Die Myasthenia gravis (MG) ist eine Autoimmunerkrankung, die durch belastungsabhängige Muskelschwäche gekennzeichnet ist. Impfungen sind ein wichtiger Bestandteil der Prävention von Infektionskrankheiten, aber bei Patienten mit MG ist die Frage nach der Sicherheit und Wirksamkeit von Impfungen von besonderer Bedeutung. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die aktuellen Impfempfehlungen für Menschen mit MG, basierend auf den Empfehlungen von Experten und den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Allgemeine Impfempfehlungen für Erwachsene
Allen Erwachsenen ab dem 18. Lebensjahr wird generell eine Basisimmunität empfohlen. Diese wird durch insgesamt drei Antigenkontakte erreicht, wobei mindestens zwei davon Impfungen gegen das Coronavirus sein sollten. Für gesunde Personen unter 60 Jahren sind in der Regel keine weiteren Auffrischimpfungen erforderlich. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt jedoch jährliche Auffrischimpfungen mit angepassten Impfstoffen für diese Gruppe, wenn die letzte Impfung oder Infektion mehr als 12 Monate zurückliegt.
Spezifische Impfempfehlungen für Myasthenia gravis Patienten
Für Menschen mit generalisierter Myasthenia gravis (oder einem anderen myasthenen Syndrom) wird eine jährliche Auffrischimpfung empfohlen. Diese sollte mit einem angepassten RNA- oder Proteinimpfstoff erfolgen, wenn die letzte Impfung oder Infektion länger als 12 Monate zurückliegt. Idealerweise sollte die Impfung im Herbst durchgeführt werden.
COVID-19-Impfung
Bisher ungeimpfte Patienten mit Myasthenia gravis sollten eine Grundimmunisierung und zwei Auffrischimpfungen (insgesamt also drei Impfungen) mit einem RNA-Impfstoff (Comirnaty von Biontech oder Spikevax von Moderna) nach altersspezifischer Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) erhalten.
Der Ärztliche Beirat der Deutschen Myasthenie Gesellschaft e.V. rät Personen mit generalisierter Myasthenia gravis generell zu einer zweiten Boosterimpfung. Die Impfung sollte mit einem Omikron-angepassten mRNA-Impfstoff (Comirnaty Original/Omicron von Biontech oder Spikevax bivalent Original/Omicron von Moderna) erfolgen. Die zweite Auffrischimpfung sollte frühestens sechs Monate nach der letzten Impfung oder der letzten Infektion erfolgen. In manchen Fällen (z.B. bei schwerer Immunsuppression) kann der Abstand auf drei Monate verkürzt werden.
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Eine COVID-19-Erkrankung kann das Risiko für eine neu aufgetretene Myasthenie erhöhen, die Beschwerden einer bestehenden Myasthenia gravis verschlechtern oder sogar eine myasthene Krise auslösen. Im Falle einer COVID-19-Erkrankung sollte man auf jeden Fall mit einem Arzt sprechen.
Grippeimpfung
Die Covid-19-Auffrischimpfung kann auch zeitgleich mit der Grippeimpfung verabreicht werden, ein zeitlicher Abstand ist hier nicht notwendig, kann jedoch in Ausnahmefällen bei Patienten überdacht werden, die die Impfungen bisher schlecht vertragen haben.
Die Influenza-Schutzimpfung ist eine für bestimmte Bevölkerungsgruppen empfohlene Schutzimpfung, die durch T-Zell vermittelte Antikörperbildung zu einem wirksamen Schutz gegen saisonale Influenza Erreger führt.
Meningokokken-Impfung
Eine Besonderheit bei der Myasthenia gravis stellt die Impfung gegen Meningokokken dar. Bestimmte Immuntherapeutika die das Komplementsystem inhibieren (Eculizumab / Ravulizumab) gehen mit einem um das 1000-fach erhöhten Risiko einer Meningokokken-Infektion einher, sodass hier eine Meningokokkenimpfung gegen die Serogruppen A, C, Y und W135 (1 x Menveo®) und B (2 x Bexsero® im Abstand von vier Wochen) vor Beginn einer Therapie zwingend erforderlich ist. Wenn eine Impfung oder ein sicherer Impferfolg aufgrund der Krankheitsaktivität nicht abgewartet werden kann, sollte eine prophylaktische Antibiotikatherapie zusätzlich zur Impfung begonnen werden.
Die Meningokokkenimpfung ist bei einer komplementhemmenden Therapie ausnahmslos durchzuführen. Mindestens 2 Wochen vor Beginn der komplementinhibierenden Therapie sollen die Impfung mit einem tetravalenten Impfstoff gegen die Serogruppen A, C, W, Y und mindestens eine Impfung gegen die Serogruppe B erfolgt sein.
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RSV-Impfung
Die STIKO empfiehlt die RSV-Impfung für alle Menschen ab 75 Jahren und „für Personen zwischen 60 und 74 Jahren mit einer schweren Grunderkrankung, welche mit einem deutlich erhöhten Risiko für einen schweren RSV-Krankheitsverlauf einhergeht. Zu diesen Grunderkrankungen gehören schwere Formen von u.a. chronischen Erkrankungen der Atmungsorgane, chronischen Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen, chronischen neurologischen und neuromuskulären Erkrankungen, hämato-onkologischen Erkrankungen, Diabetes mellitus mit Komplikationen sowie einer schweren angeborenen oder erworbenen Immundefizienz.
Weitere Impfempfehlungen
Zu den empfohlenen Indikationsimpfungen bei immunsuppressiver Therapie gehören zusätzlich Impfungen gegen Pneumokokken und Varizella Zoster. Vor Beginn einer Immunsuppression sollte der VZV-Titer einmalig überprüft werden. Bei seronegativen Patienten sollte dann eine Grundimmunisierung erfolgen, welche durch einen Lebendimpfstoff (Zostavax®) erreicht wird und daher zwingend vor Therapiebeginn durchzuführen ist. Patienten unter 18 Jahren wird außerdem eine Impfung gegen Haemophilus influenzae empfohlen.
Impfungen unter Immunsuppressiver Therapie
Patienten, bei denen die Myasthenia gravis mit immunsuppressiven Medikamenten behandelt wird, haben ein erhöhtes Infektionsrisiko, sodass gerade bei diesen Patienten der Schutz vor impfpräventablen Erkrankungen besonders groß ist. Aus diesem Grund sollten alle Patientinnen und Patienten unter einer immunsuppressiven Therapie, unabhängig von ihrem Alter, entsprechend den STIKO-Empfehlungen bei Erkrankungen mit Immundefizienz geimpft werden. Impfungen bauen in dieser Situation teilweise einen weniger sicheren Schutz auf als ohne Autoimmunität. Aber gerade wegen der reduzierten Immunleistung ist dieser Schutz dennoch unverzichtbar.
Grundsätzlich ergeben sich bei der Myasthenia gravis keine Abweichungen oder Besonderheiten bezüglich der Impfempfehlungen bei erworbener Immundefizienz der STIKO. Impfpräventable Infektionen können bei nicht-geimpften Personen mit Myasthenia gravis die Morbidität und Mortalität erhöhen. Beispielsweise weisen bei COVID-19 aktuelle Daten darauf hin, dass Patienten mit Myasthenia gravis ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, insbesondere wenn Myasthenie-spezifische Risikofaktoren vorliegen.
Es gibt keine Evidenz für den Zusammenhang zwischen Impfungen und neu-aufgetretenen, bzw. verschlechterten Verläufen einer Myasthenia gravis.
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Totimpfstoffe vs. Lebendimpfstoffe
Totimpfstoffe sind in der Regel gut verträglich und können grundsätzlich auch unter immunsuppressiver Medikation gegeben werden, da sie inaktive Erreger oder immunogene Bestandteile von Erregern enthalten und nicht infektiös sind. Das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen der Impfung ist bei immunsupprimierten Patienten nicht erhöht. In Abhängigkeit des entsprechenden Medikaments ist hier allerdings mit einer verminderten Impfreaktion zu rechnen. Es kann sinnvoll sein, 4 - 8 Wochen nach Impfung eine serologische Kontrolle durchzuführen. Es muss jedoch beachtet werden, dass es für die wenigsten Antikörper Titer Grenzwerte gibt und lediglich abgeschätzt werden kann, ob eine Impfreaktion vorliegt oder nicht.
Die Verabreichung von Lebendimpfstoffen ist unter Immunsuppression kontraindiziert, da die Immunantwort auf Lebendimpfstoffe derer auf den Wildtyp-Erreger ähnlich ist und dieser Erreger sich hier potenziell replizieren kann. In Fallserien wurde nach Impfungen mit Lebendimpfstoffen von schweren Impfkomplikationen bis hin zum Tod berichtet. Die Lebendimpfungen sollten daher mindestens vier Wochen vor Therapiebeginn abgeschlossen sein und dürfen in der Regel frühestens 3 - 6 Monate nach Beendigung der Therapie wieder angewendet werden.
Timing von Impfungen in Bezug auf Immunsuppressive Therapie
Eine ausführliche Impfanamnese, besonders bezüglich Impfungen, die in der Kindheit erfolgt sind, stellt die Basis des Infektionsschutzes dar und sollte zu Beginn erhoben werden. Alle weiteren empfohlenen oder noch nicht durchgeführten STIKO-Impfungen sollten für einen optimalen Impferfolg mindestens 2, besser 4 Wochen vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie abgeschlossen sein.
Impfungen und die Herstellung einer ausreichenden Immunität vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie werden von der Ständigen Impfkommission empfohlen:„Um einen optimalen Impferfolg zu erzielen, sollten die Impfungen im Allgemeinen möglichst 2, besser 4 Wochen vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie abgeschlossen sein. Sollte dies aus praktischen Gründen nicht möglich sein, wird der Abschluss der Immunisierung vor Beginn der Therapie empfohlen, auch wenn dies mit kürzeren Abständen zwischen der Impfung und der immunsuppressiven Therapie einher geht [Expertenkonsens].“
Spezielle Überlegungen bei Rituximab-Therapie
Bei Patienten mit Rituximab-Therapie sollte die Auffrischimpfung möglichst spät nach der letzten Rituximab-Gabe und die nächste Rituximab-Gabe in der Regel frühestens vier Wochen nach der Auffrischimpfung erfolgen. Bei Rituximab-Therapie sollen Impfungen einen Monat vor einer geplanten Gabe erfolgen oder mindestens einen Monat nach Rituximab-Therapie bzw.
Vor einer Therapie mit Rituximab ist eine Meningokokkenimpfung zwar nicht zwingend erforderlich, wird aber aufgrund der Möglichkeit eines Therapiewechsels auf Komplementinhibitoren bei fehlendem Ansprechen trotzdem empfohlen.
Impfungen bei Komplementinhibitor-Therapie (Eculizumab, Ravulizumab)
Die Blockade der terminalen Komplementkaskade durch Ravulizumab erhöht das Risiko von Infektionen, insbesondere mit bekapselten Bakterien (z. B. Neisseria meningitidis und Neisseria gonorrhoeae). Es wurde über Fälle von Meningokokken-Infektionen bei mit Ravulizumab behandelten Patienten mit paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie und (atypischem) hämolytisch-urämischem Syndrom berichtet. Die Patienten müssen daher mindestens zwei Wochen vor der ersten Verabreichung von Ravulizumab gegen Meningokokken der Serogruppen A, C, Y, W135 (Impfstoffe: Menveo®, Nimenrix®, jeweils eine Dosis) und B (Impfstoffe: Bexsero® [2 Dosen], Trumenba® [2 oder 3 Dosen]) geimpft werden.
Die Impfstoffe gegen Meningokokken der Serogruppen A, C, Y, W135 bzw. B können bei der ersten Gabe an separater Injektionsstelle (bevorzugt: Deltamuskel der Oberarme) gleichzeitig gegeben werden. Die Impfung mit Bexsero® muss mit mindestens vier Wochen Abstand einmalig wiederholt werden. Die Impfung mit Trumenba® kann entweder nach sechs Monaten einmalig oder mit mindestens vier Wochen Abstand und danach erneut mit mindestens vier Monaten Abstand wiederholt werden.
Wenn ein sofortiger Behandlungsbeginn notwendig ist (z.B. bei myasthener Verschlechterung), muss eine Antibiotikaprophylaxe gestartet und bis zwei Wochen nach der ersten Impfung fortgeführt werden. Da Chinolone eine MG verschlechtern können, kommen hierfür in Frage: 1. Wahl: Penicillin V 2 x 1 Mio IE/Tag p.o. (CAVE: Keine zuverlässige Elimination von Meningokokken aus dem Nasen-Rachen-Raum), 2. Wahl: Cefixim 1 x 200 mg/Tag p.o. (CAVE: Begünstigung von Resistenzbildungen und Clostridium difficile-Colitis), ggf. auch Rifampicin 2x 600mg/ Tag p.o. (cave: Interaktionen).
Die Antibiotikatherapie sollte erst unter laufender Ravulizumab-Therapie durchgeführt werden. Eine erfolgte Impfung schließt allerdings eine mögliche Meningokokkeninfektion nicht aus. Im weiteren Verlauf wird eine Auffrischung alle zwei bis drei Jahre empfohlen. Zudem sollte der Impfstatus generell vor Therapie überprüft und ggf. aktualisiert werden.
Vorgehen bei unklarem Impfstatus
Bei unklarer Impfsituation (bspw. durch Fehlen von medizinischen Dokumentationen) kann eine serologische Kontrolle Aufschluss geben.
Beeinflussung der Impfantwort durch Immuntherapie
Grundsätzlich ist sowohl bei fortgesetzter Immuntherapie als auch bei nachwirkenden Effekten einer vorausgegangenen Immuntherapie nicht auszuschließen, dass die Impfantwort auf die Meningokokkenimpfung bei der NMOSD oder MG suboptimal sein kann. In der ExpertInnengruppe herrscht jedoch Konsens, dass die nicht auszuschließende Möglichkeit einer suboptimalen Impfantwort unter oder nach Immuntherapie die Einleitung einer Therapie mit Komplementinhibitoren nicht verzögern soll. Eine etwaig suboptimale Impfantwort kann durch Impftiterbestimmungen nicht sicher beurteilt werden und stellt somit keine Indikation für eine zusätzliche antibiotische Dauerprophylaxe dar. zu erwägen, PatientInnen mit gMG vor Beginn einer Immuntherapie mit MMF oder Anti-CD20-Antikörpern präemptiv gegen Meningokokken zu impfen.
Überwachung und Management nach der Impfung
Nach der Impfung sollten Patienten gezielt nach Zeichen einer Infektion (insbes. systemische Infektion oder Meningitis) befragt bzw. untersucht werden.
Impftiterkontrollen
Impfkontrollen unter Therapie mit Komplementinhibitoren sind nicht zu empfehlen.
Umgang mit Impfreaktionen
Impfungen können banale Impfreaktionen (Fieber) hervorrufen und Symptome neuroimmunologischer Erkrankungen passager verstärken.
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