Morbus Huntington: Diagnostik und Leitlinien

Die Huntington-Erkrankung (Morbus Huntington, Chorea Huntington, Huntington’s disease, HD) ist eine seltene, vererbbare Erkrankung des Gehirns, die zu Bewegungsstörungen sowie psychischen Veränderungen mit Verhaltensstörungen führt. Auch ein Rückgang der intellektuellen Fähigkeiten kann hinzutreten. Die Erkrankung verläuft fortschreitend.

Einführung

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat eine neue S2k-Leitlinie „Chorea/Morbus Huntington“ herausgegeben. Diese Leitlinie bietet eine umfassende Grundlage für die Diagnostik und Behandlung dieser komplexen Erkrankung. Die Huntington-Krankheit ist eine genetische Erkrankung des Gehirns, die durch eine Mutation im Huntingtin-Gen verursacht wird. Bislang gibt es keine kausale Therapie, weshalb die symptomatische Behandlung im Vordergrund steht.

Grundlagen der Huntington-Erkrankung

Definition und Häufigkeit

Bei der Huntington-Erkrankung handelt es sich um eine seltene, vererbbare Erkrankung des Gehirns, die zu Bewegungsstörungen sowie psychischen Veränderungen mit Verhaltensstörungen führt. Auch ein Rückgang der intellektuellen Fähigkeiten kann hinzutreten. Erste Krankheitszeichen treten meist im Alter von 30-45 Jahren auf, die Krankheit verläuft über 10-15 Jahre. In seltenen Fällen kann sie auch in der frühen Kindheit oder im höheren Alter auftreten. Man geht davon aus, dass es in Deutschland etwa 4000 Betroffene gibt, die an der Huntington-Erkrankung leiden.

Genetische Ursachen

Chorea Huntington ist eine genetisch bedingte Erkrankung. Die Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt. Das verantwortliche Gen - auch als Huntingtin-Gen (HTT) bezeichnet - ist auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 lokalisiert, der Genlokus ist p16.3. Durch den Gendefekt entsteht ein instabiles Genprodukt, verursacht durch die Amplifikation von Triplet-Repeats (CAG). Die Huntington-Krankheit zählt demnach zu den Trinukleotid-Repeat-Erkrankungen.

Bei gesunden Menschen wiederholt sich das Basentriplet CAG etwa 10- 26-mal. Bei 27-35 Repeats erkranken die Patienten selbst nicht, aber bei den Kindern dieser Patienten ist die Erkrankungswahrscheinlichkeit um etwa 5% erhöht. Bei 36-39 Repeats liegt eine verminderte Penetranz vor, es erkranken also nicht alle Patienten. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei Kindern dieser Patienten liegt bei 50%. Eine manifeste Erkrankung tritt ab 40 CAG-Repeats auf. Je mehr CAG-Repeats Patienten aufweisen, desto früher kommt es zur Erkrankung. Ab etwa 60 CAG-Repeats tritt die Erkrankung in der juvenilen Form auf, bei welcher der Erkrankungsbeginn vor dem 20. Lebensjahr liegt.

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Pathophysiologie

Die CAG-Repeats im Huntingtin-Gen von Menschen mit Morbus Huntington sind instabil. Das entstehende Genprodukt, das Huntingtin-Protein, ist verändert. Diese veränderte Form von Huntingtin scheint toxische Effekte zu haben und es kommt zu Amyloid-ähnlichen Ablagerungen in den betroffenen Zellen. Weiterhin weisen diese Zellen einen gestörten Glukosemetabolismus und dadurch eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber oxidativem Stress und dem exzitatorischen Neurotransmitter Glutamat auf.

Der neuronale Untergang beginnt in den GABA-ergen Neuronen im Striatum, langfristig findet er auch im Thalamus und Kortex statt. Aus dem Untergang der Neurone im Striatum resultiert eine verstärkte Hemmung des Nucleus subthalamicus, was wiederum zu einer reduzierten Aktivierung hemmender Neurone in Pallidum und Substantia nigra führt. Insgesamt resultiert hieraus eine verminderte Hemmung des Thalamus, wodurch es zu überschießenden, unwillkürlichen Bewegungen kommt.

Klinische Manifestation

Symptomatik

Der Verlauf der Erkrankung ist individuell sehr unterschiedlich, es zeigen sich vielfältige Symptome, die die Erkrankten entwickeln können. Die Huntington-Krankheit manifestiert sich zu Beginn häufig mit psychischen Veränderungen, die meist vor den motorischen Symptomen auftreten. Es zeigen sich Affekt- und Verhaltensstörungen, beispielsweise eine vermehrte Reizbarkeit, Depression, Apathie oder Zwangsstörungen. Chorea Huntington geht mit einem erhöhten Suizidrisiko einher. Die kognitiven Fähigkeiten können beeinträchtigt sein. Im Verlauf der Erkrankung entwickelt sich regelmäßig eine Demenz.

Motorische Störungen

Typisch ist zum einen das Auftreten von unwillkürlichen und unkontrollierbaren (sog. choreatischen) Bewegungen der Arme, Beine, des Rumpfes und des Kopfes. Anfangs ist es möglich, dass diese überschießenden und ungewollten Bewegungen oft noch in scheinbar sinnvolle Bewegungsabläufe eingebaut werden. Die Bewegungen nehmen bei Aufregung oder Nervosität zu. Eine deutliche Gangunsicherheit mit erhöhter Sturzgefahr kann zusätzlich bestehen. Außerdem ist die Sprache oft undeutlich und klingt abgehackt. Zudem können Schluckstörungen auftreten, so dass die Nahrungsaufnahme sehr schwierig wird. Lungenentzündungen aufgrund von Schluckstörungen sind eine häufige Komplikation im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung.

Westphal-Variante

Tritt die Erkrankung bereits im Jugendalter auf, kann es dagegen zu einer zunehmenden Muskelsteifigkeit und Bewegungshemmung kommen, wie es bei Parkinson-Patienten bekannt ist (sog. Westphal-Variante).

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Okulomotorische Störungen und Störungen von Phonation und Nahrungsaufnahme

Bei etwa der Hälfte der Patienten zeigen sich bereits im Frühstadium okulomotorische Störungen, z.B. eine vertikale Blickparese nach oben. Ist die Muskulatur, welche von den kaudalen Hirnnerven innerviert wird, besonders stark betroffen, so ist das Sprechen verwaschen und im Verlauf kaum noch artikuliert. Die Phonation wechselt stoßweise. Die Nahrungsaufnahme wird durch die nicht mehr vorhandene Koordination der Kau- und Schluckbewegungen erschwert. Unwillkürliche Bewegungen der Zunge stoßen die Nahrung immer wieder aus dem Mund.

Diagnostische Verfahren

Anamnese und klinische Untersuchung

Im Frühstadium ist die Diagnose der Erkrankung schwierig. Da es sich um eine erbliche Erkrankung handelt, ist Befragung zur Familiengeschichte des Patienten von großer Bedeutung. Daneben ist die ausführliche klinische Untersuchung durch einen Neurologen entscheidend. Da viele Patienten die Bewegungsstörungen zu Beginn nicht wahrnehmen, ist auch eine Fremdanamnese wichtig, um den genauen Beginn der motorischen Krankheitsanzeichen sicher festlegen zu können. Es sind neurologische, neuropsychologische, psychiatrische und internistische Untersuchungen angezeigt.

Neurologische Untersuchung

Bei der neurologischen Untersuchung sollte der Unified Huntington’s Disease Rating Scale total motor score (UHDRS-TMS) erhoben werden. Dieser Score wurde 1996 von der Huntington Study Group entwickelt, um den klinischen Status sowohl bei Patienten mit Chorea Huntington als auch bei Individuen mit dem Risiko für die Huntington-Krankheit zu beurteilen.

Neuropsychologische und psychiatrische Untersuchung

Bei der neuropsychologischen Untersuchung sollte u.a. auf psychomotorische Verlangsamung, Gedächtnisstörungen und eine Abnahme des Sprachflusses geachtet werden. Eine formale kognitive Testung nach UHDRS sollte erfolgen. In der psychiatrischen Untersuchung wird beispielsweise auf Anzeichen von Persönlichkeitsveränderungen, Aggressivität, Depression oder Suizidalität geachtet. In der Leitlinie wird die Anwendung der „Problem-Behavior-Assessment“-Skala (PBA-s) empfohlen.

Bildgebung

Sind die neurologischen Symptome und die Familiengeschichte eindeutig, kann auf eine ausgedehnte Diagnostik verzichtet werden. Bei untypischen Beschwerden werden zusätzliche bildgebende Verfahren (CT, MRT) eingesetzt, ggf. werden auch neurophysiologische und nuklearmedizinische Verfahren angewandt. Dies ist notwendig, um die Huntington-Erkrankung von anderen Krankheitsbildern, die im Anfangsstadium ähnlich verlaufen können, zu unterscheiden.

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In der zerebralen Bildgebung (cMRT oder bei Kontraindikation cCT) kann eine Atrophie des Nucleus caudatus durch an den Vorderhörnern erweiterte Seitenventrikel nachgewiesen werden. Als Zeichen der Hirnatrophie tritt eine Verbreiterung der Rindenfurche auf. Die zerebrale Bildgebung dient auch dem Ausschluss symptomatischer Ursachen und dem Nachweis von Veränderungen, die pathognomonisch für einige als Differentialdiagnosen in Betracht kommende Erkrankungen sind.

Molekulargenetische Untersuchungen

Eine sichere Diagnosestellung gelingt mit Hilfe einer molekulargenetischen Testung. Dabei wird eine Blutprobe eines Betroffenen auf Veränderungen im entsprechenden Gen untersucht. Auch gesunde erwachsene Familienangehörige können sich diesbezüglich untersuchen lassen (sog. Vorhersagediagnostik).

Die molekulargenetische Untersuchung mit Bestimmung der CAG-Repeats im Huntingtin-Gen erfolgt nach Aufklärung des Patienten und dessen Einwilligung. Die gesetzliche Grundlage ist in Deutschland das Gendiagnostikgesetzt (GenDG). Der Patient muss über sein Recht auf Nichtwissen und das Recht auf Widerruf der erteilten Einwilligung informiert werden.

Differentialdiagnosen

Die Verdachtsdiagnose ergibt sich aus der klinischen Symptomatik der betroffenen Patienten. Die choreatischen Bewegungsstörungen sollten zunächst als Symptom eingeordnet werden, denen verschiedene Ursachen zugrunde liegen können. Zahlreiche Differentialdiagnosen kommen bei choreatischen Bewegungsstörungen in Betracht.

Therapieansätze

Symptomatische Therapie

Bisher (Stand 2020) gibt es keine kausale Therapie für Chorea Huntington. Symptomlinderung und Verlangsamung der Progredienz stehen bei der Therapie im Vordergrund. Derzeit ist auch kein Medikament zur neuroprotektiven Therapie zugelassen. Ein kausaler Therapieansatz durch den Einsatz von Antisense-Oligonukleotiden wird erforscht.

Medikamentöse Therapie der Hyperkinesen

Aktuell sind zur Therapie von choreatischen Hyperkinsen Tiaprid (D2/D3-Dopaminrezeptor-antagonist) und Tetrabenazin zugelassen. Nach derzeitiger Studienlage ist Tetrabenazin am besten zur Therapie geeignet. Der große Nachteil liegt darin, dass als unerwünschte Arzneimittelwirkung eine Depression auftreten kann. Da Patienten mit Chorea Huntington sowieso zu Depressionen neigen, ist diese Nebenwirkung von besonderer Relevanz. In der Leitlinie wird daher empfohlen die antihyperkinetische Therapie mit Tiaprid zu beginnen, bei dem ein günstigeres Nebenwirkungsprofil vorliegt. Tetrabenazin soll laut Leitlinie in Kombination oder als Monotherapie eingesetzt werden, wenn die Behandlungsmöglichkeiten mit Tiaprid hinsichtlich Wirkung und Verträglichkeit ausgereizt sind. Eine Kombination der beiden Präparate kann auch zu einer Dosisreduktion der einzelnen Wirkstoffe genutzt werden, was die Nebenwirkungen reduziert.

Therapie von Dystonien, Bradykinesen und Rigidität

Die Therapie von Dystonien bei Chorea Huntington ist schwierig. Tetrabenazin in niedriger Dosierung, Amantadin, Baclofen, Tizanidin und Clonazepam können laut Leitlinie probiert werden. Besonders bei bradykinetischen Patienten und der juvenilen Westphal-Variante können Dopaminagonisten angewendet werden.

Behandlung von Depressionen und Apathie

Die Behandlung von Depressionen wird nach den Grundsätzen der üblichen psychiatrischen Therapie durchgeführt, jedoch sollten keine MAO-Hemmer eingesetzt werden. Diese sind u.a. bei gleichzeitiger Gabe von Tetrabenazin kontraindiziert. Bei schweren Depressionen scheint die Therapie mit SSRI, besonders mit Venlafaxin, effektiv zu sein.

Psychosen und Demenz

Antipsychotika sollten angewendet werden. Aussagekräftige Studien zur Therapie bei Chorea Huntington liegen bisher nicht vor. Für den Einsatz von Memantin bei Demenz gibt es keine Evidenz. Cholinesterase-Inhibitoren sind nicht wirksam.

Nicht-medikamentöse Therapieformen

Neben der medikamentösen Therapie spielen nicht-medikamentöse Therapieformen eine wichtige Rolle.

Ernährung

Der Stoffwechsel von Patienten mit Chorea Huntington befindet sich in einem katabolen Zustand. Sie benötigen eine hochkalorische Kost mit ggf. sechs bis acht Mahlzeiten am Tag und ggf. eine hochkalorische Nahrungsergänzung. Liegen Schluckstörungen vor, kann das Andicken von Flüssigkeiten hilfreich sein. Je nach Verlauf kann eine frühe PEG-Anlage sinnvoll sein.

Psychosoziale Maßnahmen

Die Patienten sollten psychologisch, psychosozial, krankengymnastisch, ergotherapeutisch und logopädisch betreut werden.

Europäisches Huntington-Netzwerk (EHDN)

Um die Erforschung der Huntington-Erkrankung voranzutreiben, gründeten einige Zentren in Europa 2003 das Europäische Huntington-Netzwerk (EHDN). Dieses Netzwerk bündelt die Anstrengungen von Ärzten, Grundlagenwissenschaftler, Pflegekräften, Therapeuten, aber auch Patienten und Angehörigen, um neue Therapien für die Huntington-Erkrankung zu entwickeln.

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