Multiple Sklerose: Das Alter bei Ausbruch als entscheidender Faktor

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Sie ist die häufigste nicht-traumatische neurologische Erkrankung in Deutschland und die dritthäufigste Erkrankung hinsichtlich der Entwicklung schwerer Behinderungen. Die Erkrankung manifestiert sich typischerweise im jungen Erwachsenenalter, meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Diagnose erst im höheren Lebensalter gestellt wird. In seltenen Fällen manifestieren sich die ersten Krankheitszeichen bereits im Kindes- oder Jugendalter.

Epidemiologie der Multiplen Sklerose

Deutschlandweit sind schätzungsweise 300.000 Menschen von MS betroffen. Die Anzahl der neu diagnostizierten MS-Erkrankten pro Jahr ist steigend, wobei zunehmend mehr Frauen als Männer betroffen sind. Jährlich werden etwa 15.000 Menschen in Deutschland neu mit MS diagnostiziert. Die Prävalenz der Multiplen Sklerose bei älteren Menschen nimmt wegen einer verbesserten Früherkennung und auch wegen der erheblich verbesserten therapeutischen Möglichkeiten ständig zu.

Altersbedingte Besonderheiten der MS

Der Erkrankungsgipfel der MS liegt zwar zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, jedoch werden auch MS-Diagnosen nach dieser Lebensspanne gestellt. Dies kann daran liegen, dass die MS bereits vorhanden war, aber noch nicht deutlich aktiv war. In seltenen Fällen zeigt sich eine MS zum ersten Mal nach dem 50. Lebensjahr.

Im Alter entwickeln Menschen zunehmend Beschwerden wie Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Probleme und Diabetes. Auch die Aufmerksamkeit und das Denkvermögen können eingeschränkter sein. Mit fortschreitendem Alter ist das Risiko erhöht, körperliche Einschränkungen zu entwickeln, z. B. beim Sehen, Hören oder in der Beweglichkeit.

Es ist wichtig, MS-bedingte Beschwerden im Alter von anderen altersbedingten Einschränkungen abzugrenzen. Dies ist jedoch nicht immer einfach, da sich Veränderungen im Gehirn, die z. B. Durchblutungsstörungen verursacht haben, in den MRT-Bildern sehr ähnlich sehen können.

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Im höheren Alter erkranken mehr Männer als Frauen, während es bei jüngeren Menschen umgekehrt ist. Zudem leben MS-Erkrankte heute deutlich länger als noch vor einigen Jahren und können durchaus ein "normales" Lebensalter erreichen.

In der Altersgruppe von etwa 50 bis 60 Jahren sinkt langsam die Aktivität des Immunsystems (Immunseneszenz). Es stellt sich die Frage, ob sich die sinkende Aktivität des Immunsystems im Alter positiv auf das Fortschreiten der Krankheit auswirkt. Manchmal verliert die MS im Alter über 60 an Kraft. Dann werden Schübe seltener, im MRT zeigen sich seltener aktive Herde. Allerdings heißt das nicht automatisch, dass man eine verlaufsmodulierende Therapie bei MS im Alter beenden kann oder sollte - vor allem dann nicht, wenn die MS bereits sekundär fortschreitet oder in jüngeren Jahren hochaktiv war.

Im Alter entwickeln die meisten Menschen eine oder mehrere Erkrankungen (Komorbiditäten), die die vielen Lebensjahre mit sich bringen. Dann ist ein genauer Blick auf die Therapie nötig, damit sich die verschiedenen Medikamente bei MS im Alter nicht gegenseitig negativ beeinflussen.

Bei älteren MS-Erkrankten sind MS-Medikamente manchmal nicht so wirksam wie bei jüngeren Menschen. Es liegen viele Untersuchungen zur Wirksamkeit von Medikamenten für junge Menschen vor. Aber auch Ältere profitieren von einer Immuntherapie.

Symptome und Diagnose im Alter

Die Symptome der Multiplen Sklerose im Alter können sich von denen bei jüngeren Menschen unterscheiden. Im Alter stehen eher Gangstörungen und Gleichgewichtsstörungen im Vordergrund, während Sehstörungen seltener auftreten. Im Mittel tritt eine Multiple-Sklerose Erkrankung bei älteren Menschen im Alter von 53,5 Jahren auf. In den meisten Fällen handelt es sich um eine schubförmige Form der Multiplen Sklerose.

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Inzwischen weiß man, dass es bei Betroffenen im Alter von über 50 Jahren von den Symptomen bis zur Diagnosestellung im Vergleich zu jüngeren Menschen ca. 5,4 Jahre im Durchschnitt dauert, an Multiple Sklerose zu erkranken. Bei Jüngeren beträgt die Dauer von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung im Durchschnitt 3,1 Jahre. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass vielen noch nicht bewusst ist, dass auch nach dem 50. Lebensjahr Menschen an Multipler Sklerose erkranken können, und dass die sogenannten Alterskrankheiten die Symptome einer Multiplen Sklerose kaschieren können.

Während eine Fußheberparese oder eine andere Gangstörung oder Sensibilitätsstörung bei einem jungen Mann direkt an eine MS-Erkrankung denken lassen könnte, könnten diese Symptome im Alter auch auf Polyneuropathien, degenerative Erkrankungen etc. zurückgeführt werden.

Verlauf und Prognose im Alter

Der Verlauf der MS ist recht individuell. Primär progredient sind etwa 10% der MS-Patienten im Alter, die meisten (85%) haben zu Beginn Schübe. Im Durchschnitt sind es anfangs 1,8 Schübe pro Jahr, im Lauf der Zeit werden es weniger. Fast alle MS-Patienten mit primären Schüben werden irgendwann sekundär progredient.

Bei den Patienten über 50 Jahren überwiegen motorische Funktionsstörungen sowie zerebelläre Störungen und eine Störung des autonomen Nervensystems. Die meisten dieser Patienten benötigen eine Gehhilfe, um eine Strecke von 100 m zurücklegen zu können. Viele sind nicht mehr in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen. Viele dieser Patienten klagen über Spastiken, Ganzkörperschmerzen, Schlafstörungen und Harninkontinenz oder Harnverhalt. Nicht wenige dieser Patienten geben depressive Symptomatiken wie Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit und eine innere Leere an. Nicht wenige haben dabei auch Suizidgedanken.

Eine Behinderung bei älteren MS-Patienten über 65 Jahren ist erheblich häufiger und ausgeprägter als bei jüngeren MS-Patienten. Damit geht eine massive Einschränkung im Alltag einher. Hinzukommt, dass viele der MS-Erkrankten im Alter alleine leben im Vergleich zu jüngeren MS-Erkrankten. Bei älteren MS-Patienten sind Toilettengänge häufiger, daher müssen sie nachts oft aufstehen, um die Toilette aufzusuchen, was nicht selten zu schweren Stürzen führt mit Oberschenkelhalsfrakturen und anderen Frakturen.

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Der Verlauf der Multiplen Sklerose ist im Alter progredienter, was unter anderem damit zusammenhängt, dass die MS-Medikamente im Alter nicht mehr so wirken wie bei jüngeren MS-Patienten. Die Schubrate hingegen scheint bei der schubförmigen Form der Multiplen Sklerose altersunabhängig zu sein. In der Tat zeigen über 65 -Jährige keine höhere Schubrate als jüngere MS-Patienten. Der chronisch-progredienter Verlauf ist jedoch bei MS-Patienten über 50 Jahren deutlich höher als bei jüngeren MS-Patienten.

Ab einem gewissen Punkt scheint die Erkrankung ähnlich schnell voranzuschreiten. Bei einem MS-Patienten mit 50 Jahren lässt sich klinisch kaum noch erkennen, ob die Erkrankung schubförmig begann oder nicht und in welchem Alter er erkrankt ist. Behinderungsgrad und Prognose sind dann weitgehend identisch.

Pathophysiologische Veränderungen im Alter

Im Alter kommt es zu Veränderungen in der weißen Substanz des Gehirns, wie diffusen Läsionen, kortikaler Entmarkung und Atrophie der Hirnrinde, die an eine Neurodegeneration erinnern.

Ein anderes Problem bei der progredienten MS ist wohl das Unvermögen des Gehirns, die entmarkten Axone wieder rasch mit einer Myelinschicht zu überziehen. Eine Arbeitsgruppe um Dr. Die Forscher haben eine zunehmende Azetylierung von Histonen im Alter beobachtet, und diese scheint die Remyelinisierung massiv zu blockieren. Wird etwa die Histon-Azetylierung durch bestimmte Substanzen forciert, dann lässt sich die Myelinisierung im Tierversuch blockieren. Zudem fanden sie in Gewebe von MS-Patienten einen erhöhten Azetylierungsgrad.

Die New Yorker Forscher weisen damit aber zugleich auf einen neuen Ansatz, wie man die Myelinbildung wieder in Schwung bringen und die Progression eine MS dämpfen könnte. So können die Forscher zwar die Azetylierung der Histone nicht einfach wieder aufheben, aber ihre Auswirkungen auf die Chromatinregulation blockieren. Dieses haben die Forscher mit der Substanz Olinon gezielt gehemmt. In ersten Experimenten gelang es dem Team um Casaccia damit tatsächlich, die Oligodendrozyten-Differenzierung zu verstärken.

Therapieansätze im Alter

Ein wichtiger Aspekt bei der Immuntherapie älterer Menschen mit MS ist die Integration von Begleiterkrankungen in die Therapieplanung. Hier sind vor allem folgende Situationen und Aspekte zu nennen: Tumorerkrankungen oder der Zustand nach einem Tumor, erhöhte Infektneigung durch die Therapie bei Koinzidenz von chronischen Wunden oder Infekten, erhöhter Impfbedarf im Alter.

Das größte Problem der krankheitsmodifizierenden Therapien der MS (Disease Modifying Therapies, DMTs) bei älteren Menschen ist, dass alle bisherigen Zulassungsstudien der DMTs bis 55, in seltenen Fällen bis zu einem Alter von 60 Jahren eingeschlossen haben. Damit fehlen de facto Daten zur Wirksamkeit moderner MS-Therapeutika trotz einer gleichzeitig wachsenden Zahl älterer Menschen mit MS. Darüber hinaus ist bekannt, dass DMTs mit zunehmendem Alter eine schlechtere Wirksamkeit haben, da in der Immunseneszenz die adaptive Immunität schlechter reagiert.

Folglich ist bei vertretbarem Risikoprofil eine Therapie grundsätzlich indiziert und verhindert jede Form der Behinderungsprogression. Die Frage nach dem Beenden einer laufenden Therapie bei längerer Stabilität lässt sich mit dem heutigen Stand der Evidenz nicht abschließend beantworten und ist keine generelle Empfehlung.

Rehabilitation und nichtmedikamentöse Therapieansätze

Bei einem zumindest nicht endgültig bewiesenen Stellenwert der Immuntherapie im Alter nimmt die Rehabilitationstherapie in dieser Patientengruppe einen besonderen Stellenwert ein, um Resilienz zu stärken, schleichender Progression entgegenzuwirken oder der spontan schlechteren Rückbildungstendenz nach Schüben besonders aktiv zu begegnen.

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