Myasthenia Gravis und Anästhesie: Informationen für Patienten und medizinisches Fachpersonal

Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, die durch eine belastungsabhängige Muskelschwäche gekennzeichnet ist. Dieser Artikel bietet umfassende Informationen über Myasthenia gravis im Zusammenhang mit Anästhesie, um Patienten und medizinischem Fachpersonal ein besseres Verständnis der Erkrankung und ihrer Behandlung zu ermöglichen.

Was ist Myasthenia Gravis?

Myasthenia gravis (MG) ist eine chronische Autoimmunerkrankung, die die neuromuskuläre Übertragung beeinträchtigt. Der Name leitet sich aus dem Griechischen (mys = Muskel, asthenie = Schwäche) und Lateinischen (gravis = schwer) ab und beschreibt die Hauptsymptome der Erkrankung: schmerzlose, belastungsabhängig zunehmende Schwäche der quergestreiften Muskulatur.

Epidemiologie

Die Inzidenz von Myasthenia gravis liegt bei etwa 1-2/100.000, während die Prävalenz je nach Population zwischen 1-5:10.000 liegt. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer (Verhältnis 3:2). Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten, manifestiert sich jedoch am häufigsten zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr (vor allem bei Frauen) und dem 60. und 70. Lebensjahr (vor allem bei Männern).

Klassifikation

Die Myasthenia gravis wird häufig nach der Klassifikation nach Osserman eingeteilt:

  • Typ I: Lokale, okuläre Myasthenie
  • Typ IIa: Leicht generalisierte Form
  • Typ IIb: Schwere generalisierte Form mit Beteiligung der faziopharyngealen und Atemmuskulatur
  • Typ III: Akute, rasch progrediente generalisierte Form mit Beteiligung der Atemmuskulatur
  • Typ IV: Spätform mit generalisierter Symptomatik, die sich innerhalb von 2 Jahren aus Typ IIa und b entwickelt hat
  • Typ V: Defektmyasthenie, Entwicklung aus Typ II und III

Neuere Publikationen verwenden zunehmend die Klassifikation der amerikanischen Myasthenia gravis Gesellschaft (MGFA), welche die Patienten nach dem maximalen klinischen Schweregrad klassifiziert und nicht nach dem aktuellen Status.

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Symptome

Die Symptome der Myasthenia gravis können vielfältig sein, da verschiedene Muskelgruppen betroffen sein können. Typische Symptome sind:

  • Okuläre Symptome: Ptosis (Herabhängen der Augenlider), Diplopie (Doppelbilder), Sichtbarbleiben der Wimpern bei schwachem Lidschluss ("Signe des cils")
  • Generalisierte Symptome: Beteiligung der kranialen, Extremitäten- und Rumpfmuskulatur, faziopharyngeale und Atemmuskulatur, verwaschene Sprache, Schwierigkeiten beim Schlucken, allgemeine Muskelschwäche, Atemnot bei Anstrengung
  • Neonatale Myasthenie: Transitorische myasthene Symptome bei Neugeborenen myasthener Mütter aufgrund der Übertragung von IgG-Autoantikörpern über die Plazenta.

Die Intensität der Beschwerden kann im Tagesverlauf oder nach körperlicher Belastung zunehmen und sich nach Ruhephasen bessern.

Diagnose

Die Diagnose der Myasthenia gravis erfolgt anhand der Anamnese, des klinischen Befunds sowie serologischer, elektrophysiologischer oder pharmakologischer Untersuchungen:

  • Serologie: Nachweis von Autoantikörpern gegen Acetylcholinrezeptoren oder MuSK (muskelspezifische Kinase)
  • Elektrophysiologie: Nachweis eines "Dekrements", d. h. einer Abnahme der Muskelkontraktionskraft bei repetitiver Stimulation
  • Pharmakologischer Test: Gabe des kurzwirksamen Cholinesteraseinhibitors Edrophonium (Tensilon®), was zu einer Besserung des klinischen Bildes führt

Pathophysiologie

Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Autoantikörper die Funktion der neuromuskulären Endplatte stören. Bei etwa 80 % der Patienten mit generalisierter Myasthenia gravis und 40 % der Patienten mit okulärer Myasthenia gravis lassen sich Autoantikörper gegen die α-Untereinheit des nikotinischen Acetylcholinrezeptors nachweisen. Diese Antikörper führen zu einem erhöhten Abbau von Acetylcholinrezeptoren, einer direkten Blockade funktionsfähiger Rezeptoren sowie einer komplementvermittelten Zerstörung der postsynaptischen Membran. Bei bis zu 40 % der Patienten mit generalisierter Myasthenia gravis können Antikörper gegen die Rezeptortyrosinkinase MuSK nachgewiesen werden.

Die Bildung der Antikörper erfolgt im Thymus und im lymphatischen System. Bei etwa 70 % der Patienten unter 40 Jahren mit Anti-Acetylcholinrezeptor-Antikörpern zeigt der Thymus histologisch das Bild einer Thymitis mit lymphofollikulärer Hyperplasie mit Keimzentren.

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Behandlung

Myasthenia gravis ist eine der am besten behandelbaren Autoimmunerkrankungen. Ziel ist die klinische Beschwerdefreiheit mit optimaler Lebensqualität. Die Behandlung umfasst:

  • Thymektomie: Operative Entfernung des Thymus, insbesondere bei Vorliegen eines Thymoms und bei Patienten unter 45 Jahren
  • Medikamentöse Therapie:
    • Acetylcholinesteraseinhibitoren (z. B. Pyridostigmin) zur Verlängerung der Acetylcholinaktivität im synaptischen Spalt
    • Immunsuppressiva (z. B. Glukokortikosteroide, Azathioprin) zur Reduktion der Autoantikörperproduktion
    • Plasmapherese oder Immunoabsorption zur Entfernung von Autoantikörpern aus dem Blut
    • Intravenöse Immunglobuline (IVIG) zur Modulation des Immunsystems

Myasthenia Gravis und Anästhesie

Patienten mit Myasthenia gravis benötigen bei operativen Eingriffen eine besondere anästhesiologische Betreuung. Die Stadieneinteilung nach Osserman liefert Informationen zu Dauer und Ausprägung der Erkrankung und ermöglicht eine präoperative Risikoeinschätzung.

Präoperative Vorbereitung

  • Klinische Untersuchung: Eine ausführliche klinische Untersuchung ist für die Beurteilung des kardiopulmonalen und neurologischen Status unerlässlich.
  • Medikation: Die Medikation des Patienten sollte bis zur Narkoseeinleitung im bisherigen Tagesrhythmus fortgeführt werden, insbesondere die Cholinesteraseinhibitoren.
  • Voruntersuchungen: Für kleinere Eingriffe bei klinisch unauffälligen, medikamentös gut eingestellten Patienten sind keine speziellen Voruntersuchungen nötig. Bei größeren Eingriffen (z. B. Thymektomie) muss präoperativ die Lungenfunktion untersucht werden.
  • Laboruntersuchungen: Neben den üblichen Laboruntersuchungen muss ein Elektrolytstatus erhoben werden, der auch Kalzium-, Phosphor- und Magnesiumspiegel beinhaltet.

Anästhesieverfahren

  • Regionalanästhesie: Wenn möglich, sollte die Regionalanästhesie (peripher oder rückenmarksnah) bevorzugt werden, um Narkotika und Muskelrelaxanzien zu vermeiden.
  • Allgemeinanästhesie: Falls eine Allgemeinanästhesie erforderlich ist, sollten kurz wirksame Medikamente wie Propofol und Remifentanil bevorzugt werden. Auch schnell abflutende inhalative Anästhetika (Desfluran, Sevofluran) eignen sich gut zur Aufrechterhaltung der Narkose, wirken jedoch selbst muskelrelaxierend und verstärken die Wirkung von Muskelrelaxanzien.

Muskelrelaxanzien

Die Gabe von Muskelrelaxanzien bei Patienten mit Myasthenia gravis ist ein zentrales, bisher kritisch diskutiertes Thema.

  • Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien: Patienten mit Myasthenia gravis sind außerordentlich sensibel gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien. Ein TOF-Quotient unter 0,90 vor Einleitung der Narkose weist auf eine erhöhte Sensibilität hin und macht eine vorsichtige Titrierung notwendig.
  • Depolarisierende Muskelrelaxanzien (Succinylcholin): Die Wirkung von Succinylcholin ist bei Patienten mit Myasthenia gravis unsicher. Wegen der reduzierten Anzahl von Acetylcholinrezeptoren ist es möglich, dass Succinylcholin die Endplatte nicht effektiv depolarisiert. Für eine "rapid sequence induction" (RSI) mit Verwendung von Succinylcholin sollte daher die Dosis auf 1,5-2,0 mg/kg erhöht werden.
  • Sugammadex: Die Kombination eines steroidalen Muskelrelaxans (Rocuronium, Vecuronium) zur Narkoseeinleitung und -führung und die Gabe des Enkapsulators Sugammadex zur Aufhebung der neuromuskulären (Rest-)Blockade am Ende der Operation erscheint pharmakokinetisch und -dynamisch am sinnvollsten. Durch den rezeptorfernen Mechanismus der Enkapsulierung inaktiviert Sugammadex Steroidmuskelrelaxanzien und greift nicht wie Cholinesteraseinhibitoren in die bereits gestörte neuromuskuläre Übertragung ein.

Überwachung und Nachsorge

  • Neuromuskuläres Monitoring: Ein neuromuskuläres Monitoring ist essenziell, um die Effektivität der Muskelrelaxation und die Reversierung zu überprüfen.
  • Postoperative Überwachung: Patienten mit Myasthenia gravis bedürfen postoperativ einer intensiven Überwachung, insbesondere nach Thymektomien.
  • Medikation: Die Patienten sollten möglichst bald wieder eine adäquate orale Medikation mit Pyridostigmin erhalten. Die übliche Dosis an Pyridostigmin wird nach einer Thymektomie daher um ( {1}\left/ {3}\right. ) reduziert.
  • Differenzialdiagnose: Da sich myasthene und cholinerge Krisen in ihren wichtigsten Symptomen wie Ateminsuffizienz, Unruhe und Schwitzen sehr ähnlich sind, fällt die klinische Unterscheidung nicht leicht. Mit Hilfe des neuromuskulären Monitorings können sie jedoch anhand des myasthenen Fading unterschieden werden.

Besonderheiten bei anderen neuromuskulären Erkrankungen

Neben der Myasthenia gravis gibt es weitere neuromuskuläre Erkrankungen, die bei der Anästhesie besondere Beachtung erfordern:

  • Lambert-Eaton-Syndrom: Charakterisiert durch proximale Muskelschwäche mit Areflexie und autonomer Dysfunktion. Patienten reagieren sehr empfindlich sowohl auf nichtdepolarisierende als auch nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien. Cholinesterasehemmer führen eher zu einer Verschlechterung der Symptomatik.
  • Muskeldystrophien: In Abhängigkeit von der Erkrankung sind für den Anästhesisten (Narkosearzt) spezielle Dinge bei der Auswahl des Narkoseverfahrens und der Medikamente zu beachten. Das depolarisierende Muskelrelaxans Succinylcholin wird vermieden.

Seltene Erkrankungen und Anästhesie

Millionen Menschen weltweit leiden unter sogenannten „seltenen Erkrankungen“, die Bezeichnungen haben wie Myasthenia gravis, Eisenmenger Syndrom oder Von-Hippel-Lindau-Krankheit. Weil Narkosen für diese Patientinnen und Patienten nicht immer unbedenklich sind, hält die Initiative „OrphanAnesthesia“ im Internet seit mehr als zehn Jahren hilfreiche Empfehlungen bereit. Anästhesistinnen und Anästhesisten können sie vor einer Narkose herunterladen.

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Tipps für Patienten mit Myasthenia Gravis

  • Teilen Sie sich Ihre täglichen Aufgaben gut ein und legen Sie regelmäßig Pausen ein.
  • Nutzen Sie gezielte Entspannungstechniken, um psychischen Stress zu reduzieren.
  • Achten Sie auf eine ausreichende Schlafdauer von mindestens sieben bis acht Stunden pro Nacht.
  • Informieren Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt über alle Medikamente, die Sie einnehmen, und fragen Sie nach möglichen Wechselwirkungen.
  • Achten Sie auf eine ausgewogene Ernährung mit frischen Lebensmitteln.
  • Betreiben Sie regelmäßige, moderate Bewegung.
  • Versuchen Sie, das Ansteckungsrisiko für Infektionen zu minimieren.
  • Planen Sie bei Reisen ausreichend Pausen ein und vermeiden Sie Temperaturextreme.

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