Musiktherapie zur Beruhigung des Nervensystems: Ein umfassender Leitfaden

In unserer schnelllebigen und informationsüberfluteten Welt ist es wichtiger denn je, Wege zu finden, um das Nervensystem zu beruhigen und die Selbstregulation zu fördern. Musiktherapie bietet hier einen vielversprechenden Ansatz, der auf den neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und der uralten Kraft der Musik basiert. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Musiktherapie zur Beruhigung des Nervensystems, von den zugrunde liegenden Mechanismen bis hin zu spezifischen Anwendungen und praktischen Tipps.

Die Grundlagen: Das autonome Nervensystem und die Polyvagal-Theorie

Unser autonomes Nervensystem (ANS) ist das Steuerungszentrum, das unbewusst lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Atmung, Verdauung und Immunabwehr reguliert. Es arbeitet automatisch und sorgt für einen natürlichen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Die Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges erklärt, wie unser Nervensystem auf Stress und Entspannung reagiert und wie gezielte Impulse, wie beispielsweise die Stimulation bestimmter Frequenzen durch Musik, unser Nervensystem zurück in Sicherheit und Regulation helfen können.

Das ANS scannt ständig die Umgebung auf Signale von Sicherheit, Gefahr oder Lebensbedrohung. Diese unwillkürliche Bewertung, die als Neurozeption bezeichnet wird, bestimmt unsere Reaktion:

  1. Sicherheit: Bei wahrgenommener Sicherheit wird der ventrale Vagus aktiviert, was soziale Interaktion ermöglicht.
  2. Gefahr: Bei wahrgenommener Gefahr wird der Sympathikus aktiviert, was Kampf- oder Fluchtbereitschaft auslöst.
  3. Lebensbedrohung: Bei wahrgenommener Lebensbedrohung wird der dorsale Vagus aktiviert, was zu Erstarren oder Erschlaffen führt.

Wie Musik das Nervensystem beeinflusst

Musik ist eine universelle Sprache, die Emotionen vermitteln kann, die Worte allein nicht ausdrücken können. Studien haben gezeigt, dass Musik das vegetative Nervensystem beeinflusst und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen kann. Sie senkt die Herzfrequenz und den Blutdruck, beruhigt die Atmung und reduziert Stresshormone.

Die Wirkung von Musik auf das Nervensystem ist vielfältig:

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  • Direkte Wirkung auf den Hirnstamm: Nervenimpulse gelangen zum vegetativen Nervensystem, das Herzschlag und Atmung beeinflusst.
  • Emotionale und hormonelle Veränderungen: Musik kann die Gemütslage positiv oder negativ verändern und indirekt Einfluss auf die Herz- und Atemfrequenz sowie den Blutdruck nehmen.
  • Aktivierung verschiedener Gehirnbereiche: Musikhören und -machen aktivieren Hör-, Gedächtnis- und Emotionszentren im Gehirn sowie Areale für Bewegungssteuerung, optische Wahrnehmung und Tastsinn.
  • Freisetzung von Neurotransmittern: Musik trägt zur Freisetzung von Dopamin, Serotonin und Oxytocin bei, die für Glück, soziales Verhalten und Empathie wichtig sind.

Spezielle Musiktherapie-Ansätze

Neuro-Soundeffekte und bilaterale Hemisphärenstimulation

Neuro-Soundeffekte sind spezielle akustische Signale, die gezielt beide Gehirnhälften synchronisieren, harmonisieren oder aktivieren. Durch die abwechselnde Stimulation beider Gehirnhälften werden diese miteinander verbunden und vernetzt. Dieser Effekt kann auch mit Musik erzielt werden, bei der der Takt abwechselnd von links nach rechts geht. Diese bilaterale Hemisphärenstimulation aktiviert abwechselnd die Gehirnhälften, wodurch das Gehirn besser vernetzt und neuronale Netzwerke stimuliert werden. Diese Art von Musik hat eine harmonisierende und beruhigende Wirkung auf Körper und Geist und wirkt wohltuend und entspannend auf den Erregungszustand des gesamten Nervensystems.

Das Safe and Sound Protocol (SSP)

Das Safe and Sound Protocol (SSP) ist eine spezielle musikbasierte Hörintervention, die von Dr. Stephen Porges entwickelt wurde. Es besteht aus einer Serie von Musikstücken, die mithilfe eines speziellen Algorithmus so gefiltert werden, dass sie die für soziale Sicherheit entscheidenden Frequenzbereiche hervorheben. Das SSP zielt darauf ab, das Nervensystem so zu stimulieren, wie eine einfühlsame Stimme eines vertrauten Menschen oder die beruhigende Klangkulisse einer sicheren Umgebung es kann.

Die Grundannahme des SSP ist, dass das Nervensystem durch regelmäßige Exposition gegenüber sicheren Klängen lernt, wieder in Sicherheit zu entspannen, statt in Alarmbereitschaft oder innerer Erstarrung zu verharren. Studien belegen die Wirksamkeit des SSP bei der Reduzierung von Angst, Stress und Überforderung. Es ist besonders geeignet für Menschen, deren autonomes Nervensystem Stress, Trauma oder chronische Überlastung nicht mehr flexibel regulieren kann.

Das SSP besteht in der Regel aus fünf einstündigen Musikmodulen, die auf 20-30-minütige Sitzungen über mehrere Tage oder Wochen aufgeteilt sind. Während des Hörens kann man sich entspannen, malen, puzzeln oder ruhigen Tätigkeiten nachgehen. Nach jeder Sitzung wird reflektiert, wie es einem mental und körperlich geht.

Musiktherapie für geflüchtete Frauen*

Musiktherapie-Workshops schaffen einen sicheren Raum, in dem geflüchtete Frauen* ihre Erfahrungen austauschen und sich wieder mit kulturellen Traditionen verbinden können. Die Angebote ermöglichen den Frauen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erlangen und sich im Umgang mit Trauma zu stärken. Tanz wird als Ausdrucksform genutzt, um die speziellen Erfahrungen aufzugreifen und die Katharsis zu fördern.

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Praktische Tipps zur Beruhigung des Nervensystems mit Musik

  • Eigene Polyvagal-Playlist: Nach dem SSP kann es hilfreich sein, eine Playlist mit ruhigen, sanften Songs mit angenehmen Stimmen/Frequenzen zusammenzustellen, die bei Überforderung oder Stress eingesetzt werden kann.
  • Rituale entwickeln: Kleine Musik-Sessions in die Morgen- oder Abendroutinen einbauen, beispielsweise 5-10 Minuten beruhigende Musik nach dem Aufstehen, begleitet von bewusstem Atmen.
  • Soziale Verbindung stärken: Bewusst Kontakte zu Menschen suchen, bei denen man sich sicher fühlt.
  • Entspannende Musik zum Einschlafen: Klassische Musik, New Age oder Ambient-Musik eignen sich gut zum Entspannen und Schlafen. Instrumentalmusik ist in der Regel besser geeignet als Musik mit Gesang.
  • ASMR-Geräusche: Bei Schlaflosigkeit können ASMR-Geräusche wie das Zerknüllen von Papier oder leises Flüstern entspannungsfördernd wirken.

Die Bedeutung des Gehörs für unser Wohlbefinden

Unser Gehör spielt eine wichtige Rolle für unser Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Die Frequenz der weiblichen Stimme (ca. 220 Hz) wirkt in Untersuchungen als besonders beruhigend, während tiefe Frequenzen entwicklungsbiologisch mit Raubtiergebrüll assoziiert sind. Unser Gehör ist in der Lage, sich auf bestimmte Frequenzen zu fokussieren, was für das Empfinden von Sicherheit entscheidend ist.

Stephen Porges erkannte, dass über den Gehörsinn eine Möglichkeit zur Einflussnahme auf das autonome Nervensystem besteht. Er entwickelte das SSP, um die Muskulatur, die wir benötigen, um unser Gehör auf sichere Frequenzen auszurichten, wieder zu entspannen und so das Nervensystem positiv zu beeinflussen.

Warnhinweise und Einschränkungen

Es ist wichtig zu beachten, dass das SSP kein „Allheilmittel“ ist, sondern ein Katalysator für innere Veränderung. Es ersetzt keine traumaspezifische Psychotherapie bei schweren Krankheitsbildern. Gerade bei ausgeprägten oder alten Traumata kann das SSP intensive Gefühle, Erinnerungen oder körperliche Empfindungen auslösen. In solchen Fällen ist erfahrene therapeutische Unterstützung erforderlich.

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