Die Versorgung von Menschen mit Demenz stellt aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der damit einhergehenden Zunahme von Demenzerkrankungen eine wachsende Herausforderung dar. Multimorbidität, der Verlust kognitiver Fähigkeiten und die Notwendigkeit multimodaler Behandlungsansätze kennzeichnen die Komplexität dieser Erkrankung. Ein besonderer Fokus liegt auf der Behandlung von Depressionen, die häufig als Begleiterscheinung bei Demenz auftreten und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. In diesem Kontext wird der Einsatz von Antidepressiva, insbesondere Mirtazapin, kontrovers diskutiert.
Demenz in Deutschland: Eine wachsende Herausforderung
Deutschland gehört zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Demenzerkrankten weltweit. Im Jahr 2020 lebten hierzulande rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz, wobei die Alzheimer-Demenz die häufigste Form darstellt. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung wird diese Zahl weiter zunehmen - um etwa 900 Menschen pro Tag. Die adäquate Versorgung dieser wachsenden Zahl von Patienten stellt eine besondere Herausforderung dar, insbesondere im Hinblick auf die gesundheitsökonomische Bedeutung und die Komplexität der Erkrankung.
Multimodalität und Multimorbidität: Die Herausforderungen der Demenzbehandlung
Demenzerkrankungen treten typischerweise im höheren Lebensalter auf und werden oft von weiteren Krankheiten begleitet. Die Therapie der vaskulären Demenz (bedingt durch Durchblutungsstörungen im Gehirn) und der Alzheimer-Demenz muss daher fast immer im Kontext einer Multimorbidität erfolgen. Der demenzspezifische Abbau der kognitiven Fähigkeiten führt zu einem Verlust von Sprache und Ausdrucksfähigkeit, was die Krankheitslast und den Verlust an Lebensqualität zusätzlich erhöht. Die Behandlung des demenziellen Syndroms umfasst sowohl pharmakologische als auch psychosoziale Interventionen für die Erkrankten und ihre Angehörigen.
Antidepressiva bei Demenz: Eine kritische Nutzen-Risiko-Abwägung
Schätzungsweise 20 % der Demenzpatienten leiden zusätzlich an einer Depression, was die kognitive Leistungsfähigkeit weiter einschränken und die Lebensqualität mindern kann. Trotz der großen Bedeutung dieser Komorbidität ist die Evidenz für die Wirksamkeit von Antidepressiva bei Demenz gering und die Studienergebnisse sind widersprüchlich.
Eine viel beachtete Studie untersuchte den Einsatz von Sertralin und Mirtazapin bei Alzheimer-Patienten mit Depressionen. Die Ergebnisse zeigten, dass weder Sertralin noch Mirtazapin eine über Placebo hinausgehende Wirksamkeit aufwiesen. Stattdessen traten in den Antidepressiva-Gruppen signifikant häufiger unerwünschte Wirkungen auf, wie gastrointestinale Beschwerden bei Sertralin und Benommenheit/Sedierung bei Mirtazapin.
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Diese Ergebnisse werfen wichtige Fragen bezüglich der aktuellen Praxis der Antidepressiva-Verschreibung bei Demenzpatienten auf. Es wird argumentiert, dass, wenn Sertralin und Mirtazapin keinen Nutzen bringen und lediglich das Risiko für unerwünschte Wirkungen erhöhen, ihre Verordnung in der Regel überdacht werden sollte. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Ergebnisse nicht ohne weiteres auf alle Klassen von Antidepressiva, andere Demenzformen oder Patienten mit sehr schweren Depressionen übertragen werden können.
Mirtazapin im Fokus: Studienlage und Empfehlungen
Ein chinesisches Review aus dem Jahr 2021, das 25 Studien mit 14 Antidepressiva untersuchte, kam zu dem Schluss, dass im Vergleich zu Placebo nur Mirtazapin und Sertralin eine etwas bessere Wirkung bei Depressionssymptomen zeigten. Clomipramin hingegen erhöhte das Risiko für Nebenwirkungen. Auf diese Studie bezieht sich auch die S3-Leitlinie Demenzen (Stand 2023) und spricht eine schwache Empfehlung für Mirtazapin und Sertralin bei Depression und Alzheimer-Demenz aus, betont jedoch die limitierte Studienlage.
Trotz dieser Empfehlung ist Vorsicht geboten. Die HTA-SADD-Studie (Health Technology Assessment Study of the use of Antidepressants for Depression in Dementia) zeigte, dass Mirtazapin bei Alzheimer-Patienten mit Depressionen keine Vorteile gegenüber Placebo aufwies, jedoch mit mehr Nebenwirkungen verbunden war. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung vor der Verordnung von Mirtazapin bei vaskulärer Demenz.
Alternative Behandlungsansätze und Präventionsstrategien
Angesichts der begrenzten Evidenz für die Wirksamkeit von Antidepressiva und der potenziellen Nebenwirkungen gewinnen alternative Behandlungsansätze und Präventionsstrategien zunehmend an Bedeutung. Die Autoren der HTA-SADD-Studie empfehlen ein abgestuftes Pflegemanagement, bei dem zunächst bis zu 13 Wochen aufmerksam beobachtet wird. In dieser Zeit kann auch in der Placebo-Gruppe eine Verbesserung der Depressionssymptome beobachtet werden. Sollte das Zuwarten zu belastend sein oder sich der Zustand nicht stabilisieren, können psychosoziale Interventionen in Betracht gezogen werden, wie z.B. problemlösende Ansätze, Bewegungsübungen oder kognitive Verhaltenstherapie.
Hinweise aus der Präventionsforschung deuten darauf hin, dass mentale und körperliche Aktivitäten, wie Tanzen, sowie Lebensstilveränderungen, wie eine ausgewogene Ernährung, dazu beitragen können, den Beginn einer möglichen Alzheimer-Demenz zu verzögern. Besonders wichtig ist auch eine regelmäßige Kommunikation. Ein Schlüssel zur wirksamen Prävention könnte auch die dauerhafte Senkung eines zu hohen Blutdrucks sein, da Bluthochdruck in jüngeren Jahren ein wesentlicher Risikofaktor für eine spätere vaskuläre Demenz sein kann.
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Der Stellenwert von Neuroleptika: Ein problematischer Ansatz
Im Zusammenhang mit der Behandlung von Demenz ist auch der Einsatz von Neuroleptika kritisch zu hinterfragen. Trotz bekannter Risiken erhielten im Jahr 2019 rund 34 % aller Demenzkranken mindestens einmal Neuroleptika verordnet - Psychopharmaka, die üblicherweise zur Therapie von Schizophrenien und Psychosen eingesetzt werden. Studien haben gezeigt, dass der Einsatz von Neuroleptika bei Demenzpatienten das Mortalitätsrisiko erhöht. Zudem können Neuroleptika und bestimmte Schlaf- und Beruhigungsmittel möglicherweise zu einem rascheren Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit beitragen. Die Verordnung von ruhigstellenden Mitteln bei älteren Menschen, insbesondere bei Menschen mit Demenz, ist daher keine akzeptable Strategie, um den Mangel an Pflege- oder Betreuungspersonal auszugleichen.
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