Lyse bei Schlaganfall: Dosierung und aktuelle Erkenntnisse

Die Lyse, auch Thrombolyse genannt, ist eine medikamentöse Therapie zur Auflösung von Blutgerinnseln (Thromben) im Körper. Sie spielt eine entscheidende Rolle in der Akutbehandlung des ischämischen Schlaganfalls, bei dem ein Blutgerinnsel ein Hirngefäß verschließt und die Durchblutung unterbricht. Ziel der Lyse ist es, die Blutversorgung des betroffenen Hirnareals so schnell wie möglich wiederherzustellen, um irreversible Schäden zu minimieren.

Intravenöse Lyse mit Alteplase: Standarddosierung und asiatische Perspektiven

Bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall wird eine intravenöse Lyse innerhalb von 4,5 Stunden nach Symptombeginn durchgeführt. Das Thrombolytikum Alteplase (rt-PA) wird in einer Dosierung von 0,9 mg/kg Körpergewicht verabreicht. Allerdings hat sich in vielen asiatischen Ländern aufgrund von Bedenken hinsichtlich intrazerebraler Blutungen eine niedrigere Dosis von 0,6 mg/kg Körpergewicht etabliert.

Diese Praxis basiert auf den Ergebnissen der Japan Alteplase Clinical Trial (J-ACT), die in Japan zur Zulassung der "Low dose"-Lyse geführt hat. In J-ACT traten weniger intrazerebrale Blutungen auf als erwartet. Da es sich jedoch um eine einarmige Studie ohne randomisierte Vergleichsgruppe handelte, ist die Aussagekraft begrenzt.

ENCHANTED-Studie: Vergleich von niedriger und Standarddosierung

Um die Frage nach der optimalen Alteplase-Dosierung zu klären, wurde die internationale, randomisierte ENCHANTED-Studie durchgeführt. Ziel war es, zu zeigen, dass eine niedrigere Alteplase-Dosis (0,6 mg/kg Körpergewicht) mindestens so effektiv ist wie die Standarddosis (0,9 mg/kg Körpergewicht), während gleichzeitig das Risiko von Komplikationen reduziert wird.

An der Studie nahmen 3310 Patienten mit akutem Schlaganfall teil, die innerhalb von 4,5 Stunden nach Symptombeginn entweder die niedrige oder die Standarddosis von Alteplase erhielten. Ein Großteil der Patienten (63%) stammte aus asiatischen Ländern, während die übrigen Patienten aus Südamerika (10%) oder Europa und Australien (27%) kamen.

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Das primäre Ziel der Studie war der Nachweis der Nichtunterlegenheit der niedrigen Alteplase-Dosis gegenüber der höheren Dosis. Der primäre Endpunkt war ein Score von 2 bis 6 auf der modifizierten Rankin-Skala (mRS) am 90. Tag nach der Behandlung. Die modifizierte Rankin-Skala ist ein Instrument zur Messung des Grades der Behinderung nach einem Schlaganfall, wobei 0 keine Symptome und 6 Tod bedeutet. Ein Score von 2 bis 6 deutet auf einen ungünstigen Ausgang hin, der von leichter Behinderung bis hin zu schwerer Invalidität reichen kann.

Ergebnisse der ENCHANTED-Studie: Kein Nachweis der Nichtunterlegenheit, aber weniger Blutungen und niedrigere Mortalität

Die Ergebnisse der ENCHANTED-Studie zeigten, dass 855 von 1607 Patienten (53,2%) unter der niedrigen Alteplase-Dosierung einen Score zwischen 2 und 6 auf der modifizierten Rankin-Skala erreichten. Nach Gabe der Standarddosis waren dies 817 von 1599 Patienten (51,1%). Die Nichtunterlegenheit der niedrigen Dosierung konnte mit diesen Daten nicht statistisch nachgewiesen werden (Odds-Ratio [OR] 1,09; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,95-1,25; p=0,51 für Nichtunterlegenheit). Das obere Ende des Konfidenzintervalls (1,25) lag oberhalb der vorher festgelegten Non-Inferioritäts-Marge von 1,14, was bedeutet, dass eine Nichtunterlegenheit der niedrigen Dosis nicht zweifelsfrei belegt werden konnte.

Trotz des verfehlten Studienziels zeigte die niedrigere Alteplase-Dosis Vorteile in Bezug auf die Sicherheit:

  • Weniger intrazerebrale Blutungen: Die niedrigere Dosis führte bei nur 17 von 1654 Patienten (1,0%) zu einer intrazerebralen Blutung, während unter der Standarddosis 35 von 1643 Patienten (2,1%) betroffen waren (OR 0,48; 95%-KI 0,27-0,86; p=0,01).
  • Niedrigere Mortalität: Die Mortalität war bei Patienten, die die Standarddosis erhalten hatten, höher. Nach sieben Tagen waren 5,3% von ihnen verstorben, in der Patientengruppe mit niedriger Dosierung lediglich 3,6% (OR 0,67; 95%-KI 0,48-0,94; p=0,02). Nach 90 Tagen konnte dieser Vorteil noch tendenziell nachgewiesen werden. Es waren 8,5% der Patienten, die mit der niedrigen Alteplase-Dosis lysiert worden waren, verstorben - im Gegensatz zu 10,3% der Empfänger der Standarddosis (OR 0,80; 95%-KI 0,63-1,01; p=0,07).

Post-hoc-Analyse: Möglicher Vorteil für Patienten mit Acetylsalicylsäure-Vorbehandlung

Eine Post-hoc-Analyse der ENCHANTED-Daten deutete darauf hin, dass insbesondere Patienten, die mit Acetylsalicylsäure (ASS) vorbehandelt waren, von der niedrigen Alteplase-Dosis profitieren könnten. Allerdings sind solche nachträglichen Analysen mit Vorsicht zu interpretieren, da sie anfällig für Verzerrungen sein können und nicht als Grundlage für Therapieempfehlungen dienen sollten.

Fazit der Studienautoren und klinische Implikationen

Die Studienautoren der ENCHANTED-Studie betonten den Vorteil der niedrigeren Mortalität unter der niedrigen Alteplase-Dosis. Prof. Craig Anderson argumentierte, dass die Reduzierung der Dosis die meisten Vorteile der Standarddosis beibehält, aber signifikant weniger Blutungen und eine bessere Überlebensrate ermöglicht.

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Die Ergebnisse der ENCHANTED-Studie haben zu einer kontroversen Diskussion über die optimale Alteplase-Dosierung beim ischämischen Schlaganfall geführt. Während die Studie die Nichtunterlegenheit der niedrigen Dosis in Bezug auf den primären Endpunkt nicht zweifelsfrei belegen konnte, zeigten sich deutliche Vorteile hinsichtlich der Sicherheit, insbesondere eine Reduktion intrazerebraler Blutungen und eine niedrigere Mortalität.

Die Entscheidung für die Wahl der Alteplase-Dosis sollte daher individuell getroffen werden, unter Berücksichtigung von Faktoren wie dem ethnischen Hintergrund des Patienten, der Vorbehandlung mit ASS und dem individuellen Risikoprofil. In vielen asiatischen Ländern bleibt die niedrigere Dosis von 0,6 mg/kg Körpergewicht weiterhin der Standard, während in Europa und den USA die Standarddosis von 0,9 mg/kg Körpergewicht üblich ist.

Weitere Entwicklungen in der Schlaganfalltherapie

Neben der intravenösen Lyse mit Alteplase gibt es weitere vielversprechende Entwicklungen in der Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls. Dazu gehört die kathetergestützte Thrombektomie, bei der ein interventioneller Radiologe ein Blutgerinnsel mechanisch aus einem Hirngefäß entfernt. Die Thrombektomie ist insbesondere bei Verschlüssen großer Hirnarterien wirksam und kann in Kombination mit der intravenösen Lyse eingesetzt werden.

Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist die Verwendung von Tenecteplase, einem anderen Thrombolytikum, das möglicherweise Vorteile gegenüber Alteplase bietet. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass Tenecteplase in einer Dosierung von 0,25 mg/kg als Bolus für die Thrombolyse von (Großgefäß-)Schlaganfällen geeignet sein könnte.

Tirofiban: Eine Alternative für Patienten ohne große Gefäßverschlüsse?

Für Patienten mit ischämischem Schlaganfall, die nicht für eine intravenöse Lyse oder Thrombektomie in Frage kommen, gibt es möglicherweise alternative Therapieansätze. Eine Studie aus China untersuchte die Wirksamkeit von Tirofiban, einem Thrombozytenaggregationshemmer, im Vergleich zu Aspirin bei Patienten mit Schlaganfall, der durch den Verschluss kleiner Arterien verursacht wurde.

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Die Ergebnisse der Studie deuteten darauf hin, dass Tirofiban im Vergleich zu Aspirin zu besseren klinischen Ergebnissen nach 90 Tagen führte. Allerdings war in der Tirofiban-Gruppe auch das Risiko für symptomatische intrakranielle Blutungen erhöht.

Es ist wichtig zu beachten, dass die Studie hauptsächlich Patienten mit kleinen Infarkten der tiefen Hirnarterien einschloss, die in der asiatischen Bevölkerung häufiger vorkommen. Daher ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Bevölkerungsgruppen begrenzt.

Trotz dieser Einschränkungen liefert die Studie wertvolle Erkenntnisse für den Einsatz von Tirofiban bei ischämischem Schlaganfall unter bestimmten Voraussetzungen. Sie unterstreicht die Notwendigkeit personalisierter Schlaganfallbehandlungen, bei denen individualisierte sekundärprophylaktische Therapien in Abhängigkeit von Infarktgröße und Pathomechanismen zum Einsatz kommen.

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