Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat am 10. Mai 2021 ihre S2k-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose (MS), Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen aktualisiert und erweitert. Diese Überarbeitung war aufgrund der intensiven MS-Forschung und der zahlreichen neuen Therapieoptionen der letzten Jahre notwendig geworden. Die Leitlinie richtet sich an alle Versorgungsbereiche, die an der Betreuung von MS-Patienten beteiligt sind. Erstmals haben auch Patientenvertreter an der Erstellung mitgewirkt.
Die neue Leitlinie umfasst 5 Kapitel auf 300 Seiten und berücksichtigt die Fortschritte in der MS-Forschung, die neue Erkenntnisse zur Diagnostik und zahlreiche neue Therapieoptionen hervorgebracht haben. Ziel ist es, die individuell angepasste Behandlung von MS-Erkrankten weiter zu verbessern.
Wesentliche Änderungen und Neuerungen der Leitlinie
Die aktualisierte Leitlinie beinhaltet mehrere wesentliche Änderungen und Neuerungen, die im Folgenden detailliert erläutert werden.
1. Neues Schema für schubförmige Multiple Sklerose
Das bisherige zweistufige Schema (moderat und (hoch-)aktiv) wurde durch drei Wirksamkeitskategorien für MS-Immuntherapeutika ersetzt. Diese Neuerung berücksichtigt die gestiegene Anzahl zugelassener immunmodulatorischer Substanzen.
Die Einteilung basiert auf der relativen Reduktion der Schubrate im Vergleich zu Placebo:
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- Wirksamkeitskategorie 1: 30-50 % Schubratenreduktion (Beta-Interferone einschl. Peg-Interferon, Dimethylfumarat (kombinierte Analyse der Zulassungsstudien), Glatirameroide, Teriflunomid)
- Wirksamkeitskategorie 2: 50-60 % Schubratenreduktion (Cladribin, Fingolimod, Ozanimod)
- Wirksamkeitskategorie 3: > 60 % Schubratenreduktion im Vergleich zu Placebo oder > 40 % im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1 (Alemtuzumab, CD20-Antikörper (Ocrelizumab, Rituximab (Off-Label)), Natalizumab)
Es ist wichtig zu beachten, dass eine höhere Wirksamkeitskategorie auch mit selteneren, aber schwereren Nebenwirkungen verbunden sein kann. Die Empfehlungen basieren auf statistischen Durchschnittswerten, von denen Einzelfälle abweichen können. Individuelle Vorerkrankungen und Lebensumstände beeinflussen die Wahl des MS-Medikaments.
Die Leitlinie enthält Vorschläge für Einstiegs-, Wechsel- und Ausstiegsszenarien für die einzelnen Wirksamkeitskategorien. Sie gibt auch Empfehlungen, in welchen Fällen bei neu diagnostizierten Patienten von Anfang an die Wirksamkeitskategorie 3 ratsam ist.
2. Neuzulassungen in der MS-Therapie: progrediente MS und andere Indikationen
Die Leitlinie berücksichtigt Neuzulassungen in der MS-Therapie, darunter:
- Ocrelizumab: Als erste für progrediente MS zugelassene Therapie.
- Siponimod: Bei sekundär progredienter MS mit aktivem oder hochaktivem Krankheitsverlauf.
- Ozanimod: Ergänzt die Palette der Wirkstoffe bei schubförmig-remittierender MS.
- Fingolimod: Kann inzwischen bei Kindern ab 10 Jahren mit hochaktiven Verläufen verschrieben werden.
Auch die Neuromyelitis Optica (AQP4-AK-positive NMOSD) wird in der Leitlinie behandelt. Erstmals ist es möglich, schubförmige Verläufe dieses Krankheitsbildes immunmodulatorisch mit Eculizumab zu behandeln.
3. Besondere Patientengruppen: Kinder, Jugendliche und ältere Menschen mit Multipler Sklerose
Die Leitlinie widmet sich ausführlich der Diagnose und Behandlung von speziellen Untergruppen der MS-Erkrankten: jungen und älteren Menschen mit MS.
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Ältere Menschen mit MS:
- Bei MS-ähnlichem Symptombeginn in höherem Alter sollte immer eine vaskuläre Erkrankung in die Differenzialdiagnose einbezogen werden.
- MS in höherem Alter verschiebt die Geschlechteraufteilung (häufiger Männer, Verhältnis zu Frauen 1:2 anstatt 3:2).
- Der primär-progrediente Verlauf ist häufiger, und die Zeitspanne bis zum Erreichen von EDSS 6 (mobil nur mit Hilfsmittel) ist kürzer.
- Eine Immunmodulation kann weniger oft Erfolg zeigen, sollte aber bei älteren Patienten nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
- Komorbiditäten (z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen) können mit einem schlechteren Verlauf einhergehen.
- Verändertes Immunsystem und veränderte Wirkstoffaufnahme im Alter können sich auf Risiken und Nebenwirkungen auswirken, was eine engmaschigere Überwachung der Patienten erforderlich machen kann.
Kinder und Jugendliche mit MS:
- 3 - 7 % der MS-Diagnosen werden vor dem 18. Lebensjahr gestellt.
- Trotz vieler Schübe und MS-Herde ist die Krankheitsprogression meist langsamer, der primär-progrediente Verlauf äußerst selten.
- Auch bei Kindern ist die Differenzialdiagnose sehr wichtig.
- Schübe sollten wie bei Erwachsenen mit Kortison behandelt werden, die Dosierung jedoch an das kleinere Gewicht angepasst werden.
- Nicht alle MS-Modulatoren sind für Kinder zugelassen, einige werden jedoch derzeit geprüft.
- Bei leichten bis mittelschweren Verläufen empfiehlt die Leitlinie bei Kindern zunächst den Einsatz von Interferonen oder Glatirameracetat (Wirksamkeitskategorie 1).
Weitere wichtige Aspekte der aktualisierten Leitlinie
Neben den bereits genannten Punkten enthält die aktualisierte Leitlinie weitere wichtige Aspekte:
- Vereinfachte MS-Diagnostik: Durch die Revision der McDonald-Diagnosekriterien 2017 (Liquoruntersuchung sowie MRT-Untersuchung mit definierten Sequenzen; erweiterte Labordiagnostik nur bei entsprechendem klinischem Verdacht).
- MS-verwandte Erkrankungen: Neu wurden der MS verwandte Erkrankungen wie die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und die MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen als eigenständige Krankheitsentitäten aufgenommen.
- Patientenpartizipation: Erstmals haben an der konsensbasierten Leitlinie auch zwei an MS erkrankte Patientenvertreterinnen mitgearbeitet.
- Lebensstilmanagement: Ein neues Kapitel widmet sich dem Lebensstilmanagement, einschließlich körperlicher Aktivität und Sport, Vermeidung von Übergewicht und Tabakkonsum. Die Leitlinie empfiehlt allen MS-Betroffenen, deren Behinderungsgrad auf der „Expanded Disability Status Scale“ unter sieben liegt, 75 Minuten lang ein intensives oder 150 Minuten lang ein moderates Ausdauertraining pro Woche zu absolvieren.
- Patientenzentrierte Kommunikation: Die aktualisierte Leitlinie enthält ein neues Kapitel zur patientenzentrierten Kommunikation.
- Therapie der Symptome: Die Empfehlungen zur Therapie der Symptome wurden komplett überarbeitet, und es wurde auch erstmals der Einsatz von Generika und Biosimilars bei den Immuntherapeutika thematisiert. Auch Zelltherapien wurden neu bewertet bzw. neu aufgenommen.
Die Rolle der Physiotherapie bei Multipler Sklerose
Die Physiotherapie spielt eine wichtige Rolle bei der Behandlung von MS-Patienten. Die aktuelle S2k Leitlinie Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN) hat in einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe mit einer Vielzahl an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen die aktuelle Evidenz zusammengetragen. Darüber hinaus fließen die Inhalte der S2e Leitlinie Bewegungstherapie zur Verbesserung der Mobilität von Patienten mit Multipler Sklerose der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation e.V. (DGNR) in Zusammenarbeit mit PHYSIO-DEUTSCHLAND in diesen EgP-Flyer ein, da sie einen wichtigen Teil der physiotherapeutischen Behandlungen im Bereich der Mobilität mit abdeckt.
Die physiotherapeutische Behandlung bezieht sich auf die symptombezogene Behandlung und umfasst verschiedene Techniken und Übungen zur Verbesserung der Mobilität, Kraft, Koordination und des Gleichgewichts.
Patientenleitlinie Multiple Sklerose
Für Patienten und Angehörige gibt es eine separate Patientenleitlinie Multiple Sklerose, die von der Deutschen Hirnstiftung realisiert wurde und von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) herausgegeben wird. Diese Leitlinie soll Betroffenen helfen, die Erkrankung besser zu verstehen und informierte Entscheidungen über ihre Behandlung zu treffen. Die Patientenleitlinie basiert auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Empfehlungen der MS-Leitlinie für Mediziner. Sie wurde von Fachleuten in einem umfangreichen, mehrstufigen Verfahren erstellt und soll die ärztliche Beratung mit jederzeit nachlesbaren Informationen für Erkrankte und Angehörige ergänzen.
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