Mirtazapin ist ein Antidepressivum, das zur Behandlung von Depressionen eingesetzt wird. Es gehört zur Gruppe der tetrazyklischen Antidepressiva (TeCA) oder wird auch als spezifisch noradrenerges und serotonerges Antidepressivum (NaSSA) bezeichnet. Mirtazapin wirkt zentral als alpha-2-Antagonist und verstärkt die noradrenerge und serotonerge Neurotransmission. Die Histamin-H1-antagonistische Wirkung von Mirtazapin steht im Zusammenhang mit seinen sedierenden Eigenschaften. Neben der Behandlung von Depressionen wird Mirtazapin auch off-label zur Behandlung von Nervenschmerzen eingesetzt.
Wirksamkeit von Antidepressiva bei neuropathischen Schmerzen
In einem Cochrane Review wurden 61 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) mit insgesamt 3.293 Teilnehmern zur Wirkung von Antidepressiva bei neuropathischen Schmerzen analysiert. In diesen RCT wurden insgesamt 20 verschiedene Antidepressiva untersucht. Die Literatursuche schloss Studien bis 2005 ein. Als neuropathischer Schmerz gelten diabetische Neuropathie, postherpetische Neuropathie, Trigeminusneuralgie, atypischer Gesichtsschmerz, postoperative und posttraumatische neuropathische Schmerzen sowie zentraler Schmerz.
Die meisten und besten Daten liegen für das trizyklische Antidepressivum (TZA) Amitriptylin vor (Number Needed to Treat = NNT: 3,1). Die Verbesserung des Relativen Risikos (RR) gegenüber Plazebo für eine mindestens moderate Schmerzlinderung bei neuropathischen Schmerzen beträgt 2,23 (95%-Konfidenzintervall = CI: 1,35-3,68). Die Anwendung der TZA ist jedoch durch die sedierenden und anticholinergen UAW besonders bei älteren Menschen eingeschränkt.
Für Venlafaxin (Trevilor®) ergab sich aus drei Studien eine allgemeine Besserung der Schmerzen. Der Effekt war signifikant gegenüber Plazebo (RR-Verbesserung: 2,2; CI: 1,5-3,11). Direkte Vergleiche zwischen TZA und Venlafaxin oder Duloxetin gibt es kaum. Lediglich in einem RCT mit 40 Patienten wurde Venlafaxin mit dem TZA Imipramin bei neuropathischen Schmerzen direkt verglichen. Nach vier Wochen zeigte sich, dass beide Substanzen besser den Schmerz linderten als Plazebo. Es liegen noch zwei im Cochrane-Review nicht berücksichtigte RCT vor, die die Wirksamkeit von Venlafaxin gegenüber Plazebo zeigen. In einem dieser RCT wurden 244 nicht-depressive Patienten mit diabetischer Neuropathie sechs Wochen lang entweder mit einer mittleren Dosis von 75 mg/d Venlafaxin oder mit Plazebo behandelt. Es ergab sich eine NNT von 4,5 für eine mindestens 50%ige Schmerzreduktion. Die wichtigsten UAW waren Übelkeit und Müdigkeit. Bei sieben Patienten fanden sich auch klinisch signifikante EKG-Veränderungen. In einer kleinen Studie zur Behandlung der Fibromyalgie (15 Patienten) erwies sich Venlafaxin (75 mg/d) dem Plazebo überlegen.
Für Duloxetin liegen bisher nur drei relevante RCT vor. In einer 12 Wochen dauernden Multicenter-Studie mit 457 Patienten mit peripherer diabetischer Neuropathie erwies sich Duloxetin als effektiv und sicher verglichen mit Plazebo. Sowohl der mittlere 24h-Schmerz-Score (50%ige Senkung) als auch sekundäre gesundheitsassoziierte Parameter besserten sich. Die Wirkung setzte bereits ab der ersten Woche ein und blieb während der anschließenden Wochen bestehen. In einem RCT mit 348 Patienten mit peripherer diabetischer Polyneuropathie wurde 60 mg/d Duloxetin im Vergleich mit Plazebo untersucht. Auch in dieser Studie waren sowohl der Durchschnittswert des 24h-Schmerzes als auch sekundäre Parameter gegenüber Plazebo signifikant besser (p < 0,001). In einem 12 Wochen dauernden RCT wurde an 207 Patienten die Wirkung von Duloxetin bei Fibromyalgie getestet. Im Vergleich zu Plazebo ergab sich im FIQ total score (von 0-80) ein Unterschied von -5,53 (CI: -10,43-0,63). Im FIQ pain score (0-10) ergab sich keine signifikante Besserung (p = 0,130). Im „Brief pain inventory average interference from pain score” ergab sich ein signifikanter Vorteil gegenüber Plazebo (p = 0,008).
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Insgesamt ergibt sich für TZA, Venlafaxin und Duloxetin eine ähnlich starke Wirksamkeit, wobei für TZA die beste Datenlage besteht. Für Venlafaxin wird ein erheblicher „Publication bias” vermutet, denn offenbar wurden zahlreiche negative Studien bisher nicht veröffentlicht, so dass Venlafaxin nach den TZA nur als Mittel zweiter Wahl gelten kann. Auch wird möglicherweise das Risiko für UAW unter Venlafaxin unterschätzt, z.B. Fallberichte über Restless-legs-Syndrom und mögliche Suizidalität. Die Evidenz hinsichtlich der Wirksamkeit von Duloxetin stützt sich bisher nur auf einzelne RCT. Direkte Vergleichsstudien fehlen.
Fazit: Wenn zur Therapie neuropathischer Schmerzen Antidepressiva eingesetzt werden sollen, sind die trizyklischen Antidepressiva Amitriptylin oder Imipramin nach wie vor Mittel erster Wahl, da diese Substanzen am besten untersucht und am preiswertesten sind. Bei Unverträglichkeit und Kontraindikationen für TZA können Venlafaxin oder Duloxetin eingesetzt werden, die ähnlich stark wirksam sind wie TZA, aber mit großer Wahrscheinlichkeit keine Vorteile haben.
Mirtazapin bei chronischen Spannungskopfschmerzen
In einer kleinen randomisierten, Plazebo-kontrollierten Studie zeigte sich die Überlegenheit von Mirtazapin gegenüber Plazebo bei der prophylaktischen Behandlung chronischer Spannungskopfschmerzen. Spannungskopfschmerzen gehen mit holokraniellen, dumpf-drückenden Kopfschmerzen ohne vegetative Begleiterscheinungen einher. Etwa 3 % der Bevölkerung leiden an chronischen Spannungskopfschmerzen (> 15 Tage/Monat). Die einzige medikamentöse Behandlung chronischer Spannungskopfschmerzen, die in Studien validiert ist, ist die Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva, bevorzugt mit Amitriptylin (z.B. Saroten®). Der therapeutische Effekt ist allerdings marginal. Viele Patienten setzten die Behandlung wegen Nebenwirkungen wieder ab. Amitriptylin hemmt sowohl die Wiederaufnahme von Serotonin wie von Noradrenalin. Interessant ist die Beobachtung, dass reine Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bei der Behandlung des chronischen Spannungskopfschmerzes wie bei anderen chronischen Schmerzen nicht wirksam sind.
Mirtazapin (z.B. Remergil®) hemmt Alpha-2-Adrenorezeptoren auf noradrenergen und serotonergen präsynaptischen Neuronen und verbessert damit die serotonerge und noradrenerge Neurotransmission. Im Vergleich zu klassischen Antidepressiva ist die Substanz auch besser verträglich.
Die dänischen Autoren führten eine Plazebo-kontrollierte, randomisierte, doppelblinde Cross-over-Studie an 24 Patienten mit chronischem Kopfschmerz durch, die nicht depressiv waren. Alle Patienten hatten zuvor erfolglos andere medikamentöse Maßnahmen versucht. Einschlusskriterien waren Alter zwischen 18 und 65 Jahren, Ausschluss einer Depression oder einer Migräne und chronische Spannungskopfschmerzen an mehr als 15 Tagen im Monat. Nach einer Run-in-Phase von vier Wochen wurden die Patienten für acht Wochen mit 15 oder 30 mg/Tag Mirtazapin oder Plazebo behandelt. Nach einer Auswaschphase von vier Wochen erfolgte dann eine weitere achtwöchige Behandlungsphase.
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Zielkriterium war die Area under the curve (AUC) als Dauer x Intensität der Kopfschmerzen sowie die Häufigkeit der Kopfschmerzen, die Dauer der Kopfschmerzen und die Intensität der Kopfschmerzen. 22 Patienten beendeten die Studie.
Mirtazapin führte zu einer signifikanten Reduktion der Area under the Headache Curve im Vergleich zu Plazebo, und zwar von 1275 auf 843 Einheiten. Mirtazapin führte auch zu einer signifikanten Reduktion der Kopfschmerzhäufigkeit, der Kopfschmerzdauer und der Kopfschmerzintensität. In Zahlen ausgedrückt war das Produkt aus Dauer und Intensität der Kopfschmerzen unter Verum-Therapie um 38 % geringer als mit Plazebo. Der Behandlungsunterschied wurde allerdings erst in den Wochen 5 bis 8 nach Behandlungsbeginn signifikant. Zu diesem Zeitpunkt nahm der Plazebo-Effekt ab.
Die Behandlung wurde gut vertragen. Typische Nebenwirkungen waren Benommenheit, unsystematischer Schwindel und Gewichtszunahme. Zwei Patienten brachen die Behandlung wegen Nebenwirkungen unter Verum ab.
Diese kleine Studie aus Dänemark legt nahe, dass nicht nur Amitriptylin, sondern auch das moderne Antidepressivum Mirtazapin bei der Behandlung chronischer Spannungskopfschmerzen wirksam sein könnte. Der Referent kann allerdings die Aussage der Autoren, dass diese Substanz von Patienten mit chronischen Spannungskopfschmerzen gut vertragen wird, nicht ganz teilen, da in unseren Händen mehr als 10 % der Patienten die Behandlung wegen Nebenwirkungen abbrechen. Dieses neue Therapieprinzip ist aber zumindest eine Option bei Patienten, bei denen Amitriptylin nicht ausreichend wirksam war. In absoluten Zahlen ist, wie beim chronischen Spannungskopfschmerz üblich, der therapeutische Effekt relativ gering. Daher sollten alle Patienten zusätzlich eine Verhaltenstherapie erhalten.
Erfahrungen von Patienten mit Mirtazapin
Die Erfahrungen von Patienten mit Mirtazapin bei Nervenschmerzen sind unterschiedlich. Einige Patienten berichten von einer deutlichen Schmerzlinderung, während andere keine Wirkung verspüren oder unter starken Nebenwirkungen leiden.
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Ein Patient berichtet von folgenden positiven Effekten:
- Keine Bauchschmerzen mehr
- Keine Kopfschmerzen mehr
- Mehr Appetit, das Essen schmeckt wieder
- Sexuell leicht fördernd (Durch den Rückgang der Depression erklärbar)
- Extreme Muskelentspannung
- Ein Gefühl von emotionaler Unabhängigkeit
- Mehr Antrieb
Dieser Patient berichtet aber auch von negativen Effekten und Nebenwirkungen zu Beginn der Behandlung:
- Emotionale Unabhängigkeit (kann das Umfeld betreffen)
- Restless Leg Syndrom
- Nervenschmerzen
- Schwindel
- Verstärkung der Angst
- Panik
- Plötzliches Einsetzen einer sehr schweren Depression bzw das Gefühl als hätte man eine
- Extrem aggressives Verhalten
- Benommenheit und Verwirrtheit
- Sexuelle Missempfindungen
- Hochschrecken vor dem Einschlafen
- Unruhe
- Leichte Tendenzen an Selbstmord bzw ein Gefühl das alles zu viel wird
Dieser Patient betont jedoch, dass die Nebenwirkungen zum Großteil in der ersten, eventuell noch in der zweiten Woche auftraten. Nach zwei Wochen war das Restless Leg Syndrom die einzig wirklich starke Nebenwirkung.
Andere Patienten berichten von Schlafstörungen, Atemnot und Herzrasen. Es gibt auch Berichte über Gewichtszunahme und Sedierung.
Polyneuropathie als mögliche Nebenwirkung von Mirtazapin
Bei einer 75-jährigen Patientin kam es unter der erstmaligen Behandlung mit Mirtazapin zu einer zunehmenden Gangunsicherheit und zunehmenden zeitweisen Parästhesien der unteren Extremitäten. Zunächst wurden diese Symptome im Rahmen eines somatischen Syndroms bei Depression und einer Vorgeschichte mit lumbalem Schmerzsyndrom bei multiplen Bandscheibenvorfällen gesehen. Im Verlauf konnte der Verdacht auf eine Polyneuropathie durch die elektrophysiologische Diagnostik bestätigt werden. Es zeigte sich spezifisch eine distal symmetrische axonale sensomotorische Polyneuropathie. Nach Absetzen von Mirtazapin remittierte die Symptomatik klinisch und elektrophysiologisch komplett. Der Fall wurde im Rahmen des Pharmakovigilanz-Projekts AMSP (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie) dokumentiert und diskutiert. Er stellt unseres Wissens die erste publizierte Fallbeschreibung einer elektrophysiologisch dokumentierten Polyneuropathie als mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) einer Therapie mit Mirtazapin dar.
Die Autoren schlussfolgern, dass die überwiegend wahrscheinliche Ursache der Symptomatik der Patientin eine Medikamenten-induzierte Polyneuropathie ist, wobei Mirtazapin als wahrscheinlichste Ursache angesehen wird. Polyneuropathie als UAW wurde bislang für Mirtazapin in der Literatur nicht beschrieben und wird auch nicht in der Fachinformation aufgeführt.
Was ist bei der Einnahme von Mirtazapin zu beachten?
Mirtazapin darf nicht eingenommen werden bei:
- Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff oder einem der anderen Bestandteile des Medikaments
- Gleichzeitiger Einnahme von Antidepressiva aus der Gruppe der Monoaminooxidase-Hemmern (MAO-Hemmer)
Neben diesen absoluten Kontraindikationen gibt es noch relative Kontraindikationen, also Situationen, in denen das Antidepressivum nur bei zwingender Notwendigkeit und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung verordnet werden sollte. Zu diesen relativen Kontraindikationen gehören:
- schwere Leber- und Nierenfunktionsstörungen
- erhöhte Krampfbereitschaft
- gleichzeitige Einnahme von Linezolid (Antibiotikum)
Wechselwirkungen
Wird während der Behandlung mit Mirtazapin Alkohol konsumiert, verstärkt sich die beruhigende Wirkung des Antidepressivums. Dies gilt auch bei der Kombination mit anderen Beruhigungsmitteln (vor allem mit Benzodiazepinen) oder zentral wirksamenen Arzneimitteln (wie ältere Antiallergika, Opioide).
Die Wirkung von blutdrucksenkenden Medikamenten (Antihypertensiva) kann durch Mirtazapin verstärkt werden, sodass es zu starken Blutdruckabfällen kommen kann.
In Kombination mit Lithium (bei psychischen Erkrankungen) können sich die Wirkungen und Nebenwirkungen verstärken.
Bei gleichzeitiger Anwendung von Carbamazepin, Phenytoin und Phenobarbital (bei Epilepsie) ist mit einem beschleunigten Abbau des Antidepressivums zu rechnen, was eventuell eine Dosiserhöhung notwendig machen kann.
Mirtazapin kann die gerinnungshemmende Wirkung von Vitamin-K-Antagonisten (wie Warfarin, Phenprocoumon) verstärken. Außerdem ist Mirtazpin in der Lage das sogenannte QT-Intervall im Herzen zu verlängern, besonders wenn gleichzeitig Arzneimittel mit bekannter QT-verlängernder Wirkung eingenommen werden (wie einige Antipsychotika und Antibiotika).
Fahrtüchtigkeit und Bedienen von Maschinen
Während der Behandlung mit Mirtazapin sollten Patienten nur dann Fahrzeuge lenken und schwere Maschinen bedienen, nachdem sichergestellt wurde, dass ihre Konzentrationsfähigkeit nicht beeinträchtigt ist.
Altersbeschränkung
Die Wirksamkeit von Mirtazapin konnte bei Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren bisher nicht nachgewiesen werden. Von der Anwendung in dieser Altersgruppe wird deshalb abgeraten.
Schwangerschaft und Stillzeit
Die Anwendung von Mirtazapin bei schwangeren Frauen ist nicht ausreichend untersucht. In Tierversuchen zeigten sich keine Hinweise auf eine fruchtschädigende Wirkung. Begrenzte Daten am Menschen bestätigen diese Beobachtung.
Das Antidepressivum kann in der Schwangerschaft verordnet werden, wenn besser untersuchte Alternativen nicht ausreichend wirken. Wird eine Frau, die stabil auf Mirtazapin eingestellt ist, schwanger, kann die Behandlung fortgeführt werden.
Tierexperimentelle Studien und begrenzte Daten am Menschen haben gezeigt, dass Mirtazapin kaum in die Muttermilch übertritt. Stillen ist daher akzeptabel, wenn der Wirkstoff als Monotherapie gegeben wird (also nicht in Verbindung mit anderen Antidepressiva) und man den gestillten Säugling gut beobachtet.
Dosierung und Einnahme
Mirtazapin wird oral eingenommen. Zu Therapiebeginn sollte die Dosierung einschleichend erfolgen. Bei Beendigung der Therapie ist ein abruptes Absetzen zu vermeiden. Die Therapie sollte ausgeschlichen werden. Die Tagesdosis beträgt 15 - 45 mg, initial 15 oder 30 mg einmal täglich. Der Wirkstoff ist für die tägliche Einnahme geeignet, diese sollte vorzugsweise vor dem Schlafengehen erfolgen.
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