Einführung
Die Nervenzelle, auch Neuron genannt, ist die grundlegende Baueinheit des Nervensystems. Lange Zeit galt sie als der elementare Baustoff des Gehirns. Doch in den letzten Jahren hat sich das Verständnis der Hirnfunktion erweitert, und Gliazellen rücken zunehmend in den Fokus der Forschung. Dieser Artikel beleuchtet die Rolle von Neuronen und Gliazellen, ihre Interaktion und ihre Bedeutung für neurologische Erkrankungen.
Ursprung und Bedeutung des Begriffs "Neuron"
Der Begriff "Neuron" leitet sich vom griechischen Wort né͞uron (νεῦρον) ab, das ursprünglich "Nerv", "Sehne", "Schnur", "Saite" oder "Spannkraft" bedeutete. Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff ins Deutsche übernommen und bezeichnete zunächst "Nerv" oder "Nervenstrang". Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich "Nervenzelle" als Bezeichnung für die grundlegende Einheit des Nervensystems. Die Stammform Neuro-, vor Vokalen Neur- wird zum Bestimmungswort gelehrter Bildungen in Naturwissenschaft und Medizin.
Die Struktur und Funktion von Neuronen
Neuronen sind spezialisierte Zellen, die elektrische und chemische Signale empfangen, verarbeiten und weiterleiten können. Sie bestehen typischerweise aus einem Zellkörper (Soma), Dendriten und einem Axon. Die Dendriten empfangen Signale von anderen Neuronen, während das Axon Signale an andere Neuronen oder Zielzellen weiterleitet. Die Kommunikation zwischen Neuronen erfolgt über Synapsen, spezielle Kontaktstellen, an denen Neurotransmitter freigesetzt werden.
Gliazellen: Mehr als nur "Leim"
Lange Zeit wurden Gliazellen als bloßer "Kitt" betrachtet, der die Nervenzellen im Gehirn an Ort und Stelle hält. Rudolf Virchow entdeckte die Gliazellen schon 1856, hielt sie aber für eine Art passives Bindegewebe im Gehirn und taufte sie dementsprechend „Glia“, griechisch für „Leim“. Diese Fehleinschätzung hatte Folgen, denn fortan stürzten sich Hirnforscher auf die Nervenzellen. Erst in den letzten 20 Jahren hat sich das Verständnis ihrer Rolle grundlegend gewandelt. Forscher entdeckten, dass Gliazellen Neurotransmitter aussenden und empfangen können, obwohl sie keine elektrischen Impulse aussenden. Heute geht man davon aus, dass die Gliazellen die Botschaften der Neurone abhören und modifizieren.
Arten von Gliazellen
Es gibt verschiedene Typen von Gliazellen, die jeweils spezifische Funktionen im Nervensystem erfüllen:
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- Astrozyten: Diese sternförmigen Zellen sind die häufigsten Gliazellen im Gehirn (80 Prozent der Glia im Gehirn sind Astrozyten). Sie umhüllen mit ihren feinen Fortsätzen die Kontaktstellen der Nervenzellen, die Synapsen. Astrozyten reagieren auf zentrale Botenstoffe der Nervenzellen: auf Glutamat, den wichtigsten Neurotransmitter im Gehirn, und auf das Signalmolekül Adenosintriphosphat. Sobald diese Substanzen auf einen Astrozyten einwirken, strömen Kalziumionen in sein Zellinneres. Dieser Kalzium-Strom schwappt gleichsam einer La-Ola-Welle auf benachbarte Astrozyten über. Binnen zehn bis zwölf Sekunden erfasst das Phänomen das umliegende Gliafeld. Die Kalziumionen-Schwemme setzt in den Astrozyten Botenstoffe frei, die man bisher nur aus Nervenzellen kannte, beispielsweise Glutamat, Adenosintriphosphat und Prostaglandin. In Analogie zu den Neurotransmittern, den Botenstoffen der Nervenzellen, werden sie Gliotransmitter genannt - die Botenstoffe der Gliazellen. Psychiater Michael Halassa vom Massachusetts General Hospital in Boston entdeckte 2007 beispielsweise, dass jeder Astrozyt mit seinen Fortsätzen ein bestimmtes Hirnareal mit rund 140.000 Synapsen abtastet. Dabei überlappen die Territorien der Astrozyten sich kaum. Die Gliazellen sitzen außerdem zwischen den Neuronen in nur 20 Nanometern Abstand, also nicht einmal eine Haaresbreite entfernt.
- Oligodendrozyten: Sie bilden Myelin, eine weiße, komplex zusammengesetzte Substanz aus Fett- und Eiweißmolekülen, die nahezu alle Nervenfortsätze umhüllt wie der Kunststoffmantel ein Kabel. Diese Isolierung befähigt zur rasanten Erregungsleitung in den neuronalen Fortsätzen. Mit bis zu 200 Metern pro Sekunde flitzen die elektrischen Potenziale durch die schnellsten Nervenfasern. Myelinisierte neuronale Verbindungen übertragen die Nachricht hundertmal so schnell wie nackte Fasern.
- Mikroglia: Diese Zellen sind diffus über das Gehirn verteilt und spielen eine wichtige Rolle bei der Immunabwehr im Gehirn. Für die Mikroglia schlägt die große Stunde, wenn das Gehirn erkrankt.
Die tripartite Synapse: Ein Zusammenspiel von Neuronen und Gliazellen
In den 1990er Jahren wurde das Konzept der "tripartiten Synapse" entwickelt, das die Interaktion zwischen Neuronen und Gliazellen an den Synapsen beschreibt. Demnach tauschen sich zwei Nervenzellen nicht einfach bilateral miteinander über eine Kontaktstelle, die Synapse, aus. Umliegende Astrozyten horchen mit und manipulieren die neuronale Botschaft, behauptete Araque. Die Gliazellen sind aktive Partner der Neuronen. Die Hirnaktivität ist stets eine konzertierte Aktion von Glia- und Nervenzellen.
Dieses Konzept besagt, dass Astrozyten die neuronale Aktivität an den Synapsen beeinflussen können, indem sie Neurotransmitter aufnehmen und freisetzen. Sie schnappen die Botschaft eines Neurons auf und sagen diese untereinander über die kalziumbasierte La-Ola-Welle weiter. Dann verraten alle eingeweihten Astrozyten, was sie gehört haben, indem sie ihre Botschaft mittels chemischer Botenstoffe ungerichtet in den Raum rufen, ähnlich einem Handy, das in den Raum funkt. Dieser Chor der Astrozyten beeinflusst die Nachricht, die die beiden Neuronen einander übermitteln.
Kontroverse um die tripartite Synapse
Die tripartite Synapse ist jedoch nicht unumstritten. Der Pharmakologe Ken McCarthy von der Universität Utah entfachte im Jahr 2010 die Diskusion wieder neu. Er hatte transgene Mäuse gezüchtet, in denen die Astrozyten einen speziellen Rezeptor tragen, den G-proteingekoppelten Rezeptor. Dieser kommt gewöhnlich nicht im Gehirn vor. Aber über den künstlichen Rezeptor konnte McCarthy die Astrozyten erstmals gezielt ansprechen. Das war bis dahin unmöglich gewesen: Da die natürlichen glialen Rezeptoren auch auf Neuronen sitzen, wurden in bisherigen Untersuchungen zur Rolle der Astrozyten unweigerlich auch die Neuronen mit beeinflusst. Nicht so in McCarthys Mäusen. Doch als der Forscher gezielt die Kalziumionen-Konzentration in den Astrozyten der Tiere nach oben trieb, regte sich entgegen der Erwartung nichts. Keine Botenstoffe, wie Araque und Kettenmann und all die anderen es proklamiert hatten. McCarthy bestreitet seither vehement, dass Astrozyten über Kalziumionen in den neuronalen Datenstrom eingreifen. Die „tripartite“ Synpase ist für ihn ein Produkt eifrig nachgemachter Forschungsfehler. Man habe bisher irrtümlich Artefakte anderer Zellen den Astrozyten zugeschustert und in den Hirnschnitten wie auch in den Zellkulturexperimenten mit unnatürlich starken Stimuli gearbeitet, glaubt er. Trotzdem hält die Mehrheit der Forscher an der „tripartiten“ Synapse fest, so auch Neurowissenschaftler Christian Steinhäuser von der Universität Bonn: „Ich würde mich nicht der Gruppe der Astrozyten-kritischen Wissenschaftler zugehörig fühlen“, sagt er. An McCarthys Arbeiten bemängelt er, dass unklar ist, wie der künstliche Rezeptor die Zellen verändert.
Gliazellen und neurologische Erkrankungen
Es zeichnet sich ab, dass Gliazellen bei vielen neurologischen Erkrankungen beteiligt sind, etwa der Alzheimerschen Erkrankung, der Schizophrenie, der Multiplen Sklerose und bei Epilepsie.
Gliazellen und Epilepsie
„Unsere Befunde lassen sogar vermuten, dass Epilepsie eher eine gliale als eine neuronale Erkrankung ist“, führt Steinhäuser aus. Epileptiker leiden an nicht vorhersagbaren Krampfanfällen, in denen sie die Kontrolle über ihren Körper und manchmal auch über ihr Bewusstsein vorübergehend verlieren. Während eines Anfalls feuern alle Nervenzellen synchron. Deshalb standen diese Zellen jahrelang im Mittelpunkt der Forschung. Aber dann, im Jahr 2005, berichtet Neurowissenschaftlerin Maiken Nedergaard von der University of Rochester im Bundesstaat New York erstmals, dass Astrozyten einen Anfall auslösen könnten: Wenn sie viel Glutamat freisetzen, kann das die umliegenden Nervenzellen zunächst anhaltend aktivieren. Dann folgen die typisch epilepsieartigen Neuronensalven. Die Glia als Urheber der Epilepsie - Steinhäusers Team kann diesen Verdacht mit neuesten Ergebnissen erhärten. Er analysiert zurzeit das Hirngewebe von Epileptikern, denen Medikamente nicht helfen und denen deshalb das erkrankte Gewebe chirurgisch entnommen wird. In diesen Zellproben gibt es keine funktionstauglichen Astrozyten mehr. Das gliale Netzwerk ist zerstört. „Wenn die Astrozyten derart entkoppelt sind, können sie keine Ionen und Botenstoffe von den Neuronen mehr aufnehmen und umverteilen. Das führt zur Überaktivierung der Neuronen“, analysiert Steinhäuser. Der Neurowissenschaftler Giorgio Carmignoto von der Universität Padua in Italien stützt diese Sichtweise mit Experimenten an Tiermodellen. Das Neuronengewitter bei einem Anfall wäre demnach nur ein Symptom und nicht das eigentliche Übel. Zu Anfang versagen die Gliazellen. Sollten die Forscher recht behalten, könnte das 70 Millionen Epileptikern neue Therapiemöglichkeiten eröffnen. Denn jedem Dritten helfen die verfügbaren Medikamente nicht - vielleicht, weil diese bisher auf neuronaler Ebene ansetzen.
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