteinflüssen und genetische Aspekte.
- Vorbeugung von Demenzerkrankungen: Die Forschung versucht, die Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Hörverlust, Depressionen oder sozialer Isolation und Demenzerkrankungen besser zu verstehen und Menschen dabei zu unterstützen, ihr persönliches Risiko zu senken.
- Pflege und Lebensqualität: Studien befassen sich damit, wie die Versorgung individueller, die Belastung für Angehörige geringer und die Selbstständigkeit der Erkrankten länger erhalten werden kann.
Die Rolle von Leqembi und Kisunla
Leqembi (Wirkstoff: Lecanemab) und Kisunla (Wirkstoff: Donanemab) sind Antikörper-Medikamente zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit im Frühstadium. Sie können bei Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung (MCI) und leichter Alzheimer-Demenz eingesetzt werden, bei denen Amyloid-Plaques im Gehirn nachgewiesen wurden.
Wirkmechanismus
Donanemab ist ein monoklonaler Antikörper, der sich gezielt gegen die Amyloid-Beta-Plaques richtet und so den geistigen Verfall der Patientinnen und Patienten verlangsamen soll. Der Wirkstoff erkennt eine besonders giftige Form des Peptids Amyloid-beta (Pyroglutamat-Amyloid-beta) und setzt eine Immunreaktion in Gang, die darauf abzielt, die Plaques zu entfernen.
Lecanemab ist ein Antikörper-Wirkstoff, der gezielt eine Vorstufe der für Alzheimer typischen Amyloid-beta-Protein-Plaques im Gehirn erkennt und bindet. Dadurch wird das körpereigene Immunsystem aktiviert und baut die Plaques ab beziehungsweise verhindert die Bildung neuer Plaques.
Unterschiede zwischen Leqembi und Kisunla
Kisunla wird alle vier Wochen verabreicht, das Ende der Therapie ist nach spätestens 18 Monaten. Leqembi wird alle zwei Wochen gegeben und ist als Dauertherapie angelegt. Leqembi weist eine geringere Rate an symptomatischen ARIAs auf, zeigt aber in Studien geschlechtsspezifische Unterschiede (geringere Wirksamkeit bei Frauen). Für Kisunla liegen solche Unterschiede bislang nicht vor.
Wichtige Hinweise zur Anwendung
Bevor Kisunla oder Leqembi verabreicht werden können, muss nachgewiesen werden, dass sich bereits Amyloid-Plaques im Gehirn gebildet haben. In der EU ist außerdem ein Gentest auf ApoE4 vorgeschrieben. Menschen mit zwei Kopien dieses Gens sind ausgeschlossen. Auch Personen, die Antithrombotika (z. B. Aspirin) einnehmen, müssen dies mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt abklären.
Nebenwirkungen
Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Kopfschmerzen, allergische Reaktionen während oder nach der Infusion und potenziell ernsthafte Veränderungen im Gehirn, sogenannte ARIA, die Hirnschwellungen oder Hirnblutungen bedeuten.
Einschränkungen
Kisunla und Leqembi können Alzheimer weder heilen noch den Krankheitsverlauf stoppen. Sie können helfen, das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit zu verlangsamen, so dass die Selbstständigkeit länger bewahrt werden kann. Die Medikamente eignen sich für Erkrankte im frühen Krankheitsstadium mit bislang nur wenigen kognitiven Beeinträchtigungen.
Die TRAILBLAZER-ALZ-2 Studie
Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Donanemab war die Durchführung der TRAILBLAZER-ALZ-2 Studie, einer Phase-3-Studie, deren Ergebnisse am 3. Mai 2023 von Eli Lilly veröffentlicht wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass Donanemab die schädlichen Amyloid-Ablagerungen effektiv abbauen und den geistigen Abbau um 35 Prozent verlangsamen konnte. Eine wichtige Erkenntnis: Nach Entfernung der Amyloid-Ablagerungen konnte die Behandlung beendet werden, was die Therapiedauer verkürzt und Kosten reduziert.
Die Zukunft der Alzheimer-Forschung
Die Alzheimer-Forschung ist heute vielfältiger und dynamischer denn je. Noch gibt es keine Heilung für Alzheimer, aber die Fortschritte in der Früherkennung, der Entwicklung von Medikamenten und Therapien sowie dem Verständnis der Krankheitsmechanismen geben Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Menschen mit Alzheimer und ihre Familien.
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