Die Sendereihe "Geist und Gehirn" von BR-alpha, dem Bildungskanal des Bayerischen Rundfunks, widmet sich den faszinierenden und oft rätselhaften Geheimnissen des menschlichen Gehirns. Unter der Leitung des Ulmer Hirnforschers Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer werden komplexe Themen wie die Funktionsweise des Gehirns, die Wirkung von Gefühlen, die Mechanismen von Wahrnehmung und Denken, das Lernen im Schlaf und die Möglichkeit, im Alter weise zu werden, aufgeschlüsselt. Die moderne Gehirnforschung liefert zu diesen Themen immer wieder verblüffende Antworten und es vergeht kaum ein Monat, ohne dass neue, wichtige Erkenntnisse gewonnen werden.
Das ewige Rätsel: Geist und Materie
Seit Jahrtausenden versucht der Mensch, das Geheimnis des Gehirns zu entschlüsseln. Schon Goethe ließ seinen Professor Wagner im zweiten Teil des "Faust" über diese Frage sinnieren. Doch wie kann etwas Nichträumliches und Nichtstoffliches wie der Geist auf etwas Räumliches und Stoffliches wie die Materie wirken? Wie kann eine geistige Eingebung die Bewegung der Hand verursachen? Und umgekehrt: Wie können materielle Ursachen geistige Wirkungen hervorrufen?
Trotz großer Fortschritte in der Hirnforschung bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn eine Herausforderung. "Es gibt keinen Einstein des Gehirns und es gibt Kollegen, die sagen, es gibt noch nicht einmal einen Newton des Gehirns", so ein Zitat, das die Schwierigkeit der Aufgabe verdeutlicht. Die Hirnforschung kann zwar viel leisten, insbesondere wenn das Gehirn nicht als Sonderorgan betrachtet wird, aber sie stößt an ihre Grenzen, wenn es um innere Prozesse wie die Entstehung von Gefühlen geht. Hier scheint ein fundamentales Prinzip noch nicht entdeckt zu sein.
Metaphern der Hirnforschung im Wandel der Zeit
Die Geschichte der Hirnforschung ist reich an Metaphern, mit denen sie sich ihren Gegenstand zu erklären sucht. Der Erfinder der Elektrophysiologie, Emil Du Bois-Reymond, sprach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem "unlösbaren Welträtsel" und prägte den Ausspruch "Ignoramus et ignorabimus" (Wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen). Diese Perspektive trug einer Zeit Rechnung, in der der Fortschrittsoptimismus erste Dämpfer erhielt.
Das Ignorabimus-Argument von Du Bois-Reymond eröffnete dem modernen Menschen einen Spielraum, in dem er sich als Individuum erfinden konnte, dessen Wünsche, Träume und Sehnsüchte weder in der Naturwissenschaft noch in der Technik jemals aufgehen würden.
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Frühe Eingriffe: Trepanationen in der Steinzeit
Die ersten Zeugnisse für die Beschäftigung des Menschen mit dem Organ unter der Schädeldecke sind über 7000 Jahre alt und stammen aus der jüngeren bis mittleren Steinzeit. Zu jener Zeit wurden mit Faustkeilen, Steinsägen und ähnlichem Gerät Schädel geöffnet. Diese sogenannten Trepanationen, kreisrunde Löcher, die absichtlich in die Schädel hineinoperiert wurden, sind ein faszinierendes Zeugnis frühen medizinischen Verständnisses.
Das Spannende daran ist, dass die Patienten diese Operationen überlebten. Die Bildung neuer Knochensubstanz an den scharfen Kanten der Öffnungen beweist dies. Die Absicht hinter diesen Trepanationen ist bis heute unklar. Interessanterweise finden sich solche Eingriffe in Schädeln aus aller Welt, von Europa über Südamerika und Afrika bis nach Asien.
Ein möglicher Erklärungsansatz ist der Vergleich mit heutigen Naturvölkern, die diese Praxis noch ausüben. In Zentralafrika beispielsweise werden Trepanationen durchgeführt, um böse Geister aus Menschen zu entfernen, die an Krankheiten wie Epilepsie leiden. Dies deutet darauf hin, dass die Medizinmänner jener Zeit das Gehirn bereits für das zentrale Steuerungsorgan hielten.
Antike Kontroversen: Herz oder Hirn?
Im antiken Griechenland gab es heftige Debatten über den Stellenwert des Gehirns innerhalb des Körpers. Hippokrates (460-370 v. Chr.) erkannte die zentrale Rolle des Gehirns für das Denken, die Wahrnehmung und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Er sah das Gehirn auch als Ursprung von Raserei, Wahnsinn, Angst, Furcht, Schlaflosigkeit, Irrtümern und Vergessen.
Aristoteles hingegen widersprach seinem Lehrer Platon und verortete die Seele, die Empfindungsfähigkeit und das Denkvermögen im Herzen. Er argumentierte, dass das Herz auf Erregung reagiere und eine Verletzung des Herzens zum Tod führe, was beim Gehirn nicht der Fall sei.
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Galen und die Ventrikel: Der Lebensgeist im Gehirn
Der römische Arzt Claudius Galen (129-216 n. Chr.) widersprach der aristotelischen Lehre im zweiten nachchristlichen Jahrhundert mit empirischen Argumenten. Er untersuchte Gehirne von Hunden und Schafen und stellte fest, dass das Gehirn keine Kühlfunktion hat. Durch Druck auf bestimmte Stellen des Gehirns konnte er Reaktionen bei den lebend sezierten Tieren beobachten.
Galen vermutete Luft in den Ventrikeln des Gehirns, eine besondere Luft, den Spiritus animalis, den Lebensgeist. Er glaubte, dass die Nerven hohl sind und ein Kanalsystem bilden, das mit den Ventrikeln verbunden ist. Wie beim Brunnen, wo das Wasser durch verschiedene Becken fließt, sollte hier der luftige Lebensgeist fließen und alle körperlichen und geistigen Funktionen bewirken.
Descartes und die Trennung von Körper und Seele
Für 1000 Jahre fanden kaum mehr empirische Untersuchungen der sterblichen Hülle statt. Erst René Descartes (1596-1650) griff die Vorstellung des Römischen Brunnens auf, um sie dann zu zerpflücken. Er argumentierte, dass die Geschwindigkeit unserer Wahrnehmungen und die Vielfalt der sensorischen Eindrücke das Bild eines Römischen Brunnens bei weitem übersteigen.
Descartes verglich das Gehirn mit einer Orgel, bei der die Pfeifen durch einen Luftstrom zum Klingen gebracht werden. Der Windkasten entsprach dem Spiritus animalis, der durch Herz und Arterien in Bewegung kommt. Descartes sah den Körper des Menschen als eine Maschine, die vom Gehirn gesteuert wird. Alles an dieser Maschine ist materiell und kann prinzipiell erklärt werden - bis auf die Seele. Sie kann man nach Descartes nicht mit naturwissenschaftlichen Mittel erschließen, weil sie nicht aus Materie besteht.
Descartes entwickelte die Idee, dass es im Gehirn eine bestimmte Struktur gibt, die Zirbeldrüse (Epiphyse), die als Hauptinteraktionsort zwischen Leib und Seele fungiert. Die Lebensgeister stoßen die Zirbeldrüse an und reizen so die Seele zur Empfindung, die diesen Stoß ihrerseits erwidert. Nur der Mensch besitzt eine Seele.
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Gall und die Phrenologie: Die Vermessung des Schädels
Um 1800, 150 Jahre nach seinem Tod, wurde Descartes' Schädel ausgegraben. Grund hierfür war die neue Hirntheorie von Franz Joseph Gall (1758-1828), der die Phrenologie entwickelte. Gall verortete alle Fähigkeiten des Menschen in streng umrissenen Schädelbereichen. Seine aufsehenerregende Theorie löste eine wahre Sammelwut von Schädeln aus.
Die Köpfe von Genies wie Descartes oder Joseph Haydn wurden akribisch vermessen und mit anderen Schädeln verglichen, darunter auch jene von Verbrechern und Geisteskranken. Gall glaubte, dass sich Descartes' mathematisches Genie an einem ausgeprägten Orbitalknochen ablesen lasse, unter dem er ein stark entwickeltes Organ für Zahlensinn vermutete.
Die Gall'sche Theorie markiert die Entstehung eines neuen Menschenbildes. Wenn alle geistigen und seelischen Zustände am Schädel zu erkennen sind, dann haben sie einen materiellen Ursprung. Das bedeutet, dass die Seele weder gottgegeben noch unsterblich ist, sondern von der Natur her nichts anderes ist als der Rest des Körpers auch. Von diesem Punkt aus startet das materialistische Projekt der Neuzeit.
Die Theorie von Franz Gall verschwand allerdings rasch wieder, da der von ihm unterstellte Zusammenhang zwischen Schädelform und Gehirn nicht haltbar ist. Die Idee streng abgrenzbarer Areale, die für jeweils spezifische Funktionen zuständig sind, wirkt jedoch in der Hirnforschung fort.
Lokalisationstheorie: Ausfallerscheinungen als Wegweiser
Die Hirnforschung geht nun wiederholt den Weg des Negativbeweises. Von Ausfallerscheinungen zieht man Rückschlüsse auf die Funktion der beschädigten Teile des Hirns. Paul Broca (1824-1880) konnte ein umschriebenes Krankheitsbild (Sprachstörung) mit einer dazu passenden Lokalisation (hinterer Teil der dritten vorderen Windung links) in Verbindung bringen.
Brocas Sprachzentrum war der entscheidende Punkt, dass Sprache nicht mehr als ein psychologisches Phänomen verstanden wurde, sondern als ein cerebrales Phänomen. Damit erhielt das Edelste, über das der Mensch verfügt, einen cerebralen Ursprung und damit einen materiellen.
Kriegsverletzungen und ihre Bedeutung für die Hirnforschung
Die Entwicklung der Neuroanatomie und -physiologie seit dem 19. Jahrhundert verdankt sich der Untersuchung, Vermessung und Protokollierung von Gehirnläsionen, mit denen die Ärzte in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts konfrontiert waren. Besonders der Erste Weltkrieg brachte die Lokalisationstheorie voran.
Allerdings wurde diese Art von Lokalisation auch benutzt, um so etwas wie eine Typologie eines Gehirns von einer Gruppe von Menschen erstellen zu können. Dies führte zu verheerenden Entwicklungen, indem man meinte, wissenschaftlich feststellen zu können, dass Frauen weniger intelligent seien als Männer, dass Kriminelle ganz besondere Gehirne haben und kriminelles Verhalten angeboren ist, und dass Nichteuropäer weniger kultiviert sind als Europäer. Alle Arten von Hierarchisierung, von Polarisierung, von Sexismus und Rassismus wurden also mit dieser Hirnforschung begründet.
Die Lokalisationstheorie lieferte eine wissenschaftliche Begründung für Polarisierung, Ausgrenzung, Elitewahn und eine neue Art des Hierarchieaufbaus nach dem Ende der Monarchien.
Metaphern des 19. und 20. Jahrhunderts: Telegraf und Computer
Vor dem Hintergrund der Lokalisationstheorie bildete sich eine neue Metapher in der Hirnforschung heraus, die sich auf die Kommunikationswege konzentriert. Seit 1866 verbindet das erste Seekabel Irland mit Neufundland. 1870 sind bereits weite Teile der Welt per Telegraf erreichbar. Nun wird auch das Hirn zur Telegrafenstation: Die Nerven sind - ähnlich wie die Kabel der Telegrafie mit der ganzen Welt - auf elektrischen Bahnen mit den Befehlsempfängern im Körper verbunden. Die Zentrale im Kopf morst an die Muskeln die entsprechenden Signale und entschlüsselt die Nachrichten von den Rezeptoren.
Der Telegraf als Metapher für das Hirn wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich von der neuen Leit-Technologie des Computers abgelöst.
Die Verantwortung der modernen Hirnforschung
Die moderne Hirnforschung verfügt über fabelhafte Möglichkeiten, trägt aber auch eine besondere Verantwortung, besonders vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Die Frage von Geist und Gehirn ist inzwischen abgelöst worden durch die Frage: Können wir Gedanken lesen?
Vor einigen hundert Jahren war die Vorstellung von den Hirnfunktionen, dass es sich da um einen raffinierten römischen Brunnen handeln würde beim Gehirn. Heute heißt es, das Gehirn ist ein Computer.
Braincast: Ein Podcast über das Gehirn und seine Möglichkeiten
Das Gehirn, seine Funktionsweisen, Möglichkeiten und Folgen sind das Thema von Braincast. Der Podcast beschäftigt sich mit Themen wie Gefühl und Verhalten, Evolution, Weisheit, Genen, Gehirnhälften und vielem mehr.
In einer Episode geht es beispielsweise um die Frage, wie sich unser Gehirn verändert, wenn wir älter werden und wie wir Männer damit umgehen. Prof. Dr. Volker Busch erklärt, warum Männer in der Lebensmitte oft besonders verletzlich sind und wie wir typische Stolperfallen wie die Midlife-Crisis, Reizüberflutung, Leistungsdruck oder den Rückzug aus sozialen Beziehungen besser meistern können.
Er betont, wie wichtig soziale Beziehungen für die mentale Gesundheit im Alter sind und rät zu einem bewussten Übergang vom Tag zur Nacht, um das Gehirn nachhaltig zu beruhigen und erholsamer zu schlafen.