Blasenfunktionsstörung bei Multipler Sklerose: Ursachen und Therapie

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die nicht ansteckend ist und sehr unterschiedlich verlaufen kann. Zu den oft unterschätzten Symptomen gehören Blasenfunktionsstörungen, die die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen können.

Ursachen von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Blasenfunktionsstörungen bei MS entstehen durch Schädigungen am Rückenmark, die die Ansteuerung der Blase stören. Bei MS sind besonders die Nervenhüllen betroffen, die die Nervenstränge vor dem umgebenden Gewebe schützen. Der Körper greift diese Hüllen an, was zu Entzündungen und Vernarbungen an den Nervenbahnen führt. Nervensignale werden dadurch verlangsamt oder gar nicht mehr weitergeleitet.

Als neurogene Blasenfunktionsstörungen (nBFS) werden Dysfunktionen der Harnblase bezeichnet, die durch eine Fehlfunktion oder Verletzung des Nervensystems verursacht werden. Dies kann durch Rückenmarkverletzungen, Spina bifida, Multiple Sklerose, Schlaganfall oder Morbus Parkinson bedingt sein.

Neurogene Detrusorhyperaktivität (NDO)

Die neurogene Detrusorhyperaktivität (NDO) ist definiert als Hyperaktivität des Detrusors aufgrund einer relevanten neurologischen Grunderkrankung, die eine Harninkontinenz verursachen kann. Eine Rückenmarkverletzung (RMV) kann großen Einfluss auf die Speicher- und Ausscheidungsfunktion der Blase haben und zu einer Unter- oder Überaktivität der Blasenwand und der Sphinktere führen.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD)

Typisch für die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) sind ein häufig unterbrochener Harnstrahl, Startschwierigkeiten bei der Miktion sowie Pollakisurie mit Restharnbildung. Dabei kontrahiert die Blase unwillkürlich (Detrusorüberaktivität, DÜ) und versucht, häufiger Urin auszuscheiden als normal. Gleichzeitig erschlafft der Sphinkter nicht ausreichend, wodurch die Urinausscheidung eingeschränkt ist.

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Symptome von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Bei MS-Patienten ist die Blase neben den Augen oft das erste Organ, an dem die Erkrankung deutlich wird. Neurogene Blasenfunktionsstörungen sowie eine überaktive oder spastische Blase können sogar alleiniges Erstsymptom sein. Dies äußert sich durch:

  • Häufiges Wasserlassen (Pollakisurie)
  • Gesteigerten Harndrang
  • Dranginkontinenz

Nach einer Erkrankungsdauer von ca. zehn Jahren haben die meisten MS-Betroffenen begleitende Blasenfunktionsstörungen mit ungewolltem Harnverlust, Inkontinenz oder einer unvollständigen Blasenentleerung mit Verbleiben von Restharn. Möglich ist auch eine Harnsperre bzw. Harnverhalt.

Weitere Symptome können sein:

  • Schmerzen und Brennen beim Wasserlassen
  • Schmerzen im Unterbauch durch eine Verkrampfung der Blasenmuskulatur
  • Schlafstörungen durch häufiges nächtliches Wasserlassen (Nykturie)

Diagnostik von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Eine Blasenschwäche im Rahmen von Multipler Sklerose sollte möglichst frühzeitig sorgfältig abgeklärt werden. Es ist wichtig, dass MS-Patienten sich schon im Frühstadium fachärztlich betreuen lassen. Die Diagnostik umfasst:

  • Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte und der aktuellen Beschwerden
  • Körperliche Untersuchung: Fokussierte neurologische Untersuchung
  • Miktionstagebuch: Erfassung von Miktionsfrequenz und funktionellem Blasenvolumen
  • Harnanalyse: Abklärung des Vorliegens von Harnwegsinfekten
  • Ultraschalluntersuchung des Harntraktes: Ausschluss von Komplikationen wie Blasensteinen und RH-Messungen
  • Urodynamische Untersuchung: Harnstrahlmessung (Uroflow), Urethrozystoskopie, (Video-)Urodynamik mit Beckenboden-EMG
  • Nierensonografie: Bildliche Darstellung der Nieren
  • Laboruntersuchungen: Bestimmung von Kreatinin, Harnstoff und eventuell eine 24-Stunden-Kreatinin-Clearance und ein Furosemid-Isotopen-Nephrogramm

Therapie von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Die therapeutischen Maßnahmen orientieren sich an der zugrunde liegenden Pathophysiologie, den damit verbundenen Risikofaktoren, der klinischen Symptomatik und den individuellen Patientenbedürfnissen. Die Therapie zielt darauf ab, die Symptome zu lindern sowie die Funktion des unteren Harntraktes möglichst wiederherzustellen.

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Konservative Maßnahmen

  • Verhaltensänderungen: Veränderung des Lebensstils und Trinkverhaltens
  • Blasentraining: Planung der Toilettengänge, um die Zeiträume zwischen einzelnen Toilettengängen zu verlängern und mehr Kontrolle über den Harndrang zu erlangen.
  • Beckenbodentraining: Stärkung der Muskulatur, mit der der Urinfluss eingeleitet und angehalten wird.
  • Inkontinenzschutz: Vorlagen, Urinflaschen, intermittierende Katheterisierung
  • Hilfsmittel: Kondomurinale, Einlagen und Inkontinenzwindelhosen

Medikamentöse Therapie

  • Anticholinergika (Antimuskarinika): Wirksame Therapieoption für die überaktive Blase, die die Lebensqualität der Patienten verbessern kann. Bei der Verordnung ist eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich.
  • Alphablocker: Werden in Kombination mit Detrusor-tonisierenden Parasympathomimetika (z.B. Distigmin) zur Behandlung des hypokontraktilen Detrusors u/o RH-Bildung eingesetzt.
  • Duloxetin: Kann bei einem hypoaktiven Sphinkter eingesetzt werden.

Minimalinvasive Therapien

  • Injektion von Botulinumtoxin A: Verbessert die urodynamischen und subjektiven Parameter sowie die Lebensqualität der Betroffenen deutlich.
  • Sakrale Neuromodulation (SNM): Hierbei gibt ein im oberen Gesäßbereich implantierter Schrittmacher über eine Elektrode schwache elektrische Impulse an die Sakralnerven ab.

Chirurgische Eingriffe

Chirurgische Eingriffe werden erwogen, wenn konservative Maßnahmen versagt haben.

  • Augmentation-Zystoplastik: Anatomische Vergrößerung der Blasenkapazität mit Hilfe von Darmsegmenten bei therapierefraktärer Detrusorhyperaktivität.
  • Sphinkterotomie: Einschnitt des Schließmuskels zur Verbesserung der Blasenentleerung.
  • Blasen(teil)entfernung mit Harnableitung: Ultima Ratio bei schweren, therapieresistenten Fällen.

Spezifische Therapieansätze je nach Blasenfunktionsstörung

  • Detrusorhyperaktivität: Blasentraining, Anticholinergika, chronische Sakralwurzelstimulation, intravesikale Botulinumtoxin-Injektion, Blasenaugmentation
  • Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie: Einmalkatheterismus, antimuskarinerge Therapie, intravesikale Botulinumtoxin-Injektion, sakrale Vorderwurzelstimulation, Sphinkterotomie, Blasenaugmentation
  • Hypokontraktiler Detrusor: Vorübergehende suprapubische Harndauerableitung, Cholinergika, Alphablocker, chronische Sakralwurzelstimulation, sauberer Einmalkatheterismus
  • Hypoaktiver Sphinkter: Beckenbodentraining, Biofeedbacktraining, Duloxetin, artifizielles Sphinktersystem, transurethrale Unterspritzung des Sphinkters mit sogenannten „Bulking agents“

Psychosoziale Aspekte

Menschen mit nBFS können durch ihre Harninkontinenz und den Uringeruch Schuldgefühle, Depression und geringes Selbstwertgefühl entwickeln. Patienten mit überaktiver Blase schränken möglicherweise ihre sozialen Aktivitäten ein, weil sie Angst vor Inkontinenz, Pollakisurie und Toilettensuche entwickeln (soziale Isolation).

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