Hoffnungsschimmer nach der Lähmung: Möglichkeiten zur Wiedererlangung der Gehfähigkeit

Die Diagnose Lähmung, insbesondere die Querschnittslähmung, stellt für Betroffene einen einschneidenden Einschnitt in ihr Leben dar. Der Verlust der Fähigkeit zu gehen bedeutet oft einen Verlust an Unabhängigkeit und Lebensqualität. Doch die medizinische Forschung hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte erzielt, die neue Hoffnung auf die Wiedererlangung der Gehfähigkeit wecken. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Möglichkeiten und Therapieansätze, die Menschen nach einer Lähmung zur Verfügung stehen, um ihre Mobilität wiederzuerlangen.

Neurostimulation: Ein Hoffnungsschimmer für Querschnittsgelähmte

Eine besonders vielversprechende Entwicklung ist die Neurostimulation. Hierbei werden elektrische Impulse genutzt, um das Rückenmark zu stimulieren und so die Nervenbahnen zu aktivieren, die für die Steuerung der Beinmuskulatur verantwortlich sind.

Erfolgreiche Studien in der Schweiz und den USA

In der Schweiz konnten Forscher durch den Einsatz eines ferngesteuerten Implantats, das elektrische Impulse aussendet, drei Männern, die von der Hüfte abwärts gelähmt waren, ermöglichen, wieder zu laufen. Bereits innerhalb einer Woche nach Behandlungsbeginn konnten die Männer mit Gehhilfen umherlaufen. Die Ergebnisse dieser Studie, die im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurden, folgten auf ähnliche Berichte über Therapien, die Patienten mit schweren Rückenmarksverletzungen ermöglichten, zum ersten Mal seit Jahren wieder zu laufen.

Ein Team der University of Louisville berichtete im September ebenfalls über Erfolge mit der Neurostimulation der Wirbelsäule. Zwei Patienten konnten durch diese Therapie wieder selbstständig stehen und unter Zuhilfenahme von Gehhilfen laufen.

Personalisierte Stimulation durch Smartphone-App

Ein wesentlicher Unterschied der Schweizer Studie zu früheren Ansätzen ist die Entwicklung einer Smartphone-App, mit der die Stimulation in Echtzeit über ein Tablet gesteuert werden kann. Dies ermöglicht eine personalisierte Anpassung der Stimulation an die individuellen Bedürfnisse des Patienten.

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Wie funktioniert die Neurostimulation?

Die meisten Menschen denken nicht bewusst über das Gehen nach. Unser Gehirn sendet Signale durch das Rückenmark zu unserer Beinmuskulatur. Bei einer Querschnittslähmung sind diese Nervenbahnen unterbrochen. Die Neurostimulation zielt darauf ab, diese Nervenbahnen wieder zu aktivieren, indem sie die neuronalen Verknüpfungen in der Wirbelsäule anspricht.

Chad Bouton, Direktor des Zentrums für bioelektronische Medizin am Feinstein Institute for Medical Research in New York, erklärt, dass die Nervenbahnen bei vielen Patienten weitgehend intakt und funktionsfähig sind. Die Stimulation hilft, diese Bahnen wieder zu aktivieren.

Implantation von Elektroden und Steuerung der Stimulation

Im Rahmen der Studie von Courtine wurden den drei Teilnehmern je 16 kleine Elektroden im unteren Bereich ihrer Wirbelsäule implantiert. Jede Elektrode wurde so platziert, dass sie eine bestimmte Muskelgruppe in den Beinen aktiviert. Ein kleines Gerät im Bauchraum generiert die elektrischen Impulse und ist mit allen Elektroden verbunden. Dieses Gerät wird bereits zur Hirnstimulation bei Parkinson-Patienten eingesetzt.

Umlenkung der Verbindungen zwischen Gehirn und Wirbelsäule

Überraschenderweise konnten zwei der drei Männer ihre Beinmuskulatur weiterhin kontrollieren, nachdem die elektrischen Impulse wieder deaktiviert wurden. Dies deutet darauf hin, dass die Stimulation die Verbindungen zwischen dem Gehirn und der Wirbelsäule umlenken könnte.

Moritz vergleicht den Stimulator mit einer Art Hörgerät oder Verstärker für die Wirbelsäule.

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Frühe Phase der Anwendung und weitere Forschung

Obwohl die Ergebnisse vielversprechend sind, befindet sich die Anwendung von Neurostimulation bei Lähmungen noch in einer frühen Phase. Die Wissenschaftler wissen noch nicht genau, wie sich die Bewegungsfähigkeit damit wiederherstellen lässt.

Kristin Zhou vermutet, dass ein Befehl für eine Bewegung vom Gehirn an die unteren Extremitäten geht und dass die Stimulation irgendwie dazu beiträgt, dass der Befehl ausgeführt werden kann.

Courtine und sein Team benutzten das Tablet, um das Stimulationsmuster zu aktivieren und zu deaktivieren, je nachdem, wo sich die Füße des Patienten in Relation zum Boden gerade befanden. Sie vermuten, dass dieses wiederholte Auslösen der Stimulation in Echtzeit besser funktioniert als eine durchgehende Stimulation.

Andere Bedürfnisse von Querschnittsgelähmten

Moritz weist darauf hin, dass Querschnittsgelähmte auch andere Bedürfnisse haben als die Fähigkeit zu laufen. Eine Umfrage aus dem Jahr 2004 ergab, dass die Fähigkeit zu laufen für Menschen mit Rückenmarksverletzungen erst auf Platz vier der Prioritätenliste steht. Glücklicherweise gibt es Anzeichen dafür, dass Neurostimulation auch bei diesen Problemen Abhilfe schaffen könnte.

Aktuell wird die Behandlung aber nur an wenigen ausgewählten Patienten unter dem Gesichtspunkt der Forschung angewendet.

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Rehabilitation und Training: Wichtige Bausteine auf dem Weg zur Mobilität

Neben der Neurostimulation spielen Rehabilitation und gezieltes Training eine entscheidende Rolle bei der Wiedererlangung der Gehfähigkeit nach einer Lähmung.

Intensives Training auch nach der Klinikentlassung

Patienten, die wegen eines Schlaganfalls oder einer inkompletten Querschnittlähmung nur eingeschränkt gehen können, sollten auch nach der Entlassung aus der Klinik ihre Gehfähigkeit intensiv weiter trainieren. Bisher existieren aber keine effektiven Therapiegeräte für den Einsatz zu Hause.

Häusliches Training mit dem MoreGait-Therapiegerät

Um Patienten in Zukunft eine effektive und selbstständige Bewegungstherapie zu Hause zu ermöglichen, haben Wissenschaftler der Universität Ulm zusammen mit einem Team der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg das Therapiegerät „MoreGait“ für das häusliche Training entwickelt.

Prof. Dr. Eberhard Hofer, Projektleiter von der Universität Ulm, erläutert das Grundprinzip des Gehtrainers: „Nervenstrukturen im Gehirn und Rückenmark lassen sich nach einer inkompletten Querschnittlähmung durch wiederholte Reize von außen trainieren. Dadurch können Muskeln wieder aktiviert werden, die für das Laufen wichtig sind.“

Belastung der Fußsohle als entscheidender Reiz

Dabei ist es entscheidend, dass die Fußsohle belastet wird. Durch diesen Reiz lernen die Nervenzellen und organisieren sich neu. Mit dem MoreGait-Therapiegerät kann der Patient nun sicher und eigenständig in sitzender oder halb-liegender Position trainieren.

Funktionsweise des MoreGait-Therapiegeräts

Wird mit dem MoreGait trainiert, wirken ähnliche Kräfte auf den Bewegungsapparat wie beim normalen Gehen. Die Gelenkbewegung wird von sogenannten künstlichen Muskeln unterstützt, deren Wirkprinzip den biologischen Muskeln nachempfunden ist.

Prof. Dr. Hofer erklärt, dass es sich vereinfacht gesagt um einen Schlauch handelt, der sich unter dem Druck eines einströmenden Mediums, in der Regel Luft, um bis zu 25 Prozent seiner Ausgangslänge verkürzen kann. Das ermöglicht ein sicheres Training, da die Gehbewegung der Beine durch die Nachahmung des natürlichen Muskelverhaltens besonders weich gestützt wird.

MoreGait erkennt, wie viel Kraft der Trainierende selbst aufbringt und gibt nur die erforderliche Unterstützung. Gleichzeitig kann der Patient auf einem Display verfolgen, an welcher Schrittphase das Gerät ihn stärker unterstützen muss. Dadurch kann der Trainierende gezielt an seinen Schwachstellen arbeiten.

Klinische Pilotstudie im Heimbereich

Derzeit kommt das Gerät erstmals in einer klinischen Pilotstudie bei 30 Patienten im Heimbereich zum Einsatz. Die Studie soll klären, wie effektiv das Lauftraining mit dem Heimgerät bei Patienten mit inkompletter Querschnittslähmung ist. Eine zentrale Fragestellung ist, ob die während der Therapie in der Klinik antrainierten Fähigkeiten erhalten bleiben.

Weitere Therapieansätze und Hilfsmittel

Neben der Neurostimulation und dem gezielten Training gibt es eine Reihe weiterer Therapieansätze und Hilfsmittel, die Menschen nach einer Lähmung unterstützen können.

Gangroboter und Exoskelette

Gangroboter wie der "Lokomat" werden bereits seit 2001 am Heidelberger Querschnittzentrum genutzt, um unvollständig gelähmten Patienten das Gehen wieder beizubringen. Diese robotergestützte Laufband-Therapie ermöglicht es, die Beinbewegungen des Patienten individuell und sehr fein einzustellen.

Exoskelette wie der "ReWalk" sind elektronisch gesteuerte Außenskelette, die die Beine und den unteren Teil des Oberkörpers stützen und an Hüften, Knie- und Fußgelenken mit Elektromotoren versehen sind. Mit Hilfe des Exoskelett erhalten Betroffene wieder eine andere Perspektive und können ihren Mitmenschen wieder auf Augenhöhe begegnen.

Armrehabilitation nach Schlaganfall

Armlähmungen gehören zu den häufigsten Folgen einer Hirnschädigung, wie zum Beispiel nach einem Schlaganfall. Die Armrehabilitation umfasst verschiedene Therapieformen ohne technische Geräte, um in der Ergo- oder Physiotherapie den betroffenen Arm aktiv zu trainieren.

Zusätzlich gibt es geräteunterstützte Therapien wie die neuromuskuläre Elektrostimulation und die Robot-Therapie, aber auch die Therapie mit virtueller Realitätsanwendungen sowie die sensible Stimulation und Akupunktur.

Alltagshelfer und technische Hilfsmittel

Neben den High-Tech-Lösungen gibt es auch eine Vielzahl von Alltagshelfern und technischen Hilfsmitteln, die Menschen mit Lähmungen im Alltag unterstützen können. Dazu gehören beispielsweise Hilfsbändchen und Beinschienen.

Realistische Erwartungen und Herausforderungen

Trotz der vielversprechenden Fortschritte in der Forschung und Therapie ist es wichtig, realistische Erwartungen zu haben. Die Alltagstauglichkeit der Stimulation ist oft noch limitiert, mit geringer Gehgeschwindigkeit und einem unphysiologischen Gangbild.

Zudem lassen sich Therapieerfolge nicht bei allen Querschnittsgelähmten anwenden. Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass es nicht die eine Pille oder die eine Methode zur Behandlung von Querschnittlähmungen geben wird.

Bedeutung der frühen Rehabilitation

In kaum einem medizinischen Bereich spielt die frühe Rehabilitation eine so entscheidende Rolle wie in der Therapie von Gelähmten. Nur mit einem individuell zugeschnittenen und interdisziplinär umgesetzten Konzept lassen sich verlorene Funktionen - je nach Ausmaß des neuronalen Schadens - wieder herstellen.

Ursachen von Lähmungen

Die weitaus häufigste Ursache für Lähmungen sind Schlaganfälle und Multiple Sklerose. Die Querschnittlähmung nach Unfällen, Stürzen oder als Folge von Tumoren oder Entzündungen des Rückenmarks ist relativ selten.

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