Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, deren Ursachen bis heute nicht vollständig geklärt sind. Klar ist jedoch, dass die Erkrankung nicht monokausal ist, sondern durch ein Zusammenspiel genetischer Prädisposition und Umweltfaktoren entsteht. Ein zunehmend wichtiger Faktor in der Erforschung der MS-Ursachen ist das Darmmikrobiom - also die Gesamtheit der Mikroorganismen in unserem Verdauungstrakt. Jüngste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die kurzkettige Fettsäure Propionsäure eine bedeutende Rolle bei der Modulation des Immunsystems und der Beeinflussung des Verlaufs von Multipler Sklerose spielen könnte.
Die Rolle des Darm-Mikrobioms bei MS
Das Darm-Mikrobiom, die gesamte bakterielle Besiedlung des Darms, spielt nicht nur für den gesunden Organismus eine wichtige Rolle, sondern auch im Zusammenhang mit Erkrankungen, die auf vielen Faktoren beruhen, wie die Multiple Sklerose. Im Darm findet die Interaktion zwischen der Nahrung, den dortigen Bakterien, deren Stoffwechselprodukten und dem Immunsystem in der Darmwand statt. „So können die Darmbakterien direkt und indirekt Einfluss auf anatomisch entfernte Strukturen wie das Gehirn nehmen“, erklärt Aiden Haghikia.
Die Darmbesiedlung von MS-Patienten weicht von der von Gesunden ab. Ursachen können Hochsalz-Diät, Stress, Infektionen oder Rauchen sein. Dadurch werden weniger regulatorische T-Zellen, aber vermehrt proinflammatorische Th17-Zellen gebildet, die mit der Entstehung von Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht wurden.
Propionsäure: Eine Schlüsselkomponente im Darm-Immunsystem
Kurzkettige Fettsäuren (wie Propionsäure, Essigsäure oder Buttersäure) sind Fettsäuren, die nur aus zwei bis sechs Kohlenstoffatomen bestehen. Prof. Haghikia berichtete in seinem Vortrag, dass kurzkettige Fettsäuren regulierend auf Immunprozesse wirken können. Im Fokus stehen dabei zwei Arten von Immunzellen: Th17-Zellen, die entzündungsfördernd wirken und eine Schlüsselrolle bei MS-Prozessen spielen, sowie Treg-Zellen (regulatorische T-Zellen), die Entzündungen eindämmen und das Immunsystem im Gleichgewicht halten.
Wirkmechanismus von Propionsäure
In der aktuellen Studie konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die vormals in der Zellkulturschale und im experimentellen Modell gezeigten Ergebnisse auf ihre MS-Patienten übertragen: Kurzkettige Fettsäuren wie die Propionsäure oder deren Salz Propionat führten zur vermehrten Entstehung und gesteigerten Funktion von regulatorischen Zellen des Immunsystems. „Diese Zellen beenden überschießende Entzündungsreaktionen und reduzieren im Kontext von Autoimmun-Erkrankungen wie der MS auto-immune Zellen“, so Prof. Dr. Ralf Gold, Direktor der Neurologie im St. Josef Hospital.
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Forschungsergebnisse zum Propionsäure-Mangel bei MS-Patienten
In ihrer Arbeit konnten die Forscherinnen und Forscher nachweisen, dass die Mikrobiom-Zusammensetzung bei MS-Betroffenen verändert ist. Darüber hinaus konnten sie erstmals einen Mangel von Propionsäure im Stuhl und Serum von MS-Patienten zeigen, die in der frühesten Phase der Erkrankung am stärksten ausgeprägt war. Dieser Nachweis gelang in Kooperation mit dem Max-Delbrück-Centrum (MDC) Berlin und den Ernährungswissenschaften der Universität Halle-Wittenberg.
In einer Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Bar-Ilan University in Israel, die ein Darm-Modell zur funktionellen Analyse des Mikrobioms entwickelt hatten, zeigte sich, dass die Veränderung der Funktion der Bakterien im Darm als Folge der Propionat-Gabe die entscheidende Rolle bei der Entstehung von neuen regulatorischen Zellen spielt. Die kurzkettigen Fettsäuren stellen nur einen Bruchteil der Stoffwechselprodukte von Darmbakterien dar, die durch die bakterielle Einwirkung aus der Nahrung entstehen.
Klinische Studien und Ergebnisse
Eine neue Therapieoption bei Multipler Sklerose (MS) hat Prof. Aiden Haghikia, Leitender Oberarzt in der Neurologie, mit seinem Forschungsteam entwickelt: Durch die Verabreichung einer Fettsäure, dem so genannten Propionat, zeigten sich in Studien positive Effekte.
Am experimentellen Modell fand man letztlich heraus, dass vor allem eine bestimmte kurzkettige Fettsäure - die Propionsäure bzw. Propionat - zu einem Anstieg antientzündlicher Immunzellen und damit zu einem milderen Verlauf der MS-Erkrankung führt. Bei MS-Patienten hat Prof. Haghikia nicht nur einen Mangel an Propionsäure festgestellt. In ihrem Darm fand sich eine regelrechte Bakterienflaute. Gibt man den Betroffenen jedoch Propionsäure als Nahrungsergänzung, steigt bereits nach 14 Tagen die Zahl der regulatorischen, antientzündlichen Immunzellen deutlich an. „Das Ergebnis unserer Studien zeigt: Wir können mit relativ einfachen Maßnahmen Einfluss nehmen“, erklärt Aiden Haghikia.
Nach Abschluss der Studien nehmen bundesweit bereits rund 3000 Patienten das Nahrungsergänzungsmittel ein. „Die Substanz wird gut vertragen, und wir sehen durchgehend gute Ergebnisse. Aus den Ergebnissen dieser und weiterer Studien können die MS-Forscher Betroffenen mittlerweile auch klare Ernährungsempfehlungen geben: eine überwiegend vegetarische, ballaststoffreiche Diät, die reich an Hülsenfrüchten und Gemüse ist und auf Ei und Fisch als Proteinquellen setzt.
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Positive Auswirkungen von Propionsäure auf MS-Verlauf
In Tiermodellen bestätigten sich diese Beobachtungen: Mäuse, die mit kurzkettigen Fettsäuren gefüttert wurden, zeigten mildere MS-Symptome als Tiere, die langkettige Fettsäuren erhielten. Der Darm spielt hier eine zentrale Rolle - denn dort entscheidet sich, welche Art von Immunzellen sich entwickelt und wie stark die Immunantwort ausfällt.
Als besonders spannend hob Prof. Haghikia weitere Forschungsergebnisse hervor: In einer Studie an MS-Patient:innen wurde ein Mangel an Propionsäure im Blut und Stuhl festgestellt. Nach einer zweiwöchigen Gabe von Propionsäure als Nahrungsergänzungsmittel zeigten sich deutliche Effekte: Die Zahl der regulatorischen Immunzellen stieg an, ihre Funktion verbesserte sich, und die Schubrate sank. Auch die Behinderungsprogression verlangsamte sich nach drei Jahren - und bei einigen Teilnehmer:innen zeigte sich sogar ein Gewebewachstum in den Basalganglien im MRT. Das deutet darauf hin, dass sich Nervenzellen möglicherweise regenerieren können.
Propionsäure und der Schutz von Nervenzellen
Manche Autoimmunerkrankungen greifen die Nerven in den Armen und Beinen an. In Laborversuchen haben Forschende vom St. Josef Hospital Bochum gezeigt, dass Propionat, das Salz einer kurzkettigen Fettsäure, Nerven schützen und bei ihrer Regeneration helfen kann. Die Erkenntnisse könnten für die Behandlung von Autoimmunerkrankungen nützlich sein, bei denen Nervenzellen geschädigt werden, wie bei der chronisch entzündlichen demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP). Propionat entsteht natürlicherweise im Darm beim Abbau von Ballaststoffen.
In früheren Studien hatte ein Team derselben Abteilung vom St. Josef Hospital Bochum, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, bereits nachgewiesen, dass Menschen mit Multipler Sklerose (MS) einen Mangel an Propionat haben und von einer zusätzlichen Propionat-Einnahme profitieren können.
Mechanismus der Propionat-Wirkung
Die beiden Zellarten kultivierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler getrennt voneinander und setzten sie oxidativem Stress aus, was üblicherweise zu Schäden an den Zellen führt. Einige Zellkulturen behandelte das Team mit Propionat und verglich die Effekte mit unbehandelten Kulturen. In den behandelten Kulturen starben signifikant weniger Zellen ab. Außerdem wuchsen die Zellen nach der Behandlung besser wieder aus als ohne Propionat-Gabe.
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Die Forschenden erlangten auch neue Einblicke in den Mechanismus der Propionat-Wirkung. Sie zeigten, dass die Substanz den Rezeptor FFAR3 auf der Oberfläche von Nervenzellen und Schwannzellen anspricht und außerdem das Ablesen der DNA über Histon-Moleküle beeinflusst.
Ergebnisse aus früheren Untersuchungen mit MS-Patienten hatten die Bochumer Forschenden auf die Idee gebracht, dass Propionat einen günstigen Effekt auf CIDP-Patientinnen und -Patienten haben könnte.
Ernährungsempfehlungen und Propionsäure-Ergänzung
Aus den Ergebnissen dieser und weiterer Studien können die MS-Forscher Betroffenen mittlerweile auch klare Ernährungsempfehlungen geben: eine überwiegend vegetarische, ballaststoffreiche Diät, die reich an Hülsenfrüchten und Gemüse ist und auf Ei und Fisch als Proteinquellen setzt.
Bei allem Bewusstsein über den Einfluss der Ernährung auf die MS, so Haghikia, müsse man jedoch vor einseitigen Diäten, für die auch immer wieder geworben werde, warnen. Diverse Studien hätten aber gezeigt, dass eine vornehmlich vegetarische Kost mit wenig Fleisch, wenig Fett, wenig Kohlenhydraten und wenig Zucker sich positiv auswirke, sowohl motorisch als auch nicht-motorisch. Möglich macht dies unter anderem die erst kürzlich entdeckte Darm-Hirn-Achse (es wandern nämlich wirklich Immunzellen aus dem Darm bis ins ZNS).
Als pragmatische denkende Ärzte, so Haghikia, hätten u.a. Prof. Gold, Prof. Linker und er vor einigen Jahren gedacht: Der Mangel lässt sich einfach rückgängig machen. Propionsäure ist im Handel erhältlich, wurde früher sogar Brot beigefügt, also: einen Versuch wert. Kurzerhand starteten die Forscher einen Selbstversuch (Haghikia nimmt bis heute zweimal täglich 500 mg Propionsäure zu sich) und testeten die Fettsäure in einer nicht randomisierten Studie an MS-Patienten.
Wichtiger Hinweis: Vor lauter Studien und Beweisen für eine ausgewogene Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel wie Propionsäure: Nicht statt, sondern zusammen mit der passenden Immunmodulation lautet die Devise. Zum einen ist der Einfluss der Lifestyle-Änderungen nicht sehr groß, zum anderen will man ja die Vorteile addieren. Darum also: nur als Add-On. Die Hoffnung bleibt allerdings, dass diese Add-Ons uns künftig dabei helfen, die Immunmodulation in ihrer Dosis zu reduzieren.
Rehabilitation und weitere Therapieansätze
Nicht zu unterschätzen bei der Behandlung der MS ist die Rehabilitation. Reha heißt: Trotz MS mache ich etwas. "Mach, was Du kannst, wo Du bist, so gut wie Du es kannst," fasst Prof. Jürg Kesselring Reha zusammen und definiert Trotz-Haltung neu: Ich habe MS und trotzdem kann ich einiges machen. In einer Reha soll der Zustand der Patienten und das Potenzial erfasst werden, woraus man etwas machen kann. Das Augenmerk sollte man auf das richten, was geht, nicht auf das, was nicht geht. Was auch bedeutet: Die Trainingsziele danach abzustimmen, was man kann. Realistische Ziele setzen.
Neurorehabilitation sei angewandte Resilienz: Mit der Neurorehabilitation werden aufbauende Kräfte gefördert, um wieder die ursprüngliche oder eine neue stabile Form/ Position einzunehmen. Grundlage ist die Neuroplastizität. Das Gehirn ist in der Lage, bestimmte Störungen zu kompensieren, sich veränderten Bedingungen anzupassen, sich zu reorganisieren. Synapsen können immer wieder neu geknüpft werden, wodurch Fähigkeiten oder Funktionen (neu bzw. wieder) erlernt werden können. Daher sei es fundamental, aktiv zu bleiben - auch nach einer Reha.
Training sei wichtig und dazu, mit den bekannten Mitteln, die Entzündung aufzuhalten. Man habe doch aber schon etwas in der Hand mit:
- Training
- Reha
- Physiotherapie
- Nahrungsergänzung
Wachstumsfaktoren würden durch Training gefördert. Der Körper selbst produziert sie, wenn man ihn dazu anregt. Er bevorzuge diese Methode gegenüber dem künstlichen Zufügen der Faktoren, betont Prof. Kesselring abschließend.
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