Die Erforschung des Gehirns ist eine der größten Herausforderungen der modernen Wissenschaft. Um die komplexen Funktionen des Gehirns zu verstehen, bedarf es detaillierter Einblicke in den Aufbau und die Arbeitsweise der Nervenzellen. Hierbei spielen mikroskopische Verfahren eine zentrale Rolle.
Die Bedeutung der Mikroskopie in der Hirnforschung
Die Hirnforschung nutzt verschiedene wissenschaftliche Methoden, wobei die Mikroskopie eine Schlüsselrolle einnimmt. Mikroskope erlauben einen sehr viel feinkörnigeren Blick auf Nervenzellen und die Verbindungen zwischen ihnen als etwa die Magnetresonanztomografie. Pioniere der Hirnforschung setzten Mikroskope bereits im späten 19. Jahrhundert ein. Der italienische Mediziner Camillo Golgi färbte Nervengewebe mit Silbernitrat, sodass sich unter dem Mikroskop einzelne Nervenstränge verfolgen ließen. Alois Alzheimer kam mit dem Instrument der nach ihm benannten Krankheit auf die Spur.
Funktionen wie Erinnern oder Krankheiten wie Multiple Sklerose sollen durch den mikroskopischen Blick auf lebendes Gehirngewebe sowie den Vergleich des Konnektoms von gesundem und krankem Hirngewebe besser verstanden werden.
Lichtmikroskopie: Der Blick ins lebende Gehirn
Die Hirnforschung verwendet zwei Arten von Mikroskopen: Licht- und Elektronenmikroskope. Mit Lichtmikroskopen lassen sich lebende Zellen und Nervengewebe untersuchen. Sie führen vom Untersuchungsobjekt reflektiertes sichtbares Licht durch ein System aus optischen Linsen, das ein stark vergrößertes Abbild erzeugt. Ein Maß für die Leistung eines Mikroskops ist das so genannte Auflösungsvermögen, welches den Mindestabstand angibt, den zwei Einzelobjekte, etwa zwei Lagen einer Membran, auseinander liegen müssen, um als solche abgebildet zu werden - und nicht als verwaschene Einheit. Das Auflösungsvermögen wird durch die Wellenlänge des verwendeten Lichts begrenzt und kann daher nicht besser sein als rund 200 Nanometer (Millionstel Millimeter). Man spricht von der so genannten Beugungsgrenze. Das Lichtmikroskop bildet daher größere Komponenten der Zellen ab, etwa den Zellkern oder die Zellmembran, während kleinere Objekte, etwa die innere Struktur von Mitochondrien, Viren oder das Erbmolekül DNA die Auflösungsgrenze unterschreiten.
STED-Mikroskopie: Überwindung der Beugungsgrenze
Lange galt für Lichtmikroskope die sogenannte Beugungsgrenze als maximale mögliche Auflösung: Alles, was größer war als 200 Nanometer, konnte dargestellt werden - alles darunter verschwamm zu einem undeutlichen Flecken. Dem Forscher Stefan Hell vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen gelang es 1999 nun mit einem Trick, diese 200 Nanometer bei einer speziellen Technik der Fluoreszenzmikroskopie zu unterschreiten. Für diese Arbeit an der sogenannten STED-Mikroskopie oder Nanoskopie bekam er zusammen mit Kollegen den Nobelpreis für Chemie 2014.
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„Mit Licht kann man nicht nur ein Molekül anregen, sondern auch ein angeregtes Molekül schlagartig abregen“, erklärt Hell. Dies nennt man Stimulierte Emission. „Damit lässt sich Fluoreszenzlicht sehr gut von dem stimulierten oder dem stimulierenden Licht trennen. Abgeregte Moleküle können sofort wieder angeregt und von neuem abgeregt werden; der Prozess ist reversibel.“ Konkret nutzte Hell diesen Prozess nun für den Bau eines besonderen Mikroskops. Ein Laser, der Anregungsstrahl, regt die fluoreszierenden Marker zum Leuchten an. Ein zweiter Laser, wie ein Ring um den ersten gelegt, regt sie wieder ab. So können letztlich nur die Marker im Zentrum des Anregungsstrahls leuchten - und dieses Zentrum ist je nach Lichtstärke des Laserrings um ihn herum deutlich geringer als 200 Nanometer. Fährt der Laser so die Probe ab, registriert er nacheinander Bereiche unterhalb der Beugungsgrenze und schafft so ein Abbild der Zellen. Inzwischen gelang Hell und Kollegen eine Auflösung von 2,4 Nanometern. Auch die Aufnahme von dynamischen Prozessen in Videos ist mit dieser Technik möglich. Erste Experimente gewährten bereits Einblicke in das Gehirn von lebenden Mäusen.
Fluoreszenzmikroskopie: Selektive Darstellung von Zellbestandteilen
Um die jeweiligen Gewebearten besser sichtbar zu machen, werden die Untersuchungsobjekte häufig eingefärbt. Die so genannte Fluoreszenzmikroskopie - eine Teildisziplin der Lichtmikroskopie - wirkt wie ein Filter, die nur die interessierenden Objekte zeigt und alles andere ausblendet. Hierzu verwendet man Antikörper, die sich nur an bestimmte Zellbestandteile, etwa Proteine, binden. Diesen Antikörpern wurden vorab Farbstoffe beigefügt, die mit Laserlicht zum Leuchten in einer bestimmten Farbe angeregt werden können. Filter vor dem Okular des Mikroskops sorgen dafür, dass nur diese Farbe und damit nur die markierten Zellkomponenten sichtbar werden. Farbstoffe zum Beispiel, die nur in aktiven Nervenzellen zum Leuchten angeregt werden, verraten den Wissenschaftlern, wann und wie stark eine Zelle elektrisch aktiv ist. Mit der 2-Photonen-Mikroskopie lassen sich dreidimensionale Bilder aufnehmen. Die Aufnahmen haben eine räumliche Auflösung von etwa einem Mikrometer (tausendstel Millimeter), was etwa der Größe einer Synapse entspricht. Das Mikroskop verwenden Neuroforscher, um das Gehirn in Aktion zu beobachten, etwa die Reaktion des Neuronen-Netzwerks auf Umweltreize. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut (MPI) für Neurobiologie in Martinsried erforschen so zum Beispiel, wie sich Lernreize auswirken. So beobachteten sie, dass sich durch Lernen Stärke und Anzahl von Synapsen verändern. Auch Hirnkrankheiten kommen Neurowissenschaftler durch die Lebendbeobachtung von Nervengewebe auf die Spur. So fanden Forscher der Uni Mainz, dass bei Multipler Sklerose fehlgeleitete Immunzellen die Nervenzellen direkt angreifen.
Grenzen der Lichtmikroskopie
Doch Lichtmikroskope dringen in der Regel nur recht begrenzt in das Gewebe vor. Mit der Lichtmikroskopie lässt sich maximal ein 20-stel Millimeter tief unter die Oberfläche in ein lebendes Gehirn blicken, denn das Gewebe streut das Licht, wodurch es entlang seines Weges immer weiter abgeschwächt wird. Deutlich tiefer, nämlich rund einen Millimeter ins Gewebe, reicht eine Variante der Fluoreszenzmikroskopie, die der Physiker Winfried Denk, heute am Max-Planck-Institut für Neurologie, zusammen mit Kollegen von der Cornell University im US-Staat New York vor rund 25 Jahren entwickelt hat. Dabei wird Licht mit der doppelten Wellenlänge als üblich eingestrahlt. Dadurch wird es sehr viel weniger gestreut und kann tiefer eindringen. Dieses Licht hat weniger Energie und schädigt daher das Gewebe auch weniger stark. Den Farbstoff regt es trotzdem zum Leuchten an, und zwar wenn ein Farbstoffmolekül zwei Lichtteilchen gleichzeitig absorbiert und daher die gleiche Energie aufnimmt wie durch das energiereichere Licht mit ursprünglicher Wellenlänge. Dennoch gilt: Tiefere Hirnstrukturen wie etwa der Mandelkern entziehen sich bislang dem mikroskopischen Blick der Forscher. Tiefer ins Gehirn soll eine Methode mit dem rätselhaften Namen „Optische Zeitumkehr“ blicken, die derzeit der Physiker Benjamin Judkewitz an der Berliner Charité entwickelt Judkewitz auf der NWG-Tagung im Interview. Am zu untersuchenden Punkt im Gewebe fokussiert das Berliner Team ein Ultraschallsignal. Dann sendet es Licht durch die Probe. Am Brennpunkt des Ultraschalls wird seine Frequenz leicht verändert. Den Strahl mit der modifizierten Frequenz reflektiert ein Spezialspiegel auf der anderen Seite der Probe. Er läuft dann den gleichen Weg rückwärts. Das Licht passiert den Brennpunkt wieder und trägt somit ein zweites Mal zur dortigen Lichtintensität bei. Das wirkt sozusagen wie eine Fackel, die tiefer liegende Gewebe sichtbar macht. „Wir streben langfristig an, die Eindringtiefe zu verdoppeln“, sagt Judkewitz. Für den Einsatz im Gehirn ist die Methode jedoch noch nicht reif.
Elektronenmikroskopie: Einblick in die Nanowelt
Das Elektronenmikroskop verwendet statt sichtbarem Licht Strahlen von sehr schnellen Elektronen. So genannte elektronenoptische Linsen lenken die Elektronenstrahlen mittels elektrischer und magnetischer Felder auf analoge Weise ab wie optische Linsen die Lichtstrahlen. Laut Quantenphysik verhalten sich Elektronenstrahlen nämlich wie Lichtstrahlen, nur mit einer wesentlich kleineren Wellenlänge. Daher haben Elektronenmikroskope ein wesentlich größeres Auflösungsvermögen: weniger als ein Nanometer, sodass selbst Moleküle abgebildet werden können, etwa DNA oder Proteine.
Funktionsweise und Anwendungsbereiche
Beim Elektronenmikroskop liegt das Objekt der Betrachtung in einer Vakuumkammer, in der äußerst tiefe Temperaturen herrschen. Nervenzellen oder -gewebe überleben darin nicht. Dafür ist die räumliche Auflösung eines Elektronenmikroskops sehr viel höher als die eines Lichtmikroskops; sie erreicht 0,1 Nanometer. Statt mit Linsen funktioniert das Elektronenmikroskop grob gesagt mit elektrischen und - beziehungsweise - oder magnetischen Feldern. Stark beschleunigte Elektronen werden auf das Objekt geleitet. Je nach Beschaffenheit des Materials dringen sie hindurch, werden abgelenkt oder reflektiert und treffen schließlich auf eine Art elektronischen Detektor. Helle Stellen zeigen an, dass Elektonen durchgelassen wurden, dunkle das Gegenteil. So entsteht ein Schwarz-Weiß-Abbild des Zellpräparats, das durch magnetische Objektive vergrößert und am Computerbildschirm sichtbar wird. Eine für die Hirnforschung wichtige Variante der Elektronenmikroskopie lenkt gleichzeitig viele Elektronenstrahlen auf die Probe.
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Nachteile der Elektronenmikroskopie
Nachteilig an der Elektronenmikroskopie ist die aufwändige Präparierung der Untersuchungsobjekte.
Die Rolle der Histologie
Die Histologie untersucht die Gewebestruktur unter dem Mikroskop. Um dem Gehirn seine Geheimnisse zu entlocken, muss man Nervengewebe aufwändig präparieren: Es wird fixiert, eingebettet, in dünne Scheiben geschnitten und eingefärbt. Die histologischen Methoden kommen in der Grundlagenforschung zum Einsatz, wenn man zum Beispiel das Konnektom, die Verknüpfungen der Nervenzellen auf mikroskopischer Skala untersuchen möchte. In der Pathologie helfen die Verfahren, anormales Gewebe zu analysieren. Trotz aller Vorzüge haben die histologischen Methoden auch den Nachteil, dass sie nicht den lebendigen Zustand wiedergeben.
Präparation und Färbung von Gewebeproben
Gehirngewebe erinnert jedoch von seiner Beschaffenheit an Wackelpudding, - nicht fest genug für dünne Schnitte. Gewebe, das man aus seinem natürlichen Zusammenhang reißt, verändert sich nach kurzer Zeit - es löst sich selbst auf. Deshalb muss man es in einer speziellen Lösung abtöten, die gleichzeitig sicherstellt, dass die Zellstrukturen möglichst erhalten bleiben. Zusätzlich wird das Gewebe durch diese so genannte Fixierung gehärtet und lässt sich später besser schneiden. Durch das Formaldehyd bekommen die „grauen Zellen“ erst ihre berühmte gräuliche Färbung. Im lebendigen Gehirn sind sie eigentlich rosa. Eine relativ lebensnahe Fixierung ist die Perfusionsfixierung. Hier spült man Fixierlösung durch die Blutgefäße des Tiers, das kurz zuvor eine lethale Dosis eines Narkosemittels erhalten hat.
Für die mikroskopische Untersuchung benötigt man Präparate, die Lichtstrahlen oder Elektronen durchlassen - also möglichst dünne Schnitte Mikroskopie. Doch die Härtung des Gewebes durch die Fixierung reicht hierfür nicht aus. Daher muss das Gewebe in einem nächsten Schritt in Substanzen eingebettet werden, die sich schneiden lassen. Meist fällt die Wahl auf Paraffin. Unter anderem wird dabei das in den Geweben reichlich vorhandene Wasser durch zunehmend höher konzentrierten Alkohol ersetzt. Später wird das Gewebe mit erwärmtem, verflüssigtem Paraffin durchtränkt, so auch sämtliche Strukturen innerhalb der Zellen. Für die Elektronenmikroskopie verwenden Forscher auch Kunststoffe zur Aushärtung von Geweben. Ist das Paraffin erst einmal erkaltet und erhärtet, kann das Gewebepräparat bearbeitet werden. Mit Hilfe von Schneidegeräten können die Gewebeblöcke in Schnitte unterschiedlicher Dicke zerlegt werden. Gängig sind Schnittdicken von 10 bis 50 Mikrometer, die man durch ein so genanntes Mikrotom erzielt. Und mit einem so genannten Ultramikrotom kann man sogar Schnitte von nur 50 Nanometern herstellen, - mehr als 100 Mal dünner als ein menschliches Haar.
Legt man ein so gewonnenes Gewebepräparat aber unters Mikroskop, bietet sich ein enttäuschender Anblick. Alles ist grau in grau. Kaum lassen sich Strukturen ausmachen. Erst eine Färbung sorgt für ein aufschlussreicheres Bild. Es gibt unterschiedliche Farbstoffe, die jeweils nur bestimmte Strukturen hervorheben. Bei der Nissl-Färbung zum Beispiel markieren basische Farbstoffe wie Kresylviolett die Zellkerne aller Zellen sowie Materialansammlungen um die Zellkerne herum. Dank dieser Methode können Forscher etwas kleinere Zellkerne der Gliazellen von Nervenzellen unterscheiden und die Anordnung der Neurone in verschiedenen Teilen des Gehirns untersuchen. Die Nissl-Färbung hat allerdings auch ihre Nachteile. Der Betrachter kann von einem derart gefärbten Neuron nur Zellkörper mit einem Zellkern darin erkennen. Erst die so genannte Golgi-Färbung offenbart, dass Neurone auch noch über Dendriten und Axone verfügen. Die Golgi-Methode lässt die Nervenzellen in scherenschnittartiger Pracht erstrahlen: Wenn man Gewebe in Silberchromatlösung einlegt, erscheinen einige wenige Nervenzellen und Gliazellen mit ihren Fortsätzen braunschwarz vor goldgelbem Hintergrund. Andere Färbemethoden sind etwa die Klüver-Barrera-Färbung und die Luxolblaufärbung, um die Zellfortsätze einzufärben. Schon kurz nach ihrer Entwicklung lieferte die Golgi-Methode bahnbrechende Erkenntnisse. Der spanische Neurohistologe Santiago Ramón y Cajal (1852−1934) hat mit ihrer Hilfe akribisch Nervenbahnverbindungen erfasst, deren Beschreibungen teilweise noch immer gültig sind. Und auch heute noch erstellen Forscher mit histologischen Methoden das Konnektom, einen Schaltplan aller Verknüpfungen des Gehirns. Das bedeutet auf der Mikroskala, alle Neurone und ihre Synapsen zu kartieren. Eine Analyse des Nervengewebes auf dieser Ebene erfordert eine Darstellung mit einem Auflösungsvermögen im Mikrometer-Bereich - eine nervenaufreibende Fleißarbeit. Eine solche histologische Fleißarbeit schon erbracht haben Forscher um Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich. Ihr so genanntes „BigBrain“ ist eine hochaufgelöste 3D-Rekonstruktion eines menschlichen Gehirns, basierend auf 7.404 histologischen Schnittpräparaten. Der Atlas gibt Einblicke mit einer Auflösung von 20 Mikrometern - das entspricht etwa der Größe einer Nervenzelle oder weniger als der Hälfte eines Haardurchmessers.
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Grenzen und Weiterentwicklungen der Histologie
Eigentlich möchten Forscher die Strukturen und die Chemie im Gewebe so unter die Lupe nehmen, wie es im lebenden Organismus vorkommt. Allerdings verhindern histologische Techniken genau dies. In der Histologie sind Artefakte gang und gäbe, also Merkmale, die auf die Präparationsmethode zurückzuführen sind und im natürlichen Organismus nicht vorkommen. Beispielsweise besteht Gewebe aus bis zu 80 Prozent Flüssigkeit, die beim Fixieren durch die Fixierlösung ersetzt wird. In der Folge schrumpft das Gewebe. Da auch die einzelnen Methoden der Histologie ihre Vor-und Nachteile haben, ist es sinnvoll, sie zu kombinieren. Die Golgi-Methode etwa erlaubt es, den Aufbau einer weniger Neurone zu beschreiben, die sie anfärbt. Mit der Nissl-Färbung hingegen kann man zwar eine ganze Neuronenpopulation in Farbenpracht erstrahlen lassen. Sie geizt aber mit Infos über den Aufbau der Nervenzellen. Wie in anderen Bereichen der Neurowissenschaften wird das Methodenarsenal auch in der Neurohistologie ständig aufgestockt. 2015 stellte Winfried Denk vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie eine neue Methode namens BROPA vor, mit deren Hilfe sich hochauflösend Verbindungen zwischen Nervenzellen im ganzen (Mäuse-)gehirn rekonstruieren lassen.
Neuronale Vielfalt: Aufbau und Funktion unterschiedlicher Nervenzellen
Die im Nervensystem anzutreffenden Neuronen können sich auf mehrere Weise im Aufbau unterscheiden.
Unipolare Nervenzellen
Unter dem Mikroskop sehen diese Nervenzellen aus wie ein Golfball an einem großen T. Ihr Zellkörper ist rund bis leicht oval und enthält mittig den Zellkern. Dem Zellkörper entspringt nur eine einzige Nervenfaser, der gleichzeitig als Dendrit und Axon agiert (Informationseingang- und ausgang). Meistens sind das sensorische Neuronen, die Ereignisse wie Berührungen und Temperaturveränderungen aus Haut, Gelenken und Muskeln empfangen. Unipolare Nervenzellen sind eher typisch für das Nervensystem von Wirbellosen. Sie kommen aber auch bei Wirbeltieren, inklusive des Menschen vor. Viele sensorische Nervenzellen sind, sowohl bei Wirbeltieren als auch bei Wirbellosen unipolar.
Bipolare Nervenzellen
Eine bipolare Nervenzelle oder Bipolarzelle ist ein Neuron mit zwei an den gegenüberliegenden Polen des Somas ausgebildeten Fortsätzen einen Dendriten und ein Axon. Bipolare Zellen sind hochspezialisierte Sensorneuronen, die die Rezeptorzellen des Geruchssinns (Riechzellen) und des Sehsinns (Retina) bilden.
Multipolare Nervenzellen
Die multipolaren Nervenzellen kommen am häufigsten im Nervensystem von Wirbeltieren vor. Sie besitzen zahlreiche Dendriten und ein Axon.
Pseudounipolare Nervenzellen
Eine pseudounipolare Nervenzelle ist eine Nervenzelle, deren Dendrit und Axon in der Nähe des Somas zu einem Nervenzellfortsatz verschmolzen sind, der sich bald danach aufspaltet. Nach Verlassen des Somas spaltet sich der Nervenzellfortsatz T- oder Y-förmig in einen zentralen (ursprünglich Axon) und einen peripheren Fortsatz (ursprünglich Dendrit) auf. Aus diesem Grund sind diese Zellen im Gegensatz zu unipolaren Nervenzellen nur "pseudo"-unipolar. Beide Fortsätze haben dabei die strukturellen und funktionellen Eigenschaften eines Axons. Der periphere, reizaufnehmende Fortsatz erhält seine Reize aus der Peripherie und dessen Fasern besitzen, ebenso wie der zentrale Fortsatz, eine Myelinscheide. Der zentrale Fortsatz leitet das Signal dann in das zentrale Nervensystem (ZNS). Das bei Erregung am Ende des peripheren Fortsatzes gebildete Aktionspotential wird also vom peripheren auf den zentralen Fortsatz direkt weitergeleitet.
Markhaltige und marklose Nervenfasern
Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit ist die Ausprägung der Myelinscheide durch Schwannsche Zellen im Axonbereich. Es existiert hierbei sowohl eine markhaltige als auch eine marklose Form. Nervenfasern werden als markhaltig bezeichnet, wenn deren Axone mit einer starken Myelinscheide umhüllt sind.
Synapsen: Die Schaltstellen des Nervensystems
Ob im Gehirn oder in der Muskulatur - überall dort, wo sich Nervenzellen befinden, gibt es auch Synapsen. Die Kontaktstellen der Nervenzellen bilden die Grundlage für die Erregungsübertragung, also die Kommunikation der Nervenzellen untereinander. Wie in jedem Kommunikationsprozess gibt es auch hier einen Sender und einen Empfänger: als Sender fungieren dabei Nervenbahnen, die man Axone nennt, welche elektrische Signale generieren und übertragen. Synapsen stellen Kontaktstellen zwischen axonalen Nervenendigungen (die Präsynapse) und postsynaptischen Neuronen dar. An diesen Synapsen wird das elektrische Signal in chemische Botenstoffe umgewandelt, die dann von den Postsynapsen anderer Nervenzellen empfangen werden. Die Freisetzung der Botenstoffe erfolgt aus speziellen Membranbläschen, den sogenannten synaptischen Vesikeln. Neben der Übertragung von Erregung können Synapsen auch Informationen speichern. Während Aufbau und Funktionen von Synapsen gut verstanden sind, weiß man wenig darüber, wie sie eigentlich entstehen.
Die Entstehung von Synapsen: Neue Erkenntnisse
Ein Team vom Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin hat nun große Teile dieses Rätsels gelüftet. An der bemerkenswerten Arbeit waren außerdem Wissenschaftler der Charité-Universitätsmedizin, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) und den Universitäten Leipzig, Chicago und Sheffield beteiligt. Um die Entstehung von Präsynapsen von Anfang an nachverfolgen zu können, haben die Forschenden in humanen Stammzellen per Genschere CRISPR ein leuchtendes Protein eingebaut und aus den so modifizierten Stammzellen Nervenzellen generiert. Dank der Leuchtmarkierung konnten sie nun den Entwicklungsprozess der werdenden synaptischen Vesikel in lebenden Zellen direkt im Mikroskop beobachten. Synaptische Vesikel sind jene Membranbläschen, welche die Botenstoffe enthalten und die jede Synapse auf Vorrat anlegt, damit sie elektrische Signale in chemische umwandeln kann. Zusammen mit Gerüstproteinen, die den synaptischen Vesikeln sagen, wo sich die Synapse befindet, und Kalziumkanälen, die das elektrische Signal chemisch übersetzen, bilden diese Bläschen die zentralen Bausteine der Präsynapse. Alle drei Komponenten haben ihre eigenen Gene und bestehen dementsprechend aus unterschiedlichen Eiweißmolekülen. Deswegen dachte man bislang, dass sie auch unterschiedliche Wege nehmen, um schließlich an einem Ort zusammenzukommen und dort eine funktionale Synapse zu bilden. Doch diese Annahme konnten die Forschenden durch ihre Beobachtungen widerlegen. "Die synaptischen Vesikelproteine und die Proteine der sogenannten aktiven Zone ebenso wie die Adhäsionsproteine, die die Synapse zusammenkleben nehmen alle den gleichen Bus“, beschreibt Forschungsgruppenleiter Prof. Dr. Volker Haucke den überraschenden Befund. "Das war sehr umstritten. Unsere Daten in humanen Nervenzellen in Kultur sind aber recht eindeutig.“
Der axonale Transport: Ein neuer Mechanismus
Doch wie genau kommen die Proteine nun an den Ort, an dem die Synapse gebildet wird? In der Arbeit konnten die Forschenden zum einen darlegen, dass für den axonalen Transport eine Maschinerie aus Motorproteinen angeworfen wird. Der Haupttreiber ist demnach das sogenannte Kinesin "KIF1A". Dieses Motorprotein ist vor allem im Zusammenhang mit neurologischen Störungen im peripheren Nervensystem und im Gehirn bekannt. "Wir vermuten, dass Mutationen in KIF1A den axonalen Transport präsynaptischer Proteine behindern und es so zu neurologischen Symptomen wie Bewegungsstörungen, Ataxie oder geistigen Behinderungen kommt", erläutert Volker Haucke. Der Wissenschaftler ist auch Professor für Molekulare Pharmakologie an der Freien Universität Berlin. Aber auch die zellbiologische Identität des eigentlichen Transportmittels konnten die Forschenden bestimmen. Und wieder gab es eine Überraschung: Während die allermeisten sekretorischen Vesikel aus dem sogenannten Golgi-Apparat stammen, haben diese axonalen Transportvesikel keine Golgi-Markierung, sondern teilen sich Markierungen mit dem endolysosomalen System, das in anderen Zellen den Abbau von defekten Proteinen bewirkt. Es war eine neuartige Verknüpfung aus Licht- und hochauflösender Elektronenmikroskopie, die es den Forschenden ermöglichte, die axonalen Transportvesikel ultrastrukturell anzuschauen, das heißt auch ihre Größe und Form zu beschreiben. "Unsere Arbeit legt nahe, dass Neuronen eine Art neue Organelle erfunden haben, eine Transportorganelle, die es wahrscheinlich in dieser Form nur in Nervenzellen gibt“, erläutert Dr. Sila Rizalar, FMP-Postdoc und Erstautorin der in "Science" publizierten Arbeit. "Das wusste man vorher ebenso wenig, wie man den gemeinsamen Transportweg kannte.“
Perspektiven für die Klinik
Die neuen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung könnten eines Tages auch für die Klinik nützlich sein. Denn wenn die Kontakte zwischen den Nervenzellen kaputtgehen, sei es durch eine Krankheit, einen Unfall oder schlicht durch den Alterungsprozess, ist es wichtig, den Mechanismus des axonalen Transports und die beteiligten Schlüsselproteine zu kennen, um therapeutisch eingreifen zu können. "Im Idealfall wird man in der Lage sein, diesen axonalen Transport wiederzubeleben oder zu verstärken, um damit Regeneration von Nervenzellen zu befördern oder Alterungsprozessen entgegenzuwirken", sagt Volker Haucke. Obwohl die Forschenden nun einen entscheidenden Mechanismus der Synapsenentstehung entschlüsselt haben, sind noch viele Fragen offen. Zum Beispiel, wie die neu entdeckten Transportorganellen eigentlich entstehen, aus was sie gebaut sind oder wie sie ihre Fracht, die Synapsenmoleküle, am Ort ihrer Bestimmung abliefern. Auch steht die Frage im Raum, ob lebenslange Erinnerungen nicht möglicherweise über den gleichen axonalen Transportmechanismus abgespeichert werden, der für die Bildung von Synapsen verantwortlich ist. All diese Fragen will das Team um Volker Haucke nun weiterverfolgen. Es bleibt also spannend.
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