Fatigue, ein Zustand extremer Erschöpfung, ist ein häufiges und beeinträchtigendes Symptom bei Menschen mit Multipler Sklerose (MS). Schätzungen zufolge leiden etwa 50 bis 80 % der MS-Betroffenen unter Fatigue, was ihre Lebensqualität erheblich mindert und oft zu Arbeitsunfähigkeit führt. Anders als normale Müdigkeit, die nach Ruhe verschwindet, bleibt die MS-bedingte Fatigue auch nach ausreichend Schlaf bestehen. Seit der Corona-Pandemie ist das Bewusstsein für chronische Müdigkeit gestiegen, was MS-Betroffenen im Kampf um bessere Diagnosen und Behandlungen zugutekommt.
Was ist Fatigue?
Fatigue ist mehr als nur Müdigkeit; es ist ein Zustand körperlicher, geistiger und emotionaler Erschöpfung, der sich nicht durch Ruhe und Schlaf lindern lässt. Betroffene erleben eine allgemeine Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Niedergeschlagenheit und ein verlangsamtes Denkvermögen. Die Definitionen von Fatigue, insbesondere im Zusammenhang mit Long-Covid, sind oft unzureichend, was die Diagnose erschwert.
Ursachen von Fatigue bei MS
Die Ursachen der Fatigue bei MS sind vielfältig und nicht vollständig geklärt. Mögliche Faktoren sind:
- Die Krankheit selbst: MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem Gehirn und Rückenmark angreift. Die chronische Entzündung stört die normale Weiterleitung von Nervensignalen, was zu verschiedenen Symptomen, einschließlich Fatigue, führt.
- Medikamente: Einige Medikamente, die zur Behandlung von MS eingesetzt werden, können Fatigue als Nebenwirkung verursachen.
- Schlafstörungen: Schlafstörungen sind bei MS häufig und können Fatigue verstärken. Umgekehrt kann Fatigue den Schlaf negativ beeinflussen, was zu einem Teufelskreis führt.
- Psychische Faktoren: Stress, Angstzustände und depressive Verstimmungen können ebenfalls zur Fatigue beitragen.
Noch ist nicht abschließend geklärt, ob die Fatigue eine direkte Folge der MS ist oder möglicherweise auch durch die eingesetzten Medikamente hervorgerufen wird - oder ob sie letztlich aus einem Zusammenspiel von beiden entsteht.
Formen der Fatigue
Die MS-bedingte Fatigue kann sich in verschiedenen Formen äußern:
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- Körperliche Fatigue: Diese Form der Erschöpfung betrifft primär den Körper und äußert sich in einem Gefühl von Schwere, Schwäche und Antriebslosigkeit in den Gliedmaßen. Selbst einfache Bewegungen werden als übermäßig anstrengend empfunden.
- Geistige Fatigue: Diese Form der Erschöpfung beeinträchtigt die kognitiven Funktionen wie Konzentration, Gedächtnis und Aufmerksamkeit. Betroffene haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, Informationen zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen.
- Emotionale Fatigue: Diese Form der Erschöpfung äußert sich in Gefühlen von Hoffnungslosigkeit, Reizbarkeit und sozialem Rückzug. Betroffene fühlen sich emotional ausgelaugt und haben Schwierigkeiten, mit Stress umzugehen.
Zusammenhang zwischen Schlafstörungen und Fatigue
Schlafstörungen und Fatigue sind eng miteinander verbunden und können sich gegenseitig verstärken. Schlafstörungen können Fatigue verstärken, und Fatigue selbst kann den Schlaf negativ beeinflussen. Schlaf ist eine essenzielle Phase für die Regeneration von Körper und Geist. Da bei MS das beeinträchtigt, sind diese regenerativen Prozesse besonders wichtig.
Auswirkungen von Schlafstörungen auf Fatigue
- Unzureichende Erholung: Trotz ausreichend langer Schlafdauer können Betroffene nicht erholt aufwachen, da Schlafstörungen die Qualität der Tiefschlaf- und REM-Phasen beeinträchtigen.
- Verstärkte Entzündungsprozesse: Schlafmangel erhöht die Aktivität von Entzündungsmarkern im Körper.
- Gestörte Hormonregulation: Schlafmangel wirkt sich direkt auf die Produktion und Regulation von Hormonen wie Cortisol (Stresshormon) und Melatonin (Schlafhormon) aus.
- Beeinträchtigung der Nervenkommunikation: Schlafprobleme können die Effizienz der neuronalen Signalübertragung verschlechtern. Bei MS wird diese Signalübertragung durch die Demyelinisierung gestört.
Ursachen von Schlafstörungen bei MS
- Physische Beschwerden: Schmerzen, Muskelkrämpfe oder Spastiken, die sich insbesondere nachts bemerkbar machen, erschweren oft einen durchgehenden, erholsamen Schlaf.
- Hormonelle Veränderungen: MS greift in das Nervensystem ein und kann hormonelle Ungleichgewichte auslösen, was wiederum den Schlaf-Wach-Rhythmus beeinträchtigen kann.
- Psychische Faktoren: Stress, Angstzustände und depressive Verstimmungen sind häufig und haben eine direkte Wirkung auf den Schlaf.
- Medikamentöse Nebenwirkungen: Auch die Kombination verschiedener Medikamente kann eine Ursache darstellen.
Diagnose von Fatigue
Die Diagnose von Fatigue bei MS basiert in erster Linie auf der subjektiven Beschreibung der Symptome durch den Patienten. Es gibt keine spezifischen Tests, um Fatigue zu messen, aber Ärzte können Fragebögen und Skalen verwenden, um die Schwere der Fatigue zu beurteilen. Es ist wichtig, andere mögliche Ursachen für Müdigkeit auszuschließen, wie z. B. Anämie, Schilddrüsenprobleme oder Depressionen.
Behandlung von Fatigue
Die Behandlung der Fatigue bei MS ist komplex und erfordert einen individuellen Ansatz. Es gibt keine Heilung für Fatigue, aber verschiedene Strategien können helfen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.
Nicht-medikamentöse Behandlung
- Schlafhygiene: Ein strukturierter Schlaf-Wach-Rhythmus kann helfen, den Schlaf zu stabilisieren.
- Entspannungsübungen und Achtsamkeitstechniken: Techniken wie autogenes Training, Meditation und progressive Muskelentspannung können helfen, die innere Unruhe zu reduzieren und den Einschlafprozess zu erleichtern.
- Physiotherapie und Bewegung: Regelmäßige, sanfte Bewegung wirkt sich positiv auf das Schlafverhalten und die Fatigue aus. Die DMSG empfiehlt Betroffenen daher Ausdauersportarten wie Nordic Walking oder Training auf dem Fahrradergometer.
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Insbesondere bei chronischen Schlafstörungen kann KVT eine sehr wirksame Therapieoption sein.
- Pacing: Pacing ist eine Strategie des Energiemanagements, die darauf abzielt, mit den begrenzten Energiereserven bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) oder dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) bewusst umzugehen.
- Vermeidung von Hitze: Wärme verstärkt oft die Fatigue. Die Senkung der Körpertemperatur durch Kühlelemente, kalte Bäder oder Klimatisierung kann selbständig durchgeführt werden und zu einer vorübergehenden Verbesserung der Fatigue führen.
Medikamentöse Behandlung
Medikamente helfen bei Fatigue selten. Im Einzelfall kann ein Therapieversuch mit Amantadin oder Modafinil erwogen werden.
Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)
Eine aktuelle US-Studie fand jetzt einen neuen Ansatz, der MS-Patienten zukünftig helfen könnte: eine Form der elektrischen Gehirnstimulation, die ohne Eingriff ins Gehirn auskommt. Die Forscher von der New York University (USA) untersuchten bei 27 Studienteilnehmern mit multipler Sklerose die Wirksamkeit der sogenannten transkraniellen Gleichstromstimulation (engl. transcranial direct current stimulation, tDCS). In der Gruppe, die sich der elektrischen Gehirnstimulation unterzogen hatte, stellten die Forscher fest, dass sich die Beschwerden durch die Fatigue im Vergleich zur Placebogruppe deutlich verringert hatten. Die Forscher raten MS-Patienten allerdings streng davon ab, sich freiverkäufliche Stimulationsgeräte zuzulegen.
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Sport und Bewegung bei Fatigue
Auch wenn es sich absurd anhört: Sport raubt keine Energie, sondern gibt Energie. Das Fatigue-Syndrom tritt auch bei Menschen mit anderen Erkrankungen auf, z. B. häufig nach einer Krebstherapie, und es konnte gezeigt werden, dass Sport und Bewegung maßgeblich zur Verbesserung der Fatigue beitragen. Das scheint auch bei MS der Fall zu sein. Eine Schweizer Studie konnte bereits 2002 zeigen, dass regelmäßiges Fitnesstraining schon nach vier Wochen die aerobe Schwelle - ein wichtiger Parameter der körperlichen Leistungsfähigkeit - der MS-Patienten anhob, sie sich besser fühlten und aktiver waren. Bevor Sie loslegen, ist es wichtig, mit Ihrem behandelnden Neurologen die individuelle Sporteignung festzulegen. Es ist wichtig, das Training moderat anzugehen und sich nicht zu sehr auszupowern.
Paroxysmale Symptome
Paroxysmale Symptome ist der Sammelbegriff für Beschwerden, die überfallartig, kurz (maximal wenige Minuten), aber wiederkehrend auftreten. Meist handelt es sich um einschießende Schmerzen in einer bestimmten Körperregion, es kann sich aber auch um plötzliche Gefühls-, Sprech- oder Bewegungsstörungen handeln, seltener auch Juckreiz. Das häufigste paroxysmale Symptom ist die MS-bedingte Trigeminusneuralgie, die im Gegensatz zur „normalen Trigeminusneuralgie“ oft beidseitig auftritt. Außerdem werden das Lhermitte-Zeichen und das Uhthoff-Phänomen zu den paroxysmalen Symptomen gerechnet.
Therapie von paroxysmalen Symptomen
Die Therapie zielt auf die Vermeidung der jeweiligen Symptome ohne Beeinträchtigung des Patienten durch die Therapie und damit auf eine Steigerung der Lebensqualität ab. Es kann hilfreich sein, ein Tagebuch zu führen, um zu erkennen, in welchen Situationen paroxysmale Symptome auftreten. Unter Umständen lassen sich solche Situationen, wenn nicht vermeiden, so doch reduzieren. Bei einem Uhthoff-Phänomen sollten Patienten Wärme meiden und kalte Duschen, kalte Getränke oder kühlende Kleidung (Westen, Stirnbänder etc.) einsetzen. Die meisten paroxsymalen Symptome lassen sich gut mit Medikamenten behandeln. Eingesetzt werden Antiepileptika wie Carbamazepin, Gabapentin, Lamotrigin, bei ausgeprägter Wärmeempfindlichkeit (Uhthoff-Phänomen) auch 4-Aminopyridin.
Ataxie
Die MS-bedingte Ataxie - auch ataktische Bewegungsstörung genannt - bezeichnet Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen: Das Zusammenspiel verschiedener Muskeln - vor allem der Arme und Beine, seltener des Rumpfes - ist beeinträchtigt. Feinmotorische, zielgerichtete Bewegungen, wie sie in vielen Alltagssituationen gebraucht werden, sind eingeschränkt. Ataktische Bewegungsstörungen betreffen etwa jeden zweiten MS-Patienten (Deutsches MS-Register). Die Ausprägung von Ataxie und Tremor ist oft abhängig von der seelischen und körperlichen Verfassung der Patienten: Schmerzen, Erschöpfung, Stress, Aufregung, Angst, manchmal nur die Gewissheit, beobachtet zu werden, verstärken die Symptome.
Therapie von Ataxie
Basis der Behandlung ist eine intensive Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage (Bobath, propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation und andere), kombiniert mit Ergotherapie. Sinnvoll ist darüber hinaus, Entspannungstechniken zu erlernen und anzuwenden, zum Beispiel Autogenes Training oder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Hilfsmittel - Gehstöcke, Rollatoren, spezielle Bestecke - erleichtern den Alltag. Medikamente sind wenig hilfreich und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Zudem könnnen sie ausschließlich den Tremor lindern. Deshalb werden Clonazepam (Rivotril®), Propranolol (Dociton®), Primidon (Liskantin®) oder Ondansetron (Zofran®) erst versucht, wenn nicht-medikamentöse Therapien bei Tremor versagen. Neueste Ergebnisse zeigen sehr gute Erfolge von Topiramat, sonst bei Migräne oder Epilepsie eingesetzt.
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Blasenstörungen
Neurogene, d. h. auf der fehlerhaften Funktion wichtiger Nervenbahnen beruhende, Blasenstörungen gehören zu den häufigsten Begleiterscheinungen der MS. Im Verlauf der Erkrankung sind 50 bis 80 Prozent der Patienten davon betroffen. Zur langfristigen Vermeidung von Folgeschäden ist die frühzeitige Erkennung und symptomorientierte Behandlung von zentraler Bedeutung.
Therapie von Blasenstörungen
Durch das eigene richtige Verhalten können Blasenfunktionsstörungen vor allem im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Wichtig ist: regelmäßig ausreichend trinken (ca. 2 Liter über den Tag verteilt, sofern Herz und Nieren gesund sind), regelmäßige, auch vorbeugende Toilettengänge, Kontrolle von Trink- und Urinmenge durch ein Tagebuch, Harndrang nicht über längere Zeit unterdrücken (das Überkreuzen der Beine kann zur Verstärkung einer Spastik führen) und Beckenbodengymnastik (kann in der Physiotherapie erlernt werden). Die medikamentöse Behandlung umfasst - je nach Art der Funktionsstörung - verschiedene Substanzen: Anticholinergika zur Dämpfung eines überaktiven Blasenmuskels, Alphablocker zur Entspannung des Blasenschließmuskels und Desmopressin, um die Urinproduktion und -ausscheidung vorübergehend zu verringern.
Umgang mit Fatigue im Alltag
Am wichtigsten aber: Lernen Sie, Ihre Müdigkeit und die damit einhergehende verminderte Leistungsfähigkeit zu akzeptieren. Kämpfen Sie nicht unnötig dagegen an und verlangen Sie von sich nicht ständig mehr als möglich ist. Achten Sie auf Veränderungen und sprechen Sie mit Ihrem Arzt, wenn Sie dies bemerken.
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