Myasthenia gravis: Labordiagnostik und Leitlinien

Die Myasthenia gravis ist eine erworbene Autoimmunerkrankung, die durch eine Störung der neuromuskulären Übertragung gekennzeichnet ist. Meist werden Autoantikörper gegen Acetylcholinrezeptoren (AChR) gebildet, die sich gegen prä- oder postsynaptische Strukturen an der neuromuskulären Endplatte richten. Seltener sind Antikörper gegen die muskelspezifische Kinase (MuSK) oder das Lipoprotein-related Protein 4 (LRP4) nachweisbar. Die Erkrankung ist oft mit Thymusveränderungen assoziiert.

Epidemiologie der Myasthenia gravis

Die Inzidenz der Myasthenia gravis liegt zwischen 0,2 und 3,5 pro 100.000 Menschen pro Jahr. In Deutschland liegt die Prävalenz der Erkrankung bei 10-36 pro 100.000 Personen. Frauen erkranken häufiger im Alter von 20-40 Jahren, während Männer häufiger ab dem 5. Lebensjahrzehnt betroffen sind. Bei 70-80 % der Patientinnen und Patienten mit initial okulärer Symptomatik kommt es in den ersten 2 - 3 Jahren zu einer Generalisierung der Erkrankung.

Pathophysiologie der Myasthenia gravis

Bei der Myasthenia gravis blockieren Autoantikörper postsynaptische Acetylcholinrezeptoren an den motorischen Endplatten zwischen Neuronen und Muskeln, was letztendlich zu deren Zerstörung führt. Dies verhindert die neuromuskuläre Übertragung und führt zu einer abnormen Ermüdbarkeit der Muskulatur. Physiologischerweise fusionieren bei der neuromuskulären Übertragung mit Acetylcholin gefüllte Vesikel mit der präsynaptischen Membran. Die ausgeschütteten Transmitter binden reversibel an postsynaptische nikotinerge Rezeptoren, was zur Öffnung von Ionenkanälen führt. Ein Natriumeinstrom depolarisiert die Muskelzelle und ermöglicht die Erregungsübertragung. Acetylcholin wird durch Cholinesterase gespalten und in die Synapse wieder aufgenommen.

Den myasthenen Syndromen liegt eine Störung dieser Reizübertragung zugrunde. Defekte können präsynaptisch (unzureichende Transmittersynthese oder gestörte Vesikelfreisetzung), im synaptischen Spalt (Diffusionsstörung des Acetylcholins) oder postsynaptisch (Blockade durch Autoantikörper) vorliegen.

Neben autoimmunen Faktoren spielen auch genetische Prädispositionen, Infektionen, Medikamente, Traumata und Thymusveränderungen eine Rolle bei der Entstehung der Myasthenie. Bei den meisten Betroffenen finden sich Thymushyperplasien (85%) oder Thymome (10-15%). Es besteht eine Assoziation zu anderen Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto-Thyreoiditis oder rheumatoider Arthritis.

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Klinische Symptomatik

Das Leitsymptom der Myasthenie ist eine abnorme Ermüdbarkeit der quergestreiften Muskulatur bei Belastung. Häufige Frühsymptome sind Doppelbilder und Ptosis, Schluck- und Kaustörungen, Veränderungen der Phonation sowie eine generalisierte Schwäche der Extremitäten. Die Beschwerden nehmen im Laufe des Tages zu. Viele Patienten entwickeln ein therapierefraktäres Fatigue-Syndrom.

Klinische Auffälligkeiten zeigen sich im Arm-, Bein- und Kopfhalteversuch: Die Testungen sind positiv, wenn die Extremitäten oder der Kopf vorzeitig absinken. Ein klinischer Test, der eine abnorme Ermüdbarkeit der Muskulatur bestätigen kann, ist der „Simpson-Test“. Hierbei werden Betroffene darum gebeten, lange nach oben zu blicken - bei Myasthenie-patienten nimmt die Ptose innerhalb einer Minute deutlich zu.

Myasthene Krise

Bei der myasthenen Krise handelt es sich um eine lebensbedrohliche Exazerbation der Erkrankung, bei der vor allem die Atemmuskulatur betroffen ist. Häufige Auslöser sind Infektionen oder einige Medikamente bzw. Medikamenteneinnahmefehler, v. a. bei älteren, multimorbiden Patienten. Betroffene sollten intensivmedizinisch überwacht und ausführlich gemonitort werden.

Labordiagnostik

Die Basis der Labordiagnostik ist die Suche nach Acetylcholinrezeptor-Antikörpern (Anti-AChR-AK). Können diese trotz klinischem Verdacht nicht gefunden werden, sollte nach Antikörpern gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (Anti-MuSK-AK), Antikörper gegen spannungsgesteuerte Calciumkanäle (Anti-VGCC-AK), Antikörper gegen Lipoprotin-related Protein 4 (Anti-LRP4-AK) und Antikörper gegen Agrin (Anti-Agrin-AK) gefahndet werden.

Zum Routinelabor gehören kleines Blutbild, CRP, Elektrolyte und Schilddrüsenhormone. Im Einzelfall kann eine Lumbalpunktion zum Ausschluss entzündlicher ZNS-Erkrankungen und eine molekulardiagnostische Testung die Diagnostik ergänzen.

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Antikörper-Diagnostik im Detail

  • Acetylcholinrezeptor-Antikörper (AChR-AK): Positive Ergebnisse finden sich bei 80-90% der Patienten mit generalisierter Myasthenia gravis und bei 50-70% der Patienten mit okulärer Verlaufsform. Bei paraneoplastischer Myasthenie und Thymom sind sie nahezu immer positiv. Es besteht keine Korrelation mit der Klinik.
  • Antikörper gegen muskelspezifischen Tyrosinkinase-Rezeptor (MuSK): Bei fehlendem Nachweis von AChR-AK, jedoch weiterem Verdacht auf Myasthenia gravis, sollte dieser Antikörper bestimmt werden.
  • Antinukleäre Antikörper (ANA): Die Bestimmung von ANAs ist wichtig zur Diagnose der ANA-assoziierten rheumatischen Erkrankungen wie dem systemischen Lupus erythematodes, der systemischen Sklerose, dem Sjögren Syndrom, der Mixed connective tissue disease, und den inflammatorischen Myopathien.

Weitere diagnostische Tests

  • Edrophoniumtest: Die intravenöse Gabe des kurzwirksamen Acetylcholinesterasehemmers Edrophonium erhöht die Acetylcholinkonzentration im Blut und verbessert Myastheniebeschwerden nach ca. 30 Sekunden für wenige Minuten.
  • Elektromyographie: Elektromyographisch können über eine Oberflächenelektrode Potentiale bei repetitiver Stimulation eines Muskels abgelesen werden. Es zeigt sich ein sog. „Decrement“, d. h. eine Abnahme des Muskelsummenaktionspotentials.
  • Tensilontest: Intravenöse Gabe von Edrophoniumchlorid (Acetylcholinesterasehemmer) unter Monitoring => Besserung der myasthenen Symptomatik für wenige Minuten.
  • Neostigmin-Test: Die Wirkung tritt erst nach einigen Minuten ein und hält über eine Stunde an. Der Test wird durchgeführt, wenn die Beurteilung der Symptome erschwert ist.
  • Kältetest: Kühlung des Auges (z.B. mit Eis) kann die Symptome verbessern.

Bildgebung

Bei Verdacht auf eine Myasthenie sollte eine Bildgebung des Thorax durchgeführt werden, um etwaige Thymusveränderungen aufzuzeigen (CT oder MRT).

Differentialdiagnosen

Okuläre Symptome, die einer Myasthenie ähneln, können auch auf eine okulopharyngeale Muskeldystrophie oder die Affektion einzelner Hirnnerven hinweisen. Die wichtigsten Differentialdiagnosen sind jedoch andere Störungen der neuromuskulären Übertragung, z.B. das Lambert-Eaton-Syndrom.

Beim Lambert-Eaton-Syndrom liegt eine präsynaptische Störung der neuromuskulären Übertragung vor. Es werden Antikörper gegen Voltage-sensitive Kalziumkanäle der Nervenendigungen gebildet, die zu einer verminderten Freisetzung des Transmitters Acetylcholin führen. Klinisch stehen vor allem Muskelschwächen der proximalen Becken- und Beinmuskulatur im Vordergrund. Elektromyographisch findet sich im Gegensatz zur Myasthenie ein Inkrement.

Die Liste der Differentialdiagnosen umfasst in erster Linie sämtliche myopathische und myositische Erkrankungen wie Pathologien an den alpha-Motoneuronen Medikamenten-induzierte Phänomene (z. B. bei D-Penicillamin, Chloroquin), autoimmunologische Polyneuritiden sowie auch Erreger-assoziierte Erkrankungen (z. B. Botulismus) usw.

Therapie

Die wichtigste symptomatische Basistherapie der Myasthenia gravis sind Cholinesterasehemmer. In der aktuellen Leitlinie wird als Medikament der Wahl für die Langzeitbehandlung Pyridostigmin-Bromid empfohlen, welches auch als retardiertes Präparat zur Verfügung steht. Unerwünschte Nebenwirkungen sind v.a. Übelkeit, Diarrhö, Akkommodationsstörungen und Bradykardien. Bei einer Überdosierung von Cholinesterasehemmern kann es zu einer Exazerbation dieser Symptome im Sinne einer cholinergen Krise kommen. Therapeutisch kann in diesem Fall als Antidot Atropin verabreicht werden.

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Ein alternativer Cholinesterasehemmer ist Ambenonium-Chlorid, der weniger muskarinerge, aber mehr zentralnervöse Nebenwirkungen verursacht und v.a. bei Pyridostigminunverträglichkeiten angewendet wird. Andere Pharmaka sind Neostigmin, das nur parenteral verfügbar ist und v.a. in der Anästhesie gebraucht wird, und Distigmin-Bromid, das durch eine lange Wirksamkeit schlecht steuerbar ist. Edrophonium-Chlorid ist nur zu diagnostischen Zwecken zugelassen.

Vor allem bei unzureichender Therapie durch Cholinesterasehemmer, aber auch zur Verhinderung des Übertretens einer okulären in eine generalisierte Myasthenie sollten Immunsuppressiva eingesetzt werden. Mittel der Wahl sind hierfür Glukokortikoide in Kombination mit Azathioprin.

Im Falle einer myasthenen Krise können die pathogenen Antikörper durch intravenöse Immunglobuline oder eine Plasmapherese neutralisiert werden.

Kann ein Thymom nachgewiesen werden, sollte unabhängig vom Schweregrad der Myasthenia gravis eine Thymektomie erfolgen. Bei generalisierter Myasthenie kann dieser Eingriff auch unabhängig von einem Thymomnachweis erfolgen, bei Myastheniepatienten mit Nachweis von MuSK-Antikörpern wird eine Thymektomie hingegen nicht empfohlen.

Mycophenolat Mofetil (MMF)

Mycophenolat Mofetil (MMF) ist in Deutschland zur Prophylaxe einer Abstoßungsreaktion nach Organtransplantation zugelassen. Für die Behandlung der Myasthenia gravis (MG) liegt keine Zulassung vor. Nach einem Bescheid des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ist MMF bei Patienten erstattungsfähig, „bei denen sich Azathioprin (AZA) als unverträglich erwiesen hat (Unverträglichkeit) oder bei denen sich AZA bei einer ausreichend dosierten Therapie als nicht ausreichend wirksam erwiesen hat oder eine Absenkung der begleitenden Kortikoid-Dosis unter die Cushing-Schwelle nicht erreichbar war (Therapieresistenz)“.

Abhängig von möglichen Vorerkrankungen und dem Alter des Patienten sowie unter Berücksichtigung der Risiken und Nebenwirkungen sollte eine immunsuppressive Therapie mit MMF 2 g/Tag per os erfolgen. Die Therapie wird mit 2 x 500 mg/Tag begonnen und dann auf insgesamt 2 x 1 g/Tag per os unter regelmäßigen Laborkontrollen innerhalb weniger Wochen aufdosiert. MMF sollte vor oder mit dem Essen und mit zwei Stunden Abstand zu Eisenpräparaten und Antazida / Protonenpumpenhemmern eingenommen werden. Mit einem vollen Wirkungseintritt ist frühestens nach 8 - 12 Wochen zu rechnen. Daher sollte auch die MMF-Therapie in den ersten Monaten bis Wirkungseintritt in Kombination mit einer oralen Steroidtherapie erfolgen. Die bekannten Steroidnebenwirkungen müssen berücksichtigt und die Komedikation beachtet werden (z.B. Osteoporoseprophylaxe). Grundsätzlich ist eine Monotherapie mit MMF anzustreben, und die orale Steroidtherapie sollte im weiteren Verlauf ausgeschlichen und abgesetzt werden.

MMF wirkt stark teratogen und darf nicht in der Schwangerschaft angewendet werden, weshalb eine effektive Kontrazeption für Frauen und Männer empfohlen wird (obligat). Patientinnen sollten bis sechs Wochen nach Beendigung der Behandlung mindestens eine zuverlässige Form der Kontrazeption anwenden.

Grundsätzlich können Impfungen mit sogenannten Totimpfstoffen, mRNA Impfstoffen und Vektorimpfstoffen während der Therapie mit MMF erfolgen. Die Wirksamkeit von Impfungen kann während der Therapie mit MMF eingeschränkt sein. Ggf. ist der Impferfolg mittels Titerkontrolle zu überprüfen (fakultativ).

Weitere Therapieansätze

  • Thymektomie: Patienten in der Subgruppe des „ early-onset“ mit generalisierter Myasthenie profitieren von einer Thymektomie, wenn diese innerhalb eines gewissen Zeitraumes durchgeführt wird. Bei fehlendem Nachweis von Autoantikörpern erscheint der Vorteil einer Thymektomie fraglich beziehungsweise nicht gegeben. Wird ein Thymom nachgewiesen, so besteht die Indikation zur Operation. Bei lokal-invasiven Thymomen ist die adjuvante Chemotherapie indiziert.
  • Plasmapherese und Immunadsorption: Bei der Immunadsorption wird Blut durch ein spezielles Filtersystem geleitet, das gezielt die schädlichen Antikörper bindet und herausfiltert.
  • Intravenöse Immunglobuline (IVIG): Antikörper, welche aus gepoolten Blutplasmaspenden von mehreren tausend Spendern gewonnen werden, um die Autoimmunreaktion bei Myasthenia gravis zu hemmen. Zur Therapie werden sie intravenös verabreicht.

Verlauf und Prognose

Es handelt sich bei der Myasthenie um eine chronische Erkrankung, bei der jedoch in 75 % der Fälle unter adäquater Therapie eine nur minimale Krankheitsmanifestation und teilweise sogar eine komplette Remission möglich ist. Allerdings kann es jederzeit zur Reaktivierung kommen. Im Falle einer myasthenen Krise liegt die Letalität bei ca. 4-10%, auch unter intensivmedizinischer Behandlung.

Prophylaxe und Patienteninformation

Eine Prophylaxe für die Entstehung einer Myasthenie gibt es nicht. Betroffene sollten bei körperlicher Betätigung Ruhepausen einhalten, leichter Sport ist jedoch meist unproblematisch. Betroffenen kann z. B. durch die Deutsche Myasthenie Gesellschaft ein sog. „Myasthenie-Pass“ ausgestellt werden, der u.a. für Notfallsituationen wichtige Informationen liefern kann.

Bei Kinderwunsch sollte zunächst eine Remission der Grunderkrankung hergestellt werden, da Autoantikörper plazentar übertreten können. Neugeborene von an Myasthenie erkrankten Müttern leiden in 10-20% an einer vorübergehenden Myasthenie-Symptomatik (sog. „neonatale Myasthenie“), sie haben im Verlauf jedoch kein erhöhtes Krankheitsrisiko. In der Schwangerschaft muss im Rahmen der Glucocorticoidtherapie an ein erhöhtes Risiko für Gestationsdiabetes gedacht werden.

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