Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft und bei vielen Betroffenen zu erheblichen Einschränkungen im Alltag und Berufsleben führen kann. Eine der sozialrechtlichen Fragen, die sich im Verlauf der Erkrankung stellt, ist die nach einer Erwerbsminderungsrente (EMR). Dieser Artikel beleuchtet die Voraussetzungen für den Bezug einer Erwerbsminderungsrente bei MS und gibt wichtige Hinweise zur Antragstellung und den damit verbundenen Aspekten.
Multiple Sklerose und ihre Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit
Multiple Sklerose kann sich auf unterschiedliche Weise auf die Erwerbstätigkeit auswirken. Viele Menschen mit MS können ihren Beruf weiterhin ausüben, insbesondere wenn bestimmte Rahmenbedingungen wie flexible Arbeitszeiten oder Unterstützungsmöglichkeiten wie Arbeitsassistenz gegeben sind. Dennoch kann es im Verlauf der Erkrankung zu wiederholten oder längeren Zeiten der Arbeitsunfähigkeit kommen. Symptome wie Fatigue, Bewegungsstörungen, Sehstörungen oder Gedächtnisprobleme können die Ausübung des erlernten Berufs erschweren oder unmöglich machen.
Statistiken des MS-Registers der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft zeigen, dass MS-Betroffene in ihrer Erwerbstätigkeit deutlich stärker eingeschränkt sind als andere Personen im erwerbsfähigen Alter. Auch die Arbeitslosigkeit trifft MS-Betroffene etwas häufiger. Viele Betroffene geben an, dass ihre MS ihre aktuelle berufliche Tätigkeit einschränkt.
Voraussetzungen für die Erwerbsminderungsrente
Die Erwerbsminderungsrente ist eine Leistung der Deutschen Rentenversicherung, die Menschen zusteht, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht mehr oder nur noch eingeschränkt arbeiten können. Die Erwerbsminderungsrente hängt nicht vom Vorliegen einer bestimmten Krankheit ab. Auch bei MS gelten bestimmte Voraussetzungen, um eine EMR zu erhalten.
Versicherungsrechtliche Voraussetzungen
Um Anspruch auf EMR zu haben, müssen bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt sein:
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- Vorversicherungszeit: Der Antragsteller muss mindestens fünf Jahre in der Rentenversicherung versichert gewesen sein (allgemeine Wartezeit).
- Pflichtbeiträge: In den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung müssen mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit gezahlt worden sein.
- Regelaltersgrenze: Die Regelaltersgrenze für die gesetzliche Rente darf noch nicht erreicht sein.
Direkt nach Studium und Ausbildung können verkürzte Vorversicherungszeiten gelten.
Medizinische Voraussetzungen
Neben den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen müssen auch medizinische Voraussetzungen erfüllt sein. Diese beziehen sich auf das Leistungsvermögen des Antragstellers:
- Teilweise Erwerbsminderung: Eine teilweise Erwerbsminderungsrente kann in Frage kommen, wenn das tägliche Leistungsvermögen nur noch 3 bis weniger als 6 Stunden beträgt, bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
- Volle Erwerbsminderung: Eine volle Erwerbsminderungsrente kommt in Betracht, wenn das tägliche Leistungsvermögen unter 3 Stunden liegt, ebenfalls bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Um einschätzen zu können, wie sehr die MS die Leistungsfähigkeit einschränkt, wird der Rentenversicherungsträger einen Befundbericht beim Behandlungsteam anfordern. Zusätzlich beurteilt der Sozialmedizinische Dienst den Gesundheitszustand in einem Gutachten.
"Reha vor Rente"
Bevor die Erwerbsminderungsrente bewilligt wird, fordert der Rententräger in der Regel eine Rehabilitationsmaßnahme. Im Rahmen dieser Reha wird die tatsächliche Leistungsfähigkeit anhand von Tests ermittelt und eine entsprechende Arbeitsleistungsbeurteilung erstellt. Im Abschlussbericht steht eine Empfehlung, mit wie vielen Arbeitsstunden der oder die Reha-Patient:in die aktuelle Arbeit noch ausüben kann, beziehungsweise mit wie vielen Arbeitsstunden der- oder diejenige auf dem regulären Arbeitsmarkt eingesetzt werden kann.
Der Grundsatz "Reha vor Rente" bedeutet, dass zunächst alle Möglichkeiten der Rehabilitation ausgeschöpft werden müssen, um die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen oder zu verbessern. Wenn weder durch eine berufliche noch eine medizinische Rehabilitation die (teilweise) Erwerbsfähigkeit erhalten werden kann, ist ein Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente möglich.
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Ausnahme „Arbeitsmarktrente“
Theoretisch könnte jemand drei Stunden, aber weniger als sechs Stunden pro Tag arbeiten und somit einer Teilzeitstelle nachgehen. Aufgrund der schlechten Beschäftigungssituation ist aber eine solche Stelle auf dem Arbeitsmarkt nicht zu finden. In diesem Fall kann eine volle Erwerbsminderungsrente als sogenannte "Arbeitsmarktrente" gewährt werden.
Antragstellung und Verfahren
Der Antrag auf Erwerbsminderungsrente wird bei der Deutschen Rentenversicherung gestellt. Es ist ratsam, sich bei der Antragstellung unterstützen zu lassen, da das Verfahren komplex sein kann.
Unterstützungsmöglichkeiten
- Deutsche Rentenversicherung: Die Deutsche Rentenversicherung bietet kostenlose Auskünfte und Beratung zur Antragstellung an.
- Unabhängige Rentenberater:innen: Unabhängige Rentenberater:innen können vor Ort Unterstützung bieten.
- Sozialverband VdK: Der Sozialverband VdK bietet seinen Mitgliedern Beratung und Unterstützung in sozialrechtlichen Fragen, einschließlich der Antragstellung auf Erwerbsminderungsrente. Die Kosten für eine Mitgliedschaft liegen bei ca. fünf Euro pro Monat.
Wichtige Dokumente und Informationen
Bei der Antragstellung sollten sämtliche Unterlagen vollständig aufbereitet werden. Dazu gehören:
- Ärztliche Befundberichte: Aktuelle Befundberichte von behandelnden Ärzten, die die gesundheitlichen Einschränkungen aufgrund der MS detailliert beschreiben.
- Reha-Berichte: Berichte über durchgeführte Rehabilitationsmaßnahmen.
- Arbeitszeugnisse: Arbeitszeugnisse, die die bisherige berufliche Tätigkeit und eventuelle Einschränkungen am Arbeitsplatz dokumentieren.
- Versicherungsunterlagen: Unterlagen, die die Versicherungszeiten und Beitragszahlungen nachweisen.
Es ist empfehlenswert, alle Unterlagen online an die Rentenversicherung hochzuladen, um den Prozess zu beschleunigen. Die Beantragung ist recht einfach und kostenfrei, erfordert jedoch eine Identitätsprüfung.
Befristung und Verlängerung
Üblicherweise bewilligt die Rentenversicherung die EMR zunächst für einen befristeten Zeitraum. Die Dauer der Befristung hängt vom Rententräger ab. Es kann jedoch auch die Möglichkeit bestehen, von Anfang an eine unbefristete Rente bewilligt zu bekommen, je nach individueller Situation.
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Vor Ablauf der Befristung kann ein Verlängerungsantrag gestellt werden. Es ist wichtig, diesen Verlängerungsantrag rechtzeitig zu stellen, da oft ein verkürztes Verfahren stattfindet. Unbefristet wird die Rente nur gewährt, wenn keine Verbesserung der Erwerbsminderung durch die Erkrankung mehr absehbar ist; davon ist nach 9 Jahren auszugehen (§ 102 Abs.
Hinzuverdienst und andere Rentenarten
Sowohl bei teilweiser als auch bei voller Erwerbsminderung ist ein Hinzuverdienst möglich. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten wurden zum 01.01.2024 erneut angehoben. Bei Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung liegt die Grenze bei mindestens 37.117,50 Euro jährlich, bei Rente wegen voller Erwerbsminderung bei 18.558,75 Euro.
Neben der vollen Erwerbsminderungsrente könnten je nach Alter noch andere Arten der Rente infrage kommen:
- Altersrente für schwerbehinderte Menschen: Hierfür ist neben dem maßgebenden Alter ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 erforderlich. Außerdem muss eine Mindestversicherungszeit von 35 Jahren erfüllt sein.
- Reguläre Altersrente: Für die reguläre Altersrente muss das maßgebende Alter erreicht und die Mindestversicherungszeit von 5 Jahren erfüllt sein. Das Renteneintrittsalter wird seit 2012 stufenweise angepasst.
- Altersrente für langjährig Versicherte: Hierfür sind 35 Versicherungsjahre notwendig.
- Altersrente für besonders langjährig Versicherte: Diese erfordert 45 Versicherungsjahre.
Fallbeispiel
Frau H., 48 Jahre, mit einem GdB von 50, erreicht aufgrund ihrer MS körperlich und kognitiv ihre Grenzen. Langes Stehen und hochkonzentriertes Arbeiten belasten sie besonders. Nach längeren Krankheitsphasen und einer medizinischen Reha wird festgestellt, dass sie die Anforderungen an ihre derzeitige Tätigkeit nicht mehr erfüllen kann und nur noch reduziert belastungsfähig ist. Leichtere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts zwischen 3 und unter 6 Stunden werden als weiter möglich beurteilt.
Durch eine innerbetriebliche Möglichkeit, in das Back-Office zu wechseln und ihre Arbeitszeit flexibler zu gestalten, sowie eine bewilligte Qualifizierungsmaßnahme im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) kann Frau H. auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz wechseln.
Jahre später, im Alter von 62 Jahren, macht ihr die Fatigue stark zu schaffen, was zu vielen Krankheitstagen führt. Nach einer erneuten medizinischen Rehabilitation wird festgestellt, dass Frau H. nicht mehr in der Lage ist, in ihren jetzigen Tätigkeiten bis zu 3 Stunden täglich zu arbeiten. Die Reha-Klinik bestätigt ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden bezogen auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes und empfiehlt ihr, eine volle Erwerbsminderungsrente zu beantragen.
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