Die Geschichte der Multiplen Sklerose: Von den ersten Berichten bis zu modernen Therapien

Die Geschichte der Multiplen Sklerose (MS) ist eine faszinierende Reise durch die medizinische Forschung, von vagen Beschreibungen im Mittelalter bis zu den hochmodernen Therapien, die heute verfügbar sind. Die ersten Berichte über MS reichen weit zurück, aber es dauerte lange, bis die Ursachen erkannt wurden. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Etappen in der Erforschung und Behandlung dieser komplexen neurologischen Erkrankung.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Sie beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und verläuft von Patient zu Patient unterschiedlich. Je nachdem, welche Regionen des Gehirns oder Rückenmarks betroffen sind, können unterschiedliche körperliche Beeinträchtigungen auftreten. Der Name „Multiple Sklerose“ bedeutet „mehrfache Verhärtung“ und bezieht sich auf die im Gehirn und Rückenmark auftretenden Läsionen.

Frühe Hinweise und erste Beschreibungen

Die ersten dokumentierten Fälle von MS reichen bis ins frühe 15. Jahrhundert zurück. Ein bemerkenswertes Beispiel ist Lidwina von Schiedam, eine 15-jährige Niederländerin, die nach einem Sturz beim Schlittschuhlaufen unter zunehmender Schwäche und schließlich Lähmung beider Beine litt. Ihr Fall, der im Jahr 1421 von Jan van Beieren beschrieben wurde, wird oft als einer der ersten Hinweise auf MS angesehen.

Im frühen 19. Jahrhundert stellten der französische Anatom Jean Cruveilhier und der schottische Pathologe Robert Carswell MS bildlich dar. Sie beschrieben und illustrierten erstmalig die für MS typischen Läsionen des zentralen Nervensystems.

Die erste Diagnose und Benennung

Als erster diagnostizierte Dr. Jean-Martin Charcot, Professor an der Universität von Paris, MS. In den 1860er Jahren behandelte er eine Frau, die an starkem Zittern und Sprachstörungen litt. Nach ihrem Tod fand Charcot Ablagerungen in ihrem Gehirn, die er mit „sclerose en plaques“ bezeichnete. Nach Abgleichungen mit seinen Beobachtungen stellte er MS als eigenständige Krankheit fest. Charcot verfasste im Jahr 1868 die erste komplette Abhandlung über MS und stellte den Zusammenhang mit pathologischen Befunden her. Durch seine exakten und umfassenden Beschreibungen seiner Erkenntnisse brachte er das Wissen um die MS entscheidend voran.

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Die Entdeckung des Myelins

Myelin umhüllt die Nervenfortsätze und schützt diese vor Schädigungen. Bei MS-Patienten ist das Myelin geschädigt, körpereigene Zellen (Lymphozyten, Makrophagen) greifen dabei die Nervenfasern und/oder die Nervenzellen an. Der französische Wissenschaftler Dr. Louis-Antoine Ranvier fand dies 1878 heraus. Er prägte den Begriff Myelin. Als Erstentdecker des Myelin gilt jedoch Rudolf Virchow (1854). Dr. James Dawson gelang es dann 1916, die Myelinschädigungen und die Entzündungen der Blutgefäße im Gehirn zu beschreiben. Demnach sammeln sich die körpereigenen Zellen an verschiedenen Zellen im ZNS, dort dringen sie ein und zerstören das eigentlich gesunde Myelin (Demyelinisierung). Durch die Zerstörung des Myelins bilden sich entzündliche Läsionen, wie schon von Dr. Jean-Martin Charcot in den 1860er Jahren festgestellt hatte. In diese entzündeten Regionen dringt umliegendes Bindegewebe ein, wodurch die Läsionen vernarben. Durch die Narben wird die Informationsübertragung gestört, Informationen werden verzögert weitergeleitet und Befehle können nur zum Teil oder gar nicht ausgeführt werden.

MS ist keine Viruserkrankung

Neue Forschungserkenntnisse schaffte der amerikanische Forscher Dr. Thomas Rivas, der 1933 schließlich beweisen konnte, dass MS keine Viruserkrankung ist. Im Tiermodell injizierte er physiologisches Myelin, damit werden MS-typische Symptome (z.B. Spastik und Lähmungen) ausgelöst. Diese Form der Krankheit ist MS sehr ähnlich und wird experimentelle allergische Enzephalomyelitis (EAE) genannt.

Die Rolle der T-Zellen

1959 entdeckte der amerikanische Neuroimmunologe Dr. Phillip Paterson die Rolle von T-Zellen bei MS. T-Zellen sind an der EAE beteiligt. Wenn diese Immunzellen durch Injektion von einem Tier auf das andere transferiert werden, überträgt sich die Erkrankung. In den 1960er Jahren wurde festgestellt, dass auch die B-Zellen eine Rolle bei MS spielen. Die B-Zellen sind ebenfalls ein Immunzelltyp und befinden sich in der Zerebrospinalflüssigkeit. Während der 1960er und 1970er Jahren wurde - nach Erkenntnissen der T- und B-Zellen - die Rolle des Immunsystems weiter erforscht, wodurch bestätigt wurde, dass MS eine immunvermittelte Erkrankung ist.

Fortschritte in der Diagnostik

Magnetresonanztomographie (MRT)

1981 wurde erstmalig durch den britischen Forscher Dr. Ian Young die Magnetresonanztomographie (MRT) zur Bildgebung bei einem MS-Patienten eingesetzt. Um die Empfindlichkeit der MRT-Aufnahmen zu erhöhen, wird „Gadolinium“ (Kontrastmittel) gespritzt. Dieses reichert sich in Entzündungsherden an, die erst kürzlich entstanden sind, wodurch sie besser zu erkennen sind, denn genau nach diesen Läsionen wird gesucht. Ein MRT kann die MS-Diagnose stützen und die Erkrankung auf ihrem Verlauf kontrollieren. Anzeichen für die Erkrankung konnten schon nach dem ersten Scan im MRT festgestellt werden. Auch wenn der Patient noch keine Symptome hat, kann die Erkrankung mit Hilfe des MRTs gesehen werden. Gerade in frühen Phasen der Erkrankung kann der Arzt anhand der Größe und der Zahl der Läsionen erkennen, ob mit einer Therapie begonnen werden sollte. Ein revolutionärer Durchbruch gelang 1981 durch die Arbeit von Ian Young und dem Einsatz der Kernspintomographie (MRT).

EDSS-Skala

Zur Messung einer Behinderung entwickelte der Neurologe John Kurtzke 1983 die EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale). Bei der Untersuchung von MS-Patienten bewerten Parameter vom Grad 0,0 bis 10 u.a. die Sehfunktion, die Motorik und das Gehvermögen.

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Liquortests

In den 60-er- und 70-er Jahren wurden spezielle Liquortests entwickelt: Bei der so genannten Gel-Elektrophorese wandern die auf ein aktives Immunsystem hinweisenden Immunglobuline (Antikörper) in Abhängigkeit von ihrer elektrischen Ladung oder Größe in einem elektrischen Feld unterschiedlich schnell bzw. Ebenfalls in den 70-er Jahren hielt die Computertomographie Einzug in die MS-Diagnostik und deren Verlaufsbeurteilung.

McDonald-Kriterien

Eine internationale Expertengruppe um Ian McDonald († 2010) erarbeitete zur Diagnose der MS ein neues Schema und veröffentlichte dies in 2001. Gestützt auf den objektiven Nachweis einer räumlichen und zeitlichen Ausbreitung nach klinischen und MRT - Befunden sollen die so genannten McDonald-Kriterien die Zuverlässigkeit der Diagnose erhöhen. Sie gestatten unter Berücksichtigung festgelegter Kriterien die MS - Diagnose bereits nach dem ersten klinischen Schub und ermöglichen damit einen noch früheren Therapiebeginn.

Die Entwicklung von MS-Therapien

Frühe Therapieansätze

Erste MS-Therapien können die Erkrankung nicht heilen, aber sie können MS-Zeichen und Symptome kontrollieren. Rund ein Jahrhundert nach der ersten Beschreibung der MS gab es einen ersten Therapieerfolg: 1969 bestätigte die erste MS-Studie die Wirkung von Kortison zur Entzündungshemmung.

Interferone und Glatirameracetat

In den 1990er Jahren wurden dafür erstmalig verschiedene injizierbare Arzneimittel zur Reduktion der Schubrate, z.B. bei Patienten mit schubförmiger MS (RMS - die häufigste Form der MS) zugelassen. Ein Therapiedurchbruch kam 1993 mit den Beta-Interferonen, die MS wurde zum ersten Mal behandelbar. Erstmals wurden 1993 in den USA Beta-Interferone für die MS-Therapie zugelassen, in Deutschland erfolgte die Einführung 1995. Drei Jahre nach Zulassung des ersten Interferons erhielt Glatirameracetat ebenfalls die Zulassung zur Behandlung der MS in den USA und im Jahr 2001 auch in Europa.

In den Folgejahren konnten den Patienten weitere, verbesserte Beta-Interferone und mit Glatirameracetat ein weiterer Wirkstoff zur Verfügung gestellt werden. Als krankheitsmodifizierend gelten Arzneimittel, wenn sie den Verlauf einer Krankheit positiv beeinflussen können.

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Natalizumab und andere Immuntherapien

Seitdem sind weitere Arzneimittel auf den Markt gekommen, die die Behinderungsprogression verlangsamen. Ein entscheidender Meilenstein war 2006 die Einführung von Natalizumab. Die meisten neuen Arzneimittel richten sich mit verschiedenen Wirkmechanismen und Verabreichungsarten gegen die Funktion der T-Zellen als primäres Wirksamkeitsprinzip. Heute können die behandelnden Ärzte zusätzlich auf orale Therapieoptionen sowie verschiedene monoklonale Antikörper und Immunsuppressiva bzw.

B-Zelltherapie

Ein revolutionärer Schritt in der Behandlung von MS erfolgte ab dem 12. Januar 2018 mit der Einführung der ersten B-Zelltherapie, Ocrelizumab. Die Geschichte der B-Zelltherapie begann 1959 mit der Entdeckung von Antikörpern. Ab 1982 wurden monoklonale Antikörper, darunter Rituximab, bei Patient*innen eingesetzt. Ron Levy spezialisierte sich auf den Antikörper C2B8, später als CD20 bekannt. Dieser zeigte sich wirksam gegen Krebs und fand schließlich auch Anwendung in der MS-Behandlung.

Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTK)

Die neueste Entwicklung in der MS-Therapie sind die Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTK). Substanzen wie Ibrutinib und Acalabrutinib zeigen vielversprechende Ergebnisse in frühen Studien. Trotz vielversprechender Ergebnisse sind diese neuen Medikamente nicht frei von Nebenwirkungen.

Aktuelle Situation

Die aktuelle Situation stellt sich heute wie folgt dar: Glatirameracetat und 4 Beta - Interferone werden nach wie vor erfolgreich zur Basistherapie der schubförmig verlaufenden MS eingesetzt, vervollständigt durch die Therapien für die hochaktive Verlaufsform Natalizumab, Fingolimod, Alemtuzumab und Mitoxantron, wobei diese Präparate aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils einer besonders sorgfältigen Begleitung bedürfen.

Therapieziel: Disease Activity Free Status

Die MS-Forschung hat sich weiterentwickelt, und das Therapieziel ist nun klar definiert: Disease Activity Free Status.Das bedeutet, dass Patient*innen keine Behinderungsprogression erleiden, keine neuen Läsionen im MRT entwickeln und keine Krankheitsschübe erfahren. „Es gibt viele Patientinnen bei denen gar keine Krankheitsaktivität nachgewiesen werden kann, die sogenannte NEDA - also No Evidence of Disease Activity.” „NEDA ist in der Behandlung von Patientinnen unser Ziel. Früher ist man von einem 2-Phasen-Modell ausgegangen, in dem ein Übergang von der schubförmigen MS zur sekundär progredienten MS erfasst wurde. Heute wissen wir, dass die Neurodegeneration bereits im frühen Stadium der Erkrankung beginnt. Langsam wachsende Läsionen spielen eine entscheidende Rolle, und die MS wird nun als Kontinuum betrachtet. „Wir hatten früher ein ganz anderes Bild von der MS. Wir sind von einem 2-Phasen Modell ausgegangen, einem Übergang von der Schubförmigen MS zur Sekundär Progredienten MS. Dieses Modell wurde nun widerlegt.

Herausforderungen und zukünftige Perspektiven

Trotz der Erfolge gibt es keine zugelassenen Therapien für die primär progrediente Form der MS. Bis heute geht die Suche nach Innovationen weiter. Es wird intensiv nach Therapiemöglichkeiten und der Erkrankung der MS geforscht. An der Ursachenforschung und Therapie der MS wird heute mit Hochdruck gearbeitet, weltweit laufen viele Studien. Die Erkenntnisse der jüngsten Zeit können vielleicht irgendwann in der Zukunft helfen: neue Ansätze versprechen neue Medikamente.

Verlaufsformen der MS

Während die MS-Behandlung sich bislang vor allem auf die Kontrolle und Unterdrückung von akuten Entzündungen (Schüben) konzentriert hat, zielen neue therapeutische Ansätze darauf ab, den chronisch schwelenden Entzündungsprozesse zu adressieren und so das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen. Zudem wurde die MS lange Zeit in unterschiedliche Verlaufsformen eingeteilt:

  • Schubförmig remittierende MS (RRMS): „Die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS) macht 85 % der Fälle im frühen Stadium aus. Charakteristisch sind abgesetzte Schübe, die sich im Allgemeinen über Tage oder Wochen entwickeln (selten über Stunden). Oft kommt es im Verlauf der folgenden Wochen oder Monate zur kompletten Remission.“(Harrisons) Die RRMS ist gekennzeichnet durch akute Schübe, in denen neue Symptome auftreten oder sich bestehende Beschwerden verschlimmern. Nach einem Schub folgt eine sogenannte Remissionsphase von mehreren Tagen, Wochen oder Monaten, in der Symptome sich mehr oder weniger vollständig zurückbilden können.
  • Sekundär progrediente MS (SPMS): Die sekundär progrediente MS (SPMS) kann sich aus der schubförmigen MS entwickeln. Im Jahr 2012 wurde bei Caro eine sekundär progrediente MS, kurz SPMS, diagnostiziert, die in der Regel mit einer stetigen Verschlechterung der Erkrankung ohne Schübe einhergeht.
  • Primär progrediente MS (PPMS): Die primär-progrediente MS ist von Beginn an voranschreitend ohne Erkrankungsschübe. Bei der primär progredienten MS (PPMS) treten von Anfang an keine Schübe auf. Stattdessen schreitet die Erkrankung kontinuierlich voran.

Die Rolle von Patientenorganisationen

Einerseits erfolgt dies durch Patientenorganisationen wie der DMSG, der dabei ein langjähriges großes Engagement bescheinigt werden kann.

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