Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) stellt Betroffene vor vielfältige Herausforderungen, die nicht nur gesundheitlicher Natur sind, sondern auch das Arbeitsleben betreffen. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Aspekte des Arbeitsrechts im Zusammenhang mit MS, um Betroffenen einen Wegweiser durch den Dschungel der sozialrechtlichen Bestimmungen zu bieten.
Der Sozialverband VdK als Anlaufstelle
Der Sozialverband VdK ist ein deutschlandweit tätiger, gemeinnütziger Verband, der sich der sozialpolitischen Interessenvertretung und Sozialrechtsberatung verschrieben hat. Mit seiner föderalen Struktur, bestehend aus Bundes-, Landes-, Kreis- und Ortsverbänden, bietet der VdK Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen eine wichtige Anlaufstelle, um sozialrechtliche Fragen zu klären. Oft wird der VdK als eine Art "Gewerkschaft im Sozialrecht" bezeichnet.
Arbeitsplatzanpassung und Leistungen zur Teilhabe
Eine häufige Frage betrifft die Anpassung des Arbeitsplatzes bei fortschreitender MS. Hier greift die Expertise des VdK, auch wenn seine Vertretungsbefugnis vor den Arbeitsgerichten begrenzt ist. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben umfassen ein breites Spektrum an Einzelleistungen, von qualifizierenden Leistungen bis hin zu Sachleistungen, und sind im Sozialgesetzbuch (§33 SGB V) fest verankert. Sie tragen dazu bei, den Arbeitsplatz zu erhalten, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen vorliegen und dieser dadurch gefährdet ist. Auch Menschen mit MS ohne Schwerbehindertenstatus können von diesen Leistungen profitieren.
Mögliche Anpassungen am Arbeitsplatz
- Technische Hilfsmittel: Höhenverstellbarer Schreibtisch, Bildschirmlesegerät, orthopädische Arbeitssicherheitsschuhe, größerer Computermonitor.
- Bauliche Maßnahmen: Anpassung der Arbeitsumgebung, um MS-bedingte Einschränkungen auszugleichen.
- Logistische Unterstützung: Längere Pausen, flexible Arbeitszeiten, Homeoffice.
Schwerbehinderung und Gleichstellung
Bei einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung ergeben sich spezifische Ansprüche, darunter die Möglichkeit einer leidensgerechten Beschäftigung. Der Weg zur Gleichstellung ist jedoch kein Automatismus.
Besonderer Kündigungsschutz
Mit einem Schwerbehindertenausweis oder als Gleichgestellter genießt man nach Ablauf der Probezeit besonderen Kündigungsschutz (§§168 ff. SGB IX). Bevor der Arbeitgeber kündigen darf, muss er die Zustimmung des Integrationsamtes einholen. Dieser Schutz gilt unabhängig von der Betriebsgröße, auch in kleinen Unternehmen. Ausgenommen sind Aufhebungsverträge, befristete Arbeitsverhältnisse, Anfechtungen wegen arglistiger Täuschung oder Kündigungen seitens des Arbeitnehmers.
Lesen Sie auch: MS-Medikamente im Detail erklärt
Zusatzurlaub
Schwerbehinderte Menschen haben einen gesetzlichen Anspruch auf fünf Arbeitstage bezahlten Zusatzurlaub pro Jahr (§208 SGB IX). Verteilt sich die Arbeitszeit auf mehr oder weniger Tage, verändert sich der Anspruch entsprechend. Tarifliche oder betriebliche Regelungen können einen längeren Zusatzurlaub gewähren. Der Anspruch gilt anteilig für das Urlaubsjahr, in dem der Schwerbehindertenausweis erteilt wurde.
Erwerbsminderungsrente
Für Menschen, die aufgrund von MS arbeitsunfähig werden, gibt es verschiedene Optionen, von Krankengeld über Pflegeleistungen bis hin zur Erwerbsminderungsrente. Die Erwerbsminderungsrente ist oft ein zentrales Thema im Verlauf von MS. Die strikten Kriterien, die von neurologischen Gutachtern beurteilt werden, machen eine genaue Prognose schwierig. Wenn man trotz Maßnahmen zur Teilhabe nicht voll erwerbsfähig bleibt, gibt es eine Rente auf Zeit, die sogenannte befristete Erwerbsminderungsrente.
Grad der Behinderung (GdB)
Um einen GdB für MS feststellen zu lassen, muss ein Antrag beim zuständigen Sozialamt des Landkreises oder der kreisfreien Stadt gestellt werden. Das Ausfüllen ist meist unkompliziert. Es ist wichtig, alle behandelnden Ärztinnen anzugeben. Das Sozialamt fordert dann Befundberichte an, die nach der Versorgungs- und Medizinverordnung bewertet werden. Die Feststellung des GdB bei MS kann eine Herausforderung sein, da die Richtlinien in den letzten Jahren strenger geworden sind. Besonders bei einem GdB von 50 erfolgt eine besondere Prüfung. Für MS-Patientinnen sind die Merkzeichen G (eingeschränktes Gehvermögen) und AG von Bedeutung. Das Merkzeichen G kann bei einer GdB von mindestens 50 für die unteren Gliedmaßen oder die Lendenwirbelsäule zuerkannt werden.
Umgang mit der Diagnose am Arbeitsplatz
Es gibt keine Auskunftspflicht über chronische Erkrankungen, wenn dadurch keine Gefahr für sich selbst oder andere besteht. Informieren muss man den Arbeitgeber, wenn man aufgrund der Erkrankung dauerhaft gehindert ist, seine Tätigkeit gemäß dem Arbeitsvertrag auszuführen. Es ist aber sinnvoll, die MS offen anzusprechen, um beispielsweise ungeklärte Ideen bei häufiger Arbeitsunfähigkeit auszuräumen. Vor allem bei einer Schwerbehinderung kann offene Kommunikation sinnvoll sein, weil dadurch zusätzliche Ansprüche auf Nachteilsausgleiche entstehen. Es ist ratsam, bis zum Ablauf der Probezeit zu warten.
Tipps für den Umgang mit der Diagnose
- Offene Kommunikation: In einer vertrauten Umgebung ist es eher möglich, offen über die Erkrankung zu sprechen und deutlich zu machen, was die Diagnose bedeutet und was sie nicht bedeutet.
- Vorsicht: In einem eher „problematischen“ Arbeitsverhältnis, wo es vielleicht schon Dissonanzen gibt, ist Vorsicht geboten.
- Beratung: Betroffene können ein Gespräch mit dem Arbeitgeber führen, wie der Arbeitsplatz gestaltet werden kann, um zu unterstützen und Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden. Man sollte genau wissen, was man fordern kann und sich beraten lassen.
- Unterstützung: Betriebsrat, Personalrat oder die Schwerbehindertenvertretung können eingeschaltet werden.
Arbeitsrechtliche Aspekte im Detail
Arzttermine
Arzttermine gelten grundsätzlich als Privatsache und dürfen nicht während der Arbeitszeit wahrgenommen werden. Betroffene müssen sich bemühen, Termine außerhalb der Arbeitszeit zu erhalten. Es besteht aber das Recht, bezahlt freigestellt zu werden, wenn ärztlich bescheinigt wird, dass das nicht möglich ist. Bei Teilzeitbeschäftigten oder bei Gleitzeitregelung werden oft schärfere Anforderungen gestellt, die versäumte Arbeitszeit nachzuholen.
Lesen Sie auch: Wie man MS vorbeugen kann
Arbeitszeitreduzierung
Jeder hat das Recht auf Verringerung der Arbeitszeit - ohne Angabe von Gründen. Sofern keine betrieblichen Gründe dagegensprechen, müssen Arbeitgeber dem zustimmen und Vorkehrungen treffen, um diesem Wunsch zu entsprechen. Die Rückkehr in die Vollzeitbeschäftigung ist nur möglich, wenn der Arbeitgeber zustimmt. Mit der sogenannten Brücken-Teilzeit kann die Verringerung der Arbeitszeit für einen bestimmten Zeitraum beantragt werden.
Kündigung
Eine Kündigung ist grundsätzlich möglich. Eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit muss der Arbeitgeber zumindest für ein Jahr hinnehmen, oft auch länger. Es muss eine Prognose für die Zukunft mithilfe ärztlicher Unterlagen gestellt werden. Wenn diese Prognose dauerhaft schlecht ist, kann es zur Beendigung kommen. Allerdings muss abschließend immer zwischen den Rechten der Beteiligten abgewogen werden (z.B. Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Unterhaltsverpflichtungen etc.). Grundsätzlich sollte man sich gegen eine Kündigung immer wehren; das geht vor dem Arbeitsgericht (Dreiwochenfrist ab Zugang der Kündigung beachten!). In vielen Fällen kann eine Abfindung erreicht werden.
Leidensgerechter Arbeitsplatz
Es gibt das Recht auf einen „leidensgerechten Arbeitsplatz“. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber im Rahmen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten verpflichtet ist, dem Betroffenen das Arbeiten zu ermöglichen, so wie es die Erkrankung erfordert. In größeren Betrieben gibt es einen Schwerbehindertenbeauftragten, auch die Personalvertretung kann helfen. Auch das Integrationsamt kann unterstützen.
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)
Bei längerer Arbeitsunfähigkeit gibt es ein BEM (Betriebliches Eingliederungsmanagement): hier wird ausprobiert, wie bei stufenweiser Anpassung der Arbeitszeit die Arbeit „geschafft“ werden kann. Steht eine andere, besser passende Stelle zur Verfügung, können sich allerdings Verschlechterungen bei der Vergütung ergeben.
Diskriminierung
Es gibt gesetzliche Verbote der Diskriminierung wie im AGG oder SGB IX. Eigentlich ist das in erster Linie Aufgabe des Arbeitgebers. Auch soll die Schwerbehinderten- oder Personalvertretung aufpassen, dass so etwas nicht passiert. Das Arbeitsgericht kann auch Maßnahmen anordnen; aber es ist letztlich immer eine Frage des Betriebsklimas.
Lesen Sie auch: MS und Rückenschmerzen: Ein Überblick
Weiterbildung und Karriere
Eine MS-Erkrankung steht einer Weiterbildung oder weiterer Schritte auf der Karriereleiter grundsätzlich nicht entgegen. Betroffene haben unter bestimmten Umständen Ansprüche auf Weiterbildung, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten oder zu verbessern. Hier hilft das Integrationsamt auch mit Beratungsangeboten.
Zusätzliche Leistungen und Zuschüsse
- Fünf Urlaubstage mehr im Jahr, wenn eine Schwerbehinderung von mindestens 50 % vorliegt.
- Diverse Zuschüsse und Sachleistungen zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit bzw. des Arbeitsplatzes: Trainingsmaßnahmen, Arbeitsassistenz und Rehabilitation.
Finanzielle Unterstützung
Krankengeld
Bei einer Krankschreibung erhält man weiter vollen Lohn vom Arbeitgeber. Sollte man länger als 6 Wochen am Stück krankgeschrieben sein, springt bei gesetzlich Versicherten die Krankenkasse ein: Man bekommt Krankengeld. Dieses beträgt 70 % des Bruttolohns, jedoch höchstens 90 % des Nettolohns. Einmalzahlungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld werden berücksichtigt. Man muss Krankschreibungen der Krankenkasse gegenüber lückenlos nachweisen. Anspruch auf Krankengeld besteht auch, wenn man Arbeitslosengeld (ALG1) bezieht. Innerhalb von drei Jahren erhält man maximal 78 Wochen Krankengeld für ein und dieselbe Erkrankung. Geht man danach mindestens sechs Monate arbeiten, erneuert sich der Anspruch.
Aussteuerung
Bist man nach Ablauf der maximalen Bezugszeit des Krankengeldes nicht arbeitsfähig, kommt es zur Aussteuerung. Die Krankenkasse informiert einen rund 2 Monate, bevor dieser Fall eintritt, denn dann endet auch die Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Um in dieser Situation finanziell abgesichert zu sein, kann Arbeitslosengeld beantragt werden. Dafür benötigt man die Mitteilung der Krankenkasse über die Aussteuerung.
Erwerbsminderungsrente
Wenn festgestellt wird, dass man nicht mehr als drei Stunden pro Tag arbeitsfähig ist, kann man Erwerbsminderungsrente beantragen. Zuständig ist die Deutsche Rentenversicherung. Nach Genehmigung bekommt man 6 Monate später die erste Zahlung. Befristet zunächst auf 3 Jahre, denn danach wird festgestellt, ob man wieder einer Arbeit nachgehen kann.
Altersrente
Natürlich hat man auch Anspruch auf „normale“ Rente, wenn man die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt (Mindestalter und Beitragsjahre). Sollte bei einem eine Schwerbehinderung festgestellt worden sein, kann man Altersrente ohne Abschläge mit 65 Jahren beantragen, mit Abschlägen bereits mit 62. Seit 01. Januar 2023 sind die Hinzuverdienstbeschränkungen für die Altersrente abgeschafft und für die Erwerbsminderungsrente massiv angehoben worden. Bei voller Erwerbsminderung kann man so 17.823,75 €, bei teilweiser sogar 35.647,50 € dazuverdienen. Voraussetzung ist, dass die Beschäftigung oder Selbstständigkeit eine bestimmte Arbeitszeit pro Tag nicht übersteigt: Diese beträgt max. 3 Stunden bei voller Erwerbsminderung bzw. max.
tags: #multiple #sklerose #arbeitsrecht