Die Diagnose der Multiplen Sklerose (MS) ist ein komplexer Prozess, der eine sorgfältige Abwägung verschiedener Faktoren erfordert. Da es keinen einzelnen, eindeutigen Test für MS gibt, wird die Diagnose in der Regel als Ausschlussdiagnose gestellt. Das bedeutet, dass andere mögliche Ursachen für die Symptome des Patienten ausgeschlossen werden müssen, bevor die Diagnose MS in Betracht gezogen werden kann. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die verschiedenen diagnostischen Verfahren, die zur Abklärung von MS eingesetzt werden, und beleuchtet die Bedeutung einer frühzeitigen und präzisen Diagnose für eine optimale Behandlung.
Einleitung
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die das Gehirn und das Rückenmark betrifft. Die Symptome der MS können sehr vielfältig sein und von Mensch zu Mensch unterschiedlich verlaufen. Zu den häufigsten Symptomen gehören Müdigkeit, Sehstörungen, Gefühlsstörungen, Koordinationsprobleme, Muskelkrämpfe und Blasenfunktionsstörungen. Da diese Symptome auch bei vielen anderen Erkrankungen auftreten können, ist die Diagnose der MS oft eine Herausforderung.
Anamnese und klinische Untersuchung
Der erste Schritt bei der Diagnostik der MS ist eine ausführliche Anamnese, in der der Arzt die Krankheitsgeschichte des Patienten erfragt. Dabei werden die aktuellen Symptome, frühere Erkrankungen und der zeitliche Verlauf der Beschwerden erfasst. Es ist wichtig, dass der Patient alle relevanten Informationen mitteilt, um dem Arzt ein umfassendes Bild der Situation zu vermitteln.
Im Anschluss an die Anamnese erfolgt eine gründliche neurologische Untersuchung. Dabei werden verschiedene Funktionen des Nervensystems überprüft, wie z. B. die Sehfähigkeit, der Gleichgewichtssinn, die Reflexe, die Muskelkraft, die Koordination und die Sensibilität. Die neurologische Untersuchung kann Funktionsbeeinträchtigungen des Nervensystems aufdecken, selbst wenn diese vom Patienten noch nicht bewusst wahrgenommen werden.
Neurologische Untersuchung im Detail
Die neurologische Untersuchung umfasst eine Reihe von Tests, die verschiedene Aspekte der neurologischen Funktion beurteilen:
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- Kraft und Feinmotorik: Der Arzt prüft die Muskelkraft in Armen und Beinen sowie die Fähigkeit zu feinen, präzisen Bewegungen. Dies kann durch Handdrücken, Fingerspreizen gegen Widerstand oder Arm- und Beinvorhalteversuche erfolgen.
- Sensibilität: Die Sensibilität für Berührung, Schmerz, Temperatur und Vibration wird untersucht. Der Arzt kann dazu spitze oder stumpfe, warme oder kalte Gegenstände verwenden. Auch die Tiefensensibilität, also die Wahrnehmung von Lage und Bewegung der Körperteile, wird getestet.
- Koordination: Die Fähigkeit zu koordinierten Bewegungen wird beurteilt, z. B. durch den Finger-Nase-Versuch, bei dem der Patient mit dem Finger die eigene Nasenspitze berühren soll.
- Gleichgewicht: Das Gleichgewicht wird im Stehen und Gehen überprüft, sowohl mit offenen als auch mit geschlossenen Augen. Der Patient kann auch aufgefordert werden, auf einer Linie zu balancieren oder auf Zehenspitzen oder Fersen zu gehen.
- Funktion der Hirnnerven: Die Funktion der zwölf Hirnnerven, die für verschiedene sensorische und motorische Funktionen im Kopfbereich zuständig sind, wird getestet. Dies kann durch Überprüfung der Augenbewegungen, des Gesichtsausdrucks, des Schluckvermögens und anderer Funktionen erfolgen.
Apparative Diagnostik
Neben der Anamnese und der klinischen Untersuchung sind verschiedene apparative Untersuchungen erforderlich, um die Diagnose MS zu sichern oder andere mögliche Ursachen für die Symptome auszuschließen. Zu den wichtigsten Untersuchungsmethoden gehören:
- Magnetresonanztomographie (MRT)
- Liquoruntersuchung (Lumbalpunktion)
- Evozierte Potentiale (EP)
- Elektrophysiologie
Magnetresonanztomographie (MRT)
Die Magnetresonanztomographie (MRT), auch Kernspintomographie genannt, ist ein bildgebendes Verfahren, das detaillierte Bilder des Gehirns und des Rückenmarks liefert. Mit Hilfe eines künstlich erzeugten Magnetfeldes können Lage, Verteilung und Anzahl von Entzündungen (sogenannte Herde) im ZNS dargestellt und nachgewiesen werden. Durch die Gabe eines Kontrastmittels kann bei der Untersuchung beurteilt werden, ob es sich um frische, aktive Entzündungen handelt. Alte, inaktive Herde nehmen kein Kontrastmittel auf.
Die MRT ist ein wichtiges Instrument zur Diagnose der MS, da sie die für die Erkrankung typischen Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark sichtbar machen kann. Allerdings können solche Herde auch bei anderen Erkrankungen auftreten, so dass die MRT-Befunde immer im Zusammenhang mit den klinischen Symptomen und anderen Untersuchungsergebnissen interpretiert werden müssen.
Darüber hinaus zeigen sich Entzündungsherde in einer spezifischen Struktur des Gehirns, dem Corpus callosum, das sonst bei (fast) keiner anderen entzündlichen Erkrankung betroffen ist. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Interpretation der MRT-Aufnahmen mit Vorsicht erfolgen muss, da erkennbare Herde nicht zwangsläufig klinische Symptome bedeuten. So können im Extremfall Patienten mit vielen Herden wenig oder auch keine klinischen Symptome haben und Patienten mit wenig Herden sehr krank sein.
Liquoruntersuchung (Lumbalpunktion)
Bei der Lumbalpunktion wird Liquor (Nervenwasser) aus dem Wirbelkanal entnommen. Dann wird im Labor geprüft, ob sich im Liquor für MS typische Zell- und Eiweißverbindungen (oligoklonale Banden) finden. Die Untersuchung des Liquors ist unabdingbar, um andere Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik auszuschließen.
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Die Liquordiagnostik bleibt ein unverzichtbarer Baustein in der Diagnostik der MS, besonders auch um die MS von anderen Erkrankungen abzugrenzen, was die MRT nicht eindeutig leisten kann. Kern der Liquordiagnostik ist der Nachweis einer speziellen immunologischen Reaktion. Während allgemeinen Liquorparameter meist normal sind (Protein, Laktat, Glukose normal, Zellzahl allenfalls diskret erhört) zeigen sich bei den meisten MS-Patienten sog. oligoklonale Banden, die sich im Serum nicht zeigen dürfen. In der verfeinerten Analytik kann ferner die sogenannte intrathekale IgG-Synthese bestimmt werden, die sehr spezifisch für autoimmunologische Prozesse und eine MS ist, diese aber nicht mit letzter Sicherheit beweist. Ergänzend kann die sog. MRZ-Reaktion (Masern, Röteln, Zoster) untersucht werden. Zeigt sich im Liquor eine eigenständige Antikörperproduktion (gemessen am sog. Antikörper-Index) für eines oder mehrere Viren, spricht dies ebenfalls sehr für eine MS. Umgekehrt kann ein komplett unauffälliger Liquor eine MS nicht vollständig ausschließen.
Vor der Untersuchung prüft die Ärztin oder der Arzt, ob die Blutgerinnung normal ist. Teile ihm unbedingt mit, wenn du Medikamente einnimmst, die die Blutgerinnung fördern oder hemmen. Nur so ist es möglich, Blutungen vorzubeugen, die die Nerven im Bereich der Einstichstelle schädigen könnten. Hattest du bereits eine Lumbalpunktion? Informiere deine Ärztin oder deinen Arzt, falls es bei der vorangegangenen Nervenwasserentnahme Besonderheiten gegeben hat. Teile deiner Ärztin oder deinem Arzt mit, wenn du eine Wirbelsäulenverletzung oder -operation hattest oder Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule vorliegen. Denn Verwachsungen und Vernarbungen können das Einführen der Nadel erschweren oder sogar unmöglich machen. Liegt ein Hirntumor vor? Hattest du bereits früher eine Erkrankung des Gehirns? Informiere Deinen Neurologen auch über vorliegende Erkrankungen, die mit einem erhöhten Hirndruck einhergehen.
Die Lumbalpunktion wird im Sitzen oder Liegen durchgeführt. Zunächst findet eine örtliche Betäubung statt, und die Einstichstelle wird desinfiziert. Anschließend sucht die Ärztin oder der Arzt eine Stelle zwischen zwei Wirbelkörpern der Lendenwirbelsäule. In Höhe des zweiten/dritten oder des dritten/vierten Lendenwirbels schiebt er eine spezielle Hohlnadel bis in den Wirbelkanal vor. Dann entnimmt er eine kleine Menge Nervenwasser aus dem Rückenmarkskanal. Mit dem Nervenwasser wird auch eine aktuelle Blutprobe ins Labor geschickt, da die Liquor-Werte nur in Zusammenhang mit den Blutwerten richtig beurteilt werden können.
Die Lumbalpunktion ist ein Routine-Eingriff. Entgegen häufigen Ängsten kann es bei einer fachgerechten Durchführung nicht zu einer Verletzung des Rückenmarks kommen. Der Grund: Das Rückenmark endet bei Erwachsenen bereits in Höhe des ersten Lendenwirbelkörpers - also oberhalb der Stelle, an der die Nadel in den Wirbelkanal eingeführt wird.
Die Lumbalpunktion dauert nur wenige Minuten und ist oft nicht unangenehmer als eine Blutabnahme. Vereinzelt kommt es zu einem kurzen Schmerz, wenn die Nadel Nervenfasern streift. Im Anschluss an die Untersuchung kann das sogenannte postpunktionelle Syndrom auftreten. Dabei kommt es zu Kopfschmerzen und Übelkeit. Ursache ist der Verlust von Nervenwasser: Neben der entnommenen Menge Nervenwasser sickert durch die kleine Verletzung auch im Anschluss an die Lumbalpunktion noch ein wenig Liquor ins Gewebe nach, so dass ein vorübergehender "Mangel" entsteht. Du kannst das Risiko von Nebenwirkungen senken, indem du nach der Punktion für einige Stunden ruhig und möglichst flach auf dem Rücken liegen bleibst und ausreichend trinkst.
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Evozierte Potentiale (EP)
Da MS die Weiterleitung von Impulsen verlangsamt oder verhindert, werden die Leitgeschwindigkeit und -fähigkeit mit sogenannten evozierten Potenzialen (EP) gemessen. Mit evozierten Potenzialen lassen sich die Sehnerven überprüfen (Visuell evozierte Potenziale = VEP), die Gefühlswahrnehmung (Somato-sensible evozierte Potenziale = SEP) und das motorische System (motorische evozierte Potenziale = MEP). Die Messung der evozierten Potenziale ist in der Regel schmerzfrei.
Bei dieser Untersuchung werden bestimmte Nervenbahnen durch gezielte Reize aktiviert. Die elektrische Aktivität, die dadurch im Gehirn entsteht, wird mit Elektroden auf der Kopfhaut gemessen. Verzögerungen oder Ausfälle in der Nervenleitgeschwindigkeit können auf eine Schädigung der Myelinscheide hindeuten, die die Nervenfasern umgibt und für eine schnelle Signalübertragung wichtig ist.
Elektrophysiologie
Die Elektrophysiologie, als eine Teilbereich der Neurophysiologie analysiert die Funktionalität elektrochemischer Signalübertragungen im Nervensystem. Ein zentrales Gebiet ist dabei die elektrische und chemische Interaktion und Kommunikation zwischen Nervenzellen und Muskeln.
Differentialdiagnostik
Ein wichtiger Aspekt bei der Diagnostik der MS ist die Differentialdiagnostik, also die Abgrenzung der MS gegenüber anderen Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können. Dazu gehören beispielsweise:
- Borreliose
- HIV-Infektion
- Sarkoidose
- Gefäßerkrankungen
- Stoffwechselerkrankungen
- Tumorerkrankungen
Um diese Erkrankungen auszuschließen, sind in der Regel weitere Untersuchungen erforderlich, wie z. B. Blutuntersuchungen, Röntgenaufnahmen oder andere bildgebende Verfahren.
Diagnosekriterien nach McDonald
Zur Diagnose der MS werden die sogenannten McDonald-Kriterien herangezogen. Diese Kriterien wurden im Laufe der Jahre mehrfach überarbeitet und verfeinert, um die Diagnosegenauigkeit zu verbessern. Die McDonald-Kriterien berücksichtigen sowohl die klinischen Symptome als auch die Ergebnisse der apparativen Untersuchungen, insbesondere der MRT.
Die Diagnose MS muss nachweisen, dass die krankheitsbedingten Störungen sowohl an verschiedenen Stellen des zentralen Nervensystems (sog. „Herde“) als auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten (sog. „Schübe“) auftreten. Ein Schub wird als objektiv erfassbarer, neu auftretender neurologischer Ausfall oder als eine gravierende Verschlechterung eines bereits bestehenden Ausfalls für die Dauer von mindestens 24 Stunden definiert. Schübe zeichnen sich durch Symptome wie Gangunsicherheiten, Gefühlsstörungen oder Sehverschlechterungen aus.
Eine gesicherte MS liegt beispielsweise vor, wenn zeitlich und räumlich getrennt mindestens zwei Schübe und zwei Herde im ZNS nachgewiesen werden können oder wenn sich statt eines zweiten Schubes in einer MRT-Untersuchung im Vergleich zur Voruntersuchung ein oder mehrere neue Herde zeigen. In der neuesten Fassung von 2017 wurden die Diagnose-Kriterien verfeinert und vereinfacht, sodass eine Multiple Sklerose nun bereits nach dem ersten Schub diagnostiziert werden kann.
Radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) und klinisch isoliertes Syndrom (KIS)
In einigen Fällen zeigen Patienten in der MRT-Untersuchung Entzündungsherde, die auch bei einer MS zu finden sind, ohne dass sie klinische Symptome haben. Dies wird als radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) bezeichnet. In anderen Fällen tritt eine Episode von neurologischen Beschwerden auf, zum Beispiel eine Sehnervenentzündung, die mindestens 24 Stunden andauert. Dies wird als klinisch isoliertes Syndrom (KIS) bezeichnet.
Bei etwa 50-60% der Betroffenen geht das RIS oder KIS im Verlauf in eine MS über. Dies ist kein Grund zur Beunruhigung. Durch regelmäßige Verlaufskontrollen und eine engmaschige Beobachtung kann ein Fortschreiten oder der Übergang in eine MS frühzeitig entdeckt und entsprechend behandelt werden.
MS bei Kindern und Jugendlichen
Normalerweise tritt die Multiple Sklerose (MS) bei Erwachsenen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr erstmals auf. Nur bei wenigen Betroffenen zeigen sich die ersten Krankheitszeichen schon im Kindes- oder Jugendalter. Bei Kindern und Jugendlichen werden die gleichen Krankheitszeichen beobachtet wie bei Erwachsenen. Hierzu gehören Gefühls-, Seh- oder Gleichgewichtsstörungen sowie motorische Beeinträchtigungen, wobei üblicherweise beim ersten Schub nur ein Symptom auftritt. Da die Anzeichen so unterschiedlich sein können, wird die MS auch als „Krankheit der 1000 Gesichter“ bezeichnet. Die Beschwerden können von Müdigkeit, Minderung der Konzentrationsfähigkeit und Kopfschmerzen begleitet werden. Im Unterschied zur MS bei Erwachsenen äußert sich die Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen fast immer in Schüben. Zwischen diesen Schüben bilden sich die Symptome zurück - teilweise sogar vollständig. Allerdings treten diese Schübe häufiger auf als bei Erwachsenen, sie folgen dichter aufeinander.
Für den Nachweis der MS sind eine MRT und möglicherweise auch eine Untersuchung des Liquors notwendig. Eine Ultraschalluntersuchung des Bauchs, eine Untersuchung der Augen und ein EEG werden meist ebenfalls durchgeführt. Ergeben sich keine Hinweise auf eine andere Erkrankung, wird schließlich die Ausschluss-Diagnose „Multiple Sklerose“ gestellt.
Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose
Eine frühzeitige Diagnose der MS ist entscheidend, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Mit einer zeitnah einsetzenden Immuntherapie kann das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt und die Lebensqualität der Patienten verbessert werden. Daher ist es wichtig, dass Menschen mit möglichen Symptomen der MS frühzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, um eine umfassende Diagnostik und eine optimale Behandlung zu erhalten.
Leben mit der Diagnose
Die Diagnose Multiple Sklerose heißt nicht, dass Sie Ihren Alltag komplett umstellen müssen. Das wichtigste ist, dass Sie Neuerungen im Alltag gut für sich annehmen können und kontinuierlich umsetzen. Besonders wichtig sollte Ihnen sein auf sich selbst und das eigene Befinden noch mehr zu achten und Ihre Bedürfnisse entsprechend anzupassen.
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