Multiple Sklerose: Ursachen, Entzündungsherde und aktuelle Forschung

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Sie ist gekennzeichnet durch Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark, die zu vielfältigen Symptomen führen können. Obwohl die MS seit Jahrzehnten erforscht wird, sind die genauen Ursachen und Mechanismen, die zum Ausbruch der Krankheit führen, noch nicht vollständig geklärt.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose (MS), auch Encephalomyelitis disseminata (ED) genannt, ist eine der häufigsten Erkrankungen des zentralen Nervensystems. In Deutschland sind schätzungsweise 280.000 Menschen an MS erkrankt, wobei jedes Jahr mehr als 15.000 Personen die Erstdiagnose erhalten. Die meisten Betroffenen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, aber auch Kinder und Jugendliche können betroffen sein, wobei Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer.

MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise körpereigenes Nervengewebe angreift. Dies führt zu Entzündungen und Schädigungen der Nervenfasern und ihrer schützenden Myelinschicht. Die Myelinschicht ist für die schnelle und reibungslose Übertragung von Nervenimpulsen verantwortlich. Werden die Nervenfasern beschädigt, können Informationen nicht mehr einwandfrei übertragen werden.

Die MS ist nicht ansteckend, nicht zwangsläufig tödlich, kein Muskelschwund und keine psychische Erkrankung. Auch die häufig verbreiteten Vorurteile, dass MS in jedem Fall zu einem Leben im Rollstuhl führt, sind so nicht richtig. Jede Multiple Sklerose verläuft individuell.

Charakteristische Entzündungsherde bei MS

Charakteristisch für die MS sind klar abgegrenzte Entzündungsherde (Läsionen) im Gehirn und im Rückenmark. Diese Läsionen sind meistens sichtbar und können in der Magnetresonanztomografie (MRT) gut dargestellt werden. Sie befinden sich vor allem in der weißen Substanz des Gehirns.

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Je nachdem, welcher Bereich des Nervensystems von diesen Entzündungen betroffen ist, entstehen unterschiedliche Beschwerden und Symptome. So können Lähmungen, Empfindungs- und Sehstörungen, aber auch Koordinations- und Gedächtnisprobleme auftreten. In vielen Fällen treten die Beschwerden in Schüben auf, die sich mit nahezu beschwerdefreien Zeiten ablösen.

Peripher getriebene Entzündungsprozesse

Eine Form der Entzündung bei MS ist der peripher getriebene Entzündungsprozess. Hierbei gelangen Entzündungszellen, sogenannte Lymphozyten, aus den Außenbereichen des Gehirns über die beschädigte Blut-Hirn-Schranke in das ZNS. Dort zerstören sie die Schutzschicht der Nervenfasern, das Myelin. Diese Schädigungen zeigen sich in Form von örtlich begrenzten Entzündungsherden. Folge dieser Entzündungsherde für Multiple Sklerose sind typische Krankheitsschübe.

Intrinsisch getriebene Entzündungsprozesse

Eine weitere Form der Entzündung bei MS ist der intrinsisch getriebene Entzündungsprozess. Intrinsisch bedeutet „von innen heraus“. Der Begriff beschreibt damit Entzündungsvorgänge, die bei geschlossener Blut-Hirn-Schranke innerhalb des ZNS stattfinden. Die an diesem Prozess beteiligten Entzündungszellen gehören zum angeborenen Immunsystem und befinden sich bereits im Inneren des ZNS. Folge sind kleinste Schädigungen, die sich aber im gesamten ZNS verteilen. Man spricht hier auch von „Mikroläsionen“.

Prinzipiell laufen beide Entzündungsprozesse bei Multipler Sklerose von Beginn der Erkrankung an parallel ab. Bei der schubförmig remittierenden MS (RRMS) überwiegen in den ersten Jahren die peripher getriebenen Entzündungsprozesse. Über die Jahre hinweg kann sich dieses Verhältnis jedoch ändern und den schleichenden Übergang von einer RRMS zur sekundär progredienten MS (SPMS) einleiten. Die SPMS ist dann durch eine anhaltende, intrinsisch getriebene Entzündung im ZNS gekennzeichnet.

Ursachen der Multiplen Sklerose

Die genauen Ursachen der MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass mehrere Faktoren zusammenwirken, um die Krankheit auszulösen. Mediziner sprechen deshalb von einem „multifaktoriellen“ Geschehen.

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Genetische Faktoren

Verschiedene Beobachtungen deuten auf eine genetische Komponente bei der Entstehung von MS hin. Zum einen kommt Multiple Sklerose in manchen Familien gehäuft vor. Zum anderen scheinen bestimmte genetische Konstellationen mit dem Auftreten von MS in Verbindung zu stehen. Im Blickpunkt stehen hier besonders die sogenannten Humanen-Leukozyten-Antigene (HLA). Sie spielen eine Rolle bei der Immunabwehr. Auch alle anderen genetischen Risikofaktoren, die wissenschaftlich bislang mit Multipler Sklerose in Verbindung gebracht wurden, hängen mit dem Immunsystem zusammen.

Zu einem gewissen Teil ist Multiple Sklerose also vererbbar - allerdings wird nicht die Erkrankung selbst vererbt, sondern nur die Neigung, an MS zu erkranken. Erst im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (vor allem Umweltfaktoren wie Infektionen) kommt es bei einigen Menschen zum Ausbruch der Krankheit.

Infektionen

Möglicherweise sind auch Infektionen mit Viren und Bakterien am Ausbruch von Multipler Sklerose beteiligt. Entsprechende Hinweise gibt es besonders zum Epstein-Barr-Virus (EBV), einem Vertreter der Herpes-Viren, der das Pfeiffersche Drüsenfieber verursacht.

Wie genau eine Infektion mit EBV (oder anderen Erregern) zur Entstehung von MS beiträgt, ist bislang nicht bekannt. Möglicherweise lösen die normalen Reaktionen des Immunsystems auf eine Infektion bei entsprechend veranlagten Menschen die Entstehung von MS aus.

Lebensstil und Umweltfaktoren

Umwelt- beziehungsweise bestimmte Lebensstil-Faktoren wirken möglicherweise ebenfalls bei der Entstehung von Multipler Sklerose mit. Ein ungesunder Lebensstil ist für sich genommen aber nicht ausreichend, um MS auszulösen.

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Ein kritischer Faktor bei der MS-Krankheit ist offenbar Rauchen. So haben Raucher im Vergleich zu Nichtrauchern ein höheres Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken. Zudem scheint Nikotin den Krankheitsverlauf zu verschlechtern.

Einen Mangel an Vitamin D - dem „Sonnenvitamin“ - diskutieren Wissenschaftler ebenfalls als möglichen Risikofaktor für Multiple Sklerose. Dieser Verdacht basiert auf der Beobachtung, dass es einen Zusammenhang zwischen MS und der geografischen Breite gibt: Je weiter man sich vom Äquator entfernt (in Richtung Nord- beziehungsweise Südpol), desto häufiger tritt Multiple Sklerose in der Bevölkerung auf. Das liegt eventuell an der abnehmenden Sonnen-Exposition: Je weiter entfernt vom Äquator die Menschen leben, desto weniger intensiv ist die Sonnen-Einstrahlung. Und je weniger Sonne auf die Haut fällt, desto weniger Vitamin D wird in der Haut produziert.

Weitere Faktoren

Das Geschlecht wirkt ebenfalls mit bei der Entstehung von MS. Frauen erkranken häufiger an Multipler Sklerose als Männer. Warum das so ist, weiß man bislang nicht.

Untersuchungen zufolge erhöhen eine fettreiche „westliche“ Ernährung und ein damit verbundenes Übergewicht das Risiko für MS. Als weitere mögliche beeinflussende Faktoren werden eine erhöhte Kochsalz-Zufuhr und die Darmflora diskutiert.

Die ethnische Zugehörigkeit scheint ebenfalls einen Einfluss zu haben: Beispielsweise ist Multiple Sklerose bei weißen Menschen deutlich häufiger anzutreffen als bei anderen Ethnien.

Fehlgeleitete Immunzellen und ihre Rolle bei MS

Ein wichtiger Aspekt der MS-Forschung ist die Rolle von fehlgeleiteten Immunzellen, insbesondere T- und B-Zellen, bei der Entstehung und dem Fortschreiten der Krankheit.

T-Zellen

T-Zellen sind essentiell für die Abwehr von Krankheitserregern. Sie erkennen Erreger, aktivieren die Immunantwort und lösen so die Zerstörung der schädlichen Zellen aus. Bei MS können T-Zellen jedoch Bestandteile des körpereigenen Hirngewebes erkennen und angreifen.

Forscher haben herausgefunden, dass aggressive T-Zellen zunächst mehrere Tage durch die peripheren Immunorgane wie Lymphknoten und Milz wandern, bevor sie in das Nervensystem eindringen. Offenbar erwerben die Zellen erst auf ihrem Weg die Fähigkeit, in das zentrale Nervensystem einzudringen.

Die Blut-Hirn-Schranke, die normalerweise das Nervensystem vor schädlichen Substanzen schützt, kann von diesen T-Zellen durchbrochen werden. Forscher haben beobachtet, wie T-Zellen die Blutgefäße verlassen und ins Hirngewebe eindringen. Dabei setzen sie sich an den Gefäßwänden fest und bewegen sich aktiv gegen den Blutstrom entlang der Gefäßwände, bevor sie sich durch die Gefäßwand zwängen.

Nachdem die T-Zellen die Blut-Hirn-Schranke durchbrochen haben, setzen sie ihre Suche im Umkreis der Blutgefäße fort, bis sie auf sogenannte Fresszellen stoßen. Erst nach dem Kontakt mit den Fresszellen beginnen die T-Zellen, entzündungsfördernde Botenstoffe auszuschütten und so den Angriff auf das Nervensystem einzuleiten.

Manche T-Zellen sind deutlich aggressiver als andere. Forscher haben herausgefunden, dass diese „speziellen“ T-Zellen, die ein Protein (MOG) auf der Oberfläche von Hirnzellen erkennen und attackieren, auch dann noch das Hirngewebe angreifen, wenn MOG fehlt. Dies liegt daran, dass diese T-Zellen auch noch auf ein zweites, völlig anderes Protein im Gehirn reagieren. Diese „doppelte Aktivierung“ von bestimmten T-Zellen könnte der Grund für ihre deutlich höhere Aggressivität sein.

B-Zellen

Anders als den T-Zellen wurde den B-Zellen bisher nur eine untergeordnete Rolle bei der Entstehung der MS eingeräumt. Neuere Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass B-Zellen eine viel wichtigere Rolle spielen als bisher angenommen.

In Tiermodellen konnte gezeigt werden, dass T-Zellen zwar das körpereigene Hirngewebe angreifen, dies jedoch nicht ausreicht, um die Krankheit auszulösen. Erst wenn B-Zellen vorhanden sind, kommt es zu einer Interaktion zwischen T- und B-Zellen, die die Antikörpermassen erzeugt, die die Krankheit voll auslösen können.

B-Zellen sind somit essentiell für die Entstehung der MS und auch am Angriff auf die Nervenzellen mit ihren Antikörpern massiv beteiligt. Eine große Menge Antikörper in der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit (dem Liquor) ist ein Diagnosekriterium der MS. Diese Antikörper werden von den B-Zellen im Liquor produziert.

Aktuelle Forschung und Therapieansätze

Die MS-Forschung hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Neuroimmunologen und andere Wissenschaftler arbeiten intensiv daran, die Ursachen und Mechanismen der MS besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln.

Entwicklung neuer Medikamente

Pharma-Unternehmen entwickeln neue Präparate, die noch wirksamer und sicherer sind bzw. auch bei Anwendung und Monitoring für betroffene Patient:innen zusätzliche Vorteile bieten. Ein wichtiger Schwerpunkt der klinischen Forschung liegt auf der Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Substanzen, die das Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden sollen. Durch Immunmodulatoren kann die Immunantwort im Körper beeinflusst und neu ausgerichtet werden.

Ein weiterer Fokus liegt auf der Erforschung der Zelle, insbesondere der Rolle von T-Zellen und B-Zellen, um die Mechanismen der Autoimmunreaktion besser zu verstehen. Andere Studien zielen darauf ab, den Anwendungskomfort durch längere Anwendungsintervalle oder eine orale Verabreichung zu erhöhen.

Therapieansätze

Die Therapie der Multiplen Sklerose stützt sich dabei auf mehrere Säulen:

  • Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe, damit Beschwerden sich schnell zurückbilden
  • Verlaufsmodifizierende Therapie (= Basistherapie): Reduktion der Schwere und Häufigkeit der Schübe, um die beschwerdefreie oder -arme Zeit zu verlängern
  • Symptomatische Therapie: Linderung von MS-Beschwerden und Vorbeugung möglicher Komplikationen

Die heutigen Medikamente zur Dauerbehandlung der Multiplen Sklerose wirken auf das Immunsystem ein und können bei vielen Patientinnen und Patienten der Krankheitsschübe weitestgehend verhindern und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen - allerdings nicht bei allen.

Einfluss des Lebensstils

Einigen Faktoren, die eine Entstehung von Multipler Sklerose begünstigen, kann effektiv entgegengewirkt werden. Ausreichend Bewegung an der frischen Luft ist wichtig und trägt zu einem gesunden Vitamin-D-Spiegel im Blut bei. Auch rauchen kann das Risiko für Multiple Sklerose erhöhen.

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