Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise das zentrale Nervensystem (ZNS) angreift. Dieser Angriff richtet sich vor allem gegen die Myelinscheiden, die schützenden Isolierschichten um die Nervenfasern (Axone). Die Zerstörung dieser Myelinscheiden führt zu vielfältigen neurologischen Symptomen, die von Empfindungsstörungen über Koordinationsprobleme bis hin zu Lähmungen reichen können. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer zunehmenden Schädigung der Nervenzellen, die als zentraler Faktor für die fortschreitende Behinderung angesehen wird.
Die Bedeutung der Remyelinisierung
Die Remyelinisierung, also die Reparatur der beschädigten Myelinscheiden, wird als ein wichtiger Schutzmechanismus gegen den axonalen Untergang angesehen. Sie ist ein spontaner, endogen im Gehirn stattfindender Prozess, der durch Oligodendrozyten-Vorläuferzellen (OVZ) vermittelt wird. Diese differenzieren sich zu reifen Oligodendrozyten aus und produzieren neue Myelinscheiden.
Obwohl OVZ im Gehirn von MS-Patienten vorhanden sind, ist ihre Fähigkeit zur Reparatur von Myelinscheiden oft eingeschränkt. Dies liegt an verschiedenen Faktoren, die die Differenzierung der OVZ und die Myelinbildung hemmen. Die medikamentöse Stimulation der Remyelinisierung ist daher in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt.
Aktuelle Therapieansätze und Herausforderungen
Bisher konzentrieren sich die meisten MS-Therapien auf die Kontrolle der Entzündung und die Reduktion der Schubfrequenz. Diese Medikamente sind vor allem bei der schubförmig-remittierenden MS wirksam. Bei progredienten MS-Verlaufsformen, bei denen neurodegenerative Aspekte im Vordergrund stehen, haben sie jedoch nur einen begrenzten Nutzen. Daher besteht ein großer Bedarf an Therapien, die die Remyelinisierung fördern und die Nervenzellen vor weiterer Schädigung schützen können.
Die Entwicklung von Remyelinisierungs-Therapien ist jedoch mit einigen Herausforderungen verbunden. Zum einen ist die Remyelinisierung ein komplexer Prozess, der von vielen Faktoren beeinflusst wird. Zum anderen ist es schwierig, die Remyelinisierung im Gehirn von MS-Patienten objektiv zu messen.
Lesen Sie auch: MS-Medikamente im Detail erklärt
Neue Studien und vielversprechende Substanzen
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien durchgeführt, um neue Medikamente zu identifizieren, die die Remyelinisierung fördern können. Einige dieser Studien haben vielversprechende Ergebnisse gezeigt.
Stammzelltransplantation
Eine in der Fachzeitschrift Brain veröffentlichte Studie unter der Leitung von Dr. Luca Peruzzotti-Jametti (Universität Cambridge) und mit Beteiligung von Prof. Frank Edenhofer (Universität Innsbruck) liefert neue Einblicke in das therapeutische Potenzial neuraler Stammzelltransplantationen bei fortschreitender Multipler Sklerose. In einem Mausmodell wurden induzierte neurale Stammzellen transplantiert, um ihre Fähigkeit zur Remyelinisierung geschädigter Nervenfasern zu untersuchen. Erstmals gelang es, nachzuweisen, dass diese Zellen sich im lebenden Organismus zu Oligodendrozyten weiterentwickeln - also zu jenen Zellen, die für die Bildung der Myelinscheide verantwortlich sind.
Induzierte neurale Stammzellen werden durch zelluläre Reprogrammierung direkt aus Haut- oder Blutzellen von Patient:innen gewonnen. Diese Technologie eröffnet die Möglichkeit einer autologen Transplantation, bei der patienteneigene Zellen eingesetzt werden. „Ein entscheidender Vorteil dieser Technologie liegt in der Möglichkeit der autologen Transplantation - also der Verwendung patienteneigener Zellen. Dies könnte das Risiko einer immunologischen Abstoßung erheblich senken und stellt damit einen wichtigen Schritt in Richtung klinisch anwendbarer Therapien dar“, erklärt Edenhofer.
Clemastin
Clemastin, ein Antihistaminikum der ersten Generation, wurde in einer Phase-II-Studie (ReBUILD) bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS und chronischer Optikusneuropathie untersucht. Die Studie zeigte eine statistisch signifikante Verbesserung der P100-Latenz in den visuell evozierten Potenzialen (VEP), was als Hinweis auf eine Remyelinisierung gewertet wurde. Allerdings waren die beobachteten Effektstärken gering, weshalb eine unabhängige Bestätigung erforderlich ist.
GSK 239512
GSK 239512, ein Antihistaminikum, das gegen den Histaminrezeptor vom Typ H3 gerichtet ist, wurde in einer Phase-II-Studie bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS als Add-on zur immunmodulatorischen Therapie getestet. Der primäre Endpunkt - eine verbesserte Remyelinisierung von MS-Läsionen gemessen mittels MTR - wurde jedoch nicht erreicht.
Lesen Sie auch: Wie man MS vorbeugen kann
Opicinumab
Opicinumab ist ein monoklonaler Antikörper, der sich gegen LINGO-1 richtet, ein im ZNS exprimiertes Transmembranprotein. Studien haben gezeigt, dass der Verlust von LINGO-1 die Myelinbildung stimuliert. Die RENEW-Studie ergab eine Verbesserung der Funktion des Sehnervs durch Opicinumab bei Patienten mit Optikusneuritis. Die SYNERGY-Studie erreichte ihren primären Endpunkt einer Verbesserung der neurophysiologischen oder kognitiven Funktionen nicht. Post-hoc-Analysen deuteten jedoch auf eine bessere Wirksamkeit in einer Subgruppe von Patienten hin. Auf dieser Basis wurde die AFFINITY-Studie initiiert, die die Effekte von Opicinumab in dieser Patientengruppe untersucht.
Temelimab
Temelimab ist ein humanisierter, gegen das Hüllprotein (ENV) des multiple-Sklerose-assoziierten Retrovirus (MSRV) gerichteter monoklonaler Antikörper. MSRV kann die Differenzierung von Oligodendrozyten hemmen. Temelimab kann diese Hemmung neutralisieren. Die Phase-IIb-Studie CHANGE-MS zeigte, dass Temelimab einen signifikanten Effekt auf die kortikale und thalamische Atrophie sowie auf die Anzahl von "black holes" im MRT hatte, die als Zeichen dauerhafter Gewebsschädigung angesehen werden.
Biotin
Biotin (Vitamin B7) erhöht die Myelinproduktion vermutlich durch eine Stimulation der Fettsäuresynthese. Die MS-SPI-Pilotstudie legte nahe, dass Biotin die Behinderungsprogression bei Patienten mit progredienter MS aufhalten kann. Die MS-ON-Studie zeigte, dass Biotin in einer Subgruppe von Patienten mit progredientem Krankheitsbild zu einer Verbesserung der Sehschärfe führte. Die BIOSEP- und die SPI2-Studie bei progredienter MS wurden initiiert, da die EMA die bisher generierten Daten als noch nicht ausreichend für eine Zulassung ansieht.
CDP-Cholin
CDP-Cholin ist ein natürlich vorkommendes Nukleosid, das wichtig für die Biosynthese von Phosphatidylcholin ist. In Tiermodellen neurodegenerativer Erkrankungen wurde CDP-Cholin bereits erfolgreich therapeutisch eingesetzt. Im MS-Tiermodell bewirkte es eine verbesserte Myelinsynthese. Eine klinische Studie wird untersuchen, inwiefern CDP-Cholin die Degeneration von Nervenfasern verhindern kann.
Erythropoetin
Erythropoetin (EPO) ist ein zytoprotektives Molekül, das die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann. Eine Studie bei Patienten mit Optikusneuritis erbrachte erste Hinweise auf einen neuroprotektiven Effekt von EPO. Eine Phase-II-Studie bei progredienter MS erreichte ihre primären klinischen Endpunkte nicht. Die TONE-Studie untersucht, inwieweit EPO einen neuroprotektiven Effekt bei Optikusneuritis hat.
Lesen Sie auch: MS und Rückenschmerzen: Ein Überblick
Domperidon
Domperidon, ein D2/D3-Dopaminrezeptorantagonist, steigert die Produktion des Hormons Prolaktin, das die Remyelinisierung im Tiermodell stimuliert. Zwei Phase-II-Studien untersuchen, ob Domperidon die Behinderungsprogression bei sekundär chronisch-progredienter MS reduzieren kann und ob es regenerative Eigenschaften in schubförmig-remittierender MS hat.
PIPE-307
Ein neuer Wirkstoff mit der Bezeichnung PIPE-307 hemmt spezifisch den zu den G-Protein-gekoppelten Rezeptoren gehörenden Muscarinrezeptor M1 (M1R) auf bestimmten Zellen im Gehirn. Durch umfangreiche Vorarbeiten hatten die Forschenden gezeigt, dass M1R als negativer Regulator die Differenzierung von Oligodendrozyten-Vorläuferzellen (OPC) und die Myelinisierung hemmt. PIPE-307 ist ein oral bioverfügbarer, hirngängiger, niedermolekularer, spezifischer Antagonist von M1R. Durch In-vitro-Studien konnten die Forschenden zeigen, dass PIPE-307 die Differenzierung von OPC in Myelin-exprimierende Oligodendrozyten fördert. Zudem verbesserten sich in diesem Modell auch die klinischen Behinderungswerte, was vermuten lässt, dass sich durch die Behandlung funktionelle und anatomische Verbesserungen im entmarkten Gewebe einstellen.
Polysialinsäure
Durch externe Zugabe von Polysialinsäure in Kulturen mit lebenden Gewebeschnitten konnten Forschende zeigen, dass zuvor zerstörte Myelinhüllen in Folge einer entzündungshemmenden Wirkung der Polysialinsäure auf die Mikroglia fast vollständig erneuert wurden. „Die Mikrogliazellen sind die Schlüsselzellen, die direkt vor Ort die Arbeit machen und die wir mit Hilfe der Polysialinsäure quasi in eine bestimmte Richtung leiten und dadurch auf Heilung programmieren wollen“, sagt der Biochemiker.
tags: #multiple #sklerose #remyelinisierung #studien