Nerven unter der Haut: Ursachen, Symptome und Behandlung von Polyneuropathie

Die Diagnose Krebs und die damit verbundene Chemotherapie können tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen haben. Neben den direkten Folgen der Erkrankung können auch Begleiterscheinungen wie die Polyneuropathie auftreten, die die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Ziel dieses Artikels ist es, Betroffenen und Angehörigen ein umfassendes Verständnis der Polyneuropathie zu vermitteln, von den Ursachen und Symptomen bis hin zu den verschiedenen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten.

Was ist Polyneuropathie?

Polyneuropathie (PNP) ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Das periphere Nervensystem umfasst alle Nerven, die außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks verlaufen. Diese Nerven sind für die Weiterleitung von Informationen zwischen dem Gehirn, dem Rückenmark und dem Rest des Körpers verantwortlich. Sie steuern sowohl die Muskelaktivität (motorische Nerven) als auch eine Vielzahl von Wahrnehmungen (sensible Nerven).

Bei einer Polyneuropathie sind mehrere periphere Nerven geschädigt, was die Informationsübertragung beeinträchtigt. Je nachdem, welche Nerven betroffen sind, können unterschiedliche Beschwerden auftreten. Schätzungen zufolge entwickeln etwa drei bis acht Prozent der deutschen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens eine Polyneuropathie. Das Risiko steigt mit zunehmendem Alter, wobei ältere Menschen besonders gefährdet sind.

Ursachen von Polyneuropathie

Es gibt eine Vielzahl von Ursachen für Polyneuropathie. In vielen Fällen bleibt die Ursache jedoch unklar ("idiopathische Neuropathie"). Zu den häufigsten Auslösern zählen:

  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit): Ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel kann die Nerven schädigen. Fast jeder zweite Diabetiker erkrankt im Laufe seines Lebens an einer PNP.
  • Alkoholmissbrauch: Chronischer Alkoholmissbrauch, insbesondere in Kombination mit vitaminarmer Ernährung, kann zu Nervenschäden führen. Schätzungsweise sind bis zu 66 Prozent aller chronischen Alkoholiker betroffen.
  • Chemotherapie: Bestimmte Chemotherapeutika können dosisabhängig Nebenwirkungen auf das Nervensystem haben. Die Chemotherapie-assoziierte Neuropathie ist eine häufige Form der PNP bei Krebspatienten.
  • Weitere Medikamente: Auch andere Medikamente, wie beispielsweise bestimmte Antibiotika, Rheuma- oder Herz-Kreislauf-Medikamente, können eine PNP auslösen.
  • Infektionen: Verschiedene Infektionskrankheiten, wie Borreliose, Diphtherie oder Gürtelrose, können zu Entzündungen führen, die die Nerven schädigen.
  • Autoimmunerkrankungen: Erkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigene Zellen angreift, wie das Guillain-Barré-Syndrom oder rheumatoide Arthritis, können ebenfalls eine PNP verursachen.
  • Vitaminmangel: Ein Mangel an bestimmten Vitaminen, insbesondere Vitamin B12, kann die Nervenfunktion beeinträchtigen.
  • Umweltgifte: Schwermetalle wie Blei, Arsen, Thallium und Quecksilber sowie bestimmte Lösungsmittel können das Nervensystem schädigen.
  • Genetische Veranlagung: In seltenen Fällen ist eine PNP erblich bedingt, wie beispielsweise bei der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT).
  • Weitere Erkrankungen: Schilddrüsenerkrankungen, Lebererkrankungen, Krebserkrankungen und hormonelles Ungleichgewicht können ebenfalls eine PNP verursachen.

Symptome von Polyneuropathie

Die Symptome einer Polyneuropathie können vielfältig sein und hängen davon ab, welche Nervenfasern betroffen sind. Grundsätzlich werden sensible, motorische und autonome Beschwerden unterschieden:

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Sensible Beschwerden

Sensible Nerven leiten Informationen von der Haut zum Gehirn weiter. Schäden an diesen Nerven können zu folgenden Symptomen führen:

  • Kribbeln, Brennen, Stechen: Viele Betroffene beschreiben ein Kribbeln, Brennen oder Stechen, oft beginnend an den Füßen und Beinen.
  • Taubheitsgefühle: Die Haut kann sich taub oder pelzig anfühlen.
  • Fehlende Schmerzempfindung: Schmerzlose Wunden können entstehen, da die Schmerzwahrnehmung beeinträchtigt ist.
  • Verfälschte Temperaturwahrnehmung: Temperaturen werden möglicherweise verfälscht wahrgenommen oder extreme Schmerzen bei leichten Berührungen empfunden.
  • Überempfindlichkeit: Bereits leichte Berührungen können als schmerzhaft empfunden werden (Allodynie).
  • Gefühl, auf Watte zu gehen: Einige Patienten beschreiben das Gefühl, wie auf Watte zu gehen.

Motorische Beschwerden

Motorische Nerven leiten Befehle vom Gehirn an die Muskeln weiter. Schäden an diesen Nerven können folgende Symptome verursachen:

  • Muskelzuckungen und -krämpfe: Unwillkürliche Muskelzuckungen oder -krämpfe können auftreten.
  • Muskelschwäche: Die betroffenen Muskeln können erlahmen, und die körperliche Ausdauer lässt nach.
  • Muskelabbau: Langfristig kann die fehlende Nutzung der Muskeln zu einem Abbau der Muskelmasse führen.
  • Erschwerte Feinmotorik: Schwierigkeiten im Umgang mit Gebrauchsgegenständen wie Besteck oder Hemdknöpfen können auftreten.

Autonome Beschwerden

Autonome Nerven steuern unbewusst die Organe. Werden diese Nerven durch eine PNP beeinträchtigt, kann es zu folgenden Symptomen kommen:

  • Übermäßiges oder vermindertes Schwitzen: Die Schweißproduktion kann gestört sein.
  • Ohnmachts- und Schwindelanfälle: Insbesondere nach dem Aufstehen können Schwindelgefühle oder Ohnmacht auftreten.
  • Herzrasen oder langsamer Herzschlag: Die Herzfrequenz kann in Ruhe erhöht oder bei Anstrengung zu langsam sein.
  • Schluckbeschwerden: Schwierigkeiten beim Schlucken können auftreten.
  • Verdauungsprobleme: Völlegefühl, Verstopfung oder Durchfall sind mögliche Symptome.
  • Blasenstörungen: Erschwertes oder ungewolltes Wasserlassen kann auftreten.
  • Wassereinlagerungen und Hautveränderungen: An den Füßen können Wassereinlagerungen und Hautveränderungen auftreten.
  • Erektionsstörungen: Bei Männern können Erektionsstörungen auftreten.
  • Fehlende Pupillenbewegungen: Die Pupillen können sich möglicherweise nicht richtig bewegen.

Diagnose von Polyneuropathie

Bei Verdacht auf eine Polyneuropathie ist ein Neurologe der richtige Ansprechpartner. Die Diagnose umfasst in der Regel folgende Schritte:

  1. Anamnese: Der Arzt erfragt die individuellen Beschwerden, Vorerkrankungen und die familiäre Krankengeschichte. Auch die Einnahme von Medikamenten wird erfragt.
  2. Neurologische Untersuchung: Der Arzt prüft die Funktion der Nerven, beispielsweise das Empfindungsvermögen, das Schmerz- und Temperaturempfinden, das Lageempfinden, die Vibrationsempfindung, die Koordination, das Gleichgewicht und die Reflexe.
  3. Blutuntersuchung: Eine Blutprobe kann Aufschluss über den Langzeit-Blutzuckerspiegel, Vitamin-B12- und Folsäurewerte geben.
  4. Elektroneurographie (ENG): Bei dieser Untersuchung wird ein Nerv gezielt über eine Elektrode auf der Haut gereizt. Gleichzeitig wird gemessen, ob und wie schnell der Reiz im Nerv weitergeleitet wird.
  5. Elektromyografie (EMG): Bei einer Elektromyografie wird entweder eine feine Nadel in den Muskel eingeführt oder eine Elektrode auf der Haut darüber angebracht. So kann gemessen werden, ob ein bestimmter Muskelabschnitt ausreichend starke Signale von den jeweiligen Nerven erhält.
  6. Weitere Untersuchungen: Bei Bedarf können weitere Untersuchungsmethoden wie eine Nerv-Muskel-Biopsie, molekulargenetische Tests, eine Hirnwasseruntersuchung, eine Magnetresonanztomografie (MRT) oder eine Ultraschalluntersuchung veranlasst werden. Eine standardisierte Quantitative Sensorische Testung misst durch verschiedene Gefühlstests an der Haut bestimmte Werte, um zu erkennen, welche Nervenfasern geschädigt sind. Mit einer Thermode können computergesteuerte Temperaturreize eingesetzt werden, um das Temperaturempfinden exakt zu messen.

Therapie von Polyneuropathie

Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der Ursache. Neben der Behandlung der Grunderkrankung steht die Linderung der Symptome im Vordergrund.

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Ursachenspezifische Therapie

  • Diabetische Polyneuropathie: Eine optimale Blutzuckereinstellung ist entscheidend, um die Nervenschädigung zu stoppen. Dies kann durch eine angepasste Ernährung, ausreichend Bewegung und gegebenenfalls eine medikamentöse Therapie erreicht werden. Eine zu rasche Senkung der Blutzuckerwerte sollte vermieden werden.
  • Alkoholbedingte Polyneuropathie: Ein konsequenter Verzicht auf Alkohol ist notwendig, um weitere Schäden zu verhindern. Unterstützung für diesen Schritt bieten spezialisierte Fachärzte, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.
  • Chemotherapie-assoziierte Neuropathie: Der behandelnde Arzt kann die Dosis des Zytostatikums reduzieren oder die Behandlung unterbrechen, damit sich die Nerven erholen können.
  • Entzündungsbedingte Nervenschädigung: Je nach Erreger kann eine Antibiotika-Therapie oder eine antivirale Medikation helfen.
  • Autoimmunentzündung: Entzündungshemmende Medikamente wie Kortison oder Immunglobuline können zum Einsatz kommen.
  • Vitaminmangel: Eine gezielte Ernährungsumstellung oder die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln kann den Mangel ausgleichen. Eine Überdosierung, insbesondere von Vitamin B6, sollte vermieden werden.

Symptomatische Therapie

  • Medikamentöse Schmerztherapie: Verschiedene Antikonvulsiva, Antidepressiva und Opioide können die Schmerzen einer PNP lindern. Die Dosierung wird in der Regel langsam gesteigert, um auf etwaige Nebenwirkungen reagieren zu können. Bei Schmerzen auf bestimmten Hautarealen kann ein örtlich betäubendes Lidocain-Pflaster sinnvoll sein. Capsaicin-Pflaster können ebenfalls Linderung verschaffen.
  • Physio- und Ergotherapie: Physiotherapie kann helfen, geschwächte Muskelgruppen zu stärken und die Beweglichkeit zu verbessern. Ergotherapie kann bei der Verbesserung der Feinmotorik und des Tastvermögens helfen. Gleichgewichtstraining kann die Gangunsicherheit reduzieren.
  • Medizinische Fußpflege: Regelmäßige medizinische Fußpflege ist wichtig, um Verletzungen an den Füßen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
  • Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS): Bei diesem Verfahren werden Elektroden auf den schmerzenden Hautarealen angebracht, um die darunterliegenden gesunden Nervenfasern elektrisch zu stimulieren und gleichzeitig die Weiterleitung der schmerzhaften PNP-Signale zum Hirn zu blockieren.
  • Weitere Maßnahmen: Warme Hand- und Fußbäder mit Basensalz, Zucker-Öl-Peelings und Einreibungen mit schmerzlindernden Ölen können ebenfalls zur Linderung der Beschwerden beitragen.

Alltag mit Polyneuropathie

Der Alltag mit einer Polyneuropathie kann herausfordernd sein. Folgende Tipps können helfen, die Lebensqualität zu bewahren und Verletzungen zu vermeiden:

  • Verletzungen frühzeitig erkennen: Kontrollieren Sie täglich sorgfältig Ihre Hände und Füße auf Rötungen, kleine Schnitte oder Druckstellen. Nutzen Sie für schwer einsehbare Stellen einen Handspiegel.
  • Hautpflege: Regelmäßiges Eincremen beugt trockener, rissiger Haut vor, die anfällig für Erreger ist. Stellen Sie Wunden oder Entzündungen fest, sollten Sie frühzeitig ärztlichen Rat einholen. Auch medizinische Fußpflege kann eine sinnvolle Ergänzung sein.
  • Schutz vor Verbrennungen oder Erfrierungen: Nutzen Sie ein Thermometer, um die Wassertemperatur zu überprüfen. Verzichten Sie zudem auf Wärmflaschen oder Heizdecken. Im Winter können warme Handschuhe und gut isolierte Schuhe vor Kälte schützen.
  • Sicherheit zu Hause und draußen: Sorgen Sie für rutschfeste Böden, ausreichende Beleuchtung und entfernen Sie Stolperfallen wie lose Teppiche. Im Freien sollten Sie auf festes Schuhwerk, Gehhilfen, gut beleuchtete Wege und die Vermeidung glatter oder unebener Flächen achten.
  • Ernährung: Achten Sie auf kleine, dafür häufigere Mahlzeiten, um Völlegefühl, Übelkeit und Erbrechen vorzubeugen. Nehmen Sie viel Flüssigkeit und ballaststoffreiche Lebensmittel zu sich, um Verstopfungen entgegenzuwirken.
  • Schlafposition: Wählen Sie eine Schlafposition mit erhobenem Oberkörper und tragen Sie auch nachts Stützstrümpfe, um Schwindelgefühle beim Aufstehen zu reduzieren.
  • Bäder und Umschläge: Testen Sie warme, kalte oder Wechselbäder, um Schmerzen und Fehlempfindungen zu lindern. Auch warme oder kalte Umschläge können eine wohltuende Wirkung haben.
  • Toilettengang: Gewöhnen Sie sich einen routinemäßigen Gang zur Toilette alle drei Stunden an, um einem veränderten Harndrang zu begegnen und Unannehmlichkeiten zu vermeiden.
  • Sexualität: Lassen Sie sich bei Erektionsstörungen oder trockener Vaginalhaut ärztlich beraten. Eine Vakuumpumpe oder Gleitmittel können hier sehr hilfreich sein.
  • Austausch mit anderen Betroffenen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann sehr hilfreich sein, zum Beispiel über Selbsthilfegruppen wie die Deutsche Polyneuropathie Selbsthilfe e.V.

Polyneuropathie und Sexualität

Die Nervenschädigung durch Polyneuropathie kann bei Männern und Frauen zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Bei Männern kann es zu Schwierigkeiten kommen, eine Erektion zu bekommen oder aufrechtzuerhalten. Frauen hingegen verspüren oft eine geringere Empfindlichkeit im Intimbereich, wodurch Erregung und Orgasmus erschwert sind. Zudem kann auch eine vaginale Trockenheit auftreten, was den Geschlechtsverkehr unangenehm macht. Sprechen Sie offen mit Ihrem behandelnden Arzt, am besten einem Neurologen oder Sexualmediziner, um geeignete Behandlungsmöglichkeiten zu finden.

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