ADHS-Diagnostik: Ein umfassender Leitfaden

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine häufige psychische Erkrankung, die bei Kindern und Jugendlichen mit einer Häufigkeit von 3 bis 6 % auftritt. Sie ist durch die Hauptmerkmale Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet. Es ist wichtig zu beachten, dass sich ADHS bei jedem Patienten anders äußern kann. Nur bei einem geringen Anteil der betroffenen Kinder bildet sich die ADHS bis zum Erwachsenenalter vollständig zurück. Daher ist es aus psychiatrischer Sicht notwendig, diesem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bestens bekannten Krankheitsbild auch im Erwachsenenalter Beachtung zu schenken. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über den diagnostischen Prozess bei ADHS.

Der erste Schritt: Abklärung durch Spezialisten

Bei Verdacht auf ADHS ist eine gründliche Abklärung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater oder einen erfahrenen Kinder- und Jugendarzt erforderlich, der sich auf die Diagnostik und Behandlung von ADHS spezialisiert hat. Dieser kann mit verschiedenen Test- und Untersuchungsverfahren sowie Fragebögen ADHS diagnostizieren und erforderliche Therapiemaßnahmen einleiten.

Kriterien für die Diagnose ADHS

Damit überhaupt von einer ADHS ausgegangen werden kann, müssen die Verhaltensauffälligkeiten über einen längeren Zeitraum, wenigstens über sechs Monate, vorhanden sein und schon im Vorschulalter, in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. Familie und Kindergarten/Schule), beobachtet worden sein. Die Eltern empfinden das Leben mit betroffenen Kindern meist von klein auf als äußerst anstrengend, eine ADHS kann aber erst sicher nach dem 3. Lebensjahr diagnostiziert werden.

Bausteine der ADHS-Diagnostik

Die Abklärung einer ADHS dauert üblicherweise mehrere Sitzungen und kann folgende Bestandteile enthalten:

  • Umfassende Anamnese: Eine detaillierte Anamnese der Eltern und/oder des Betroffenen ist ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik. Hierbei werden die aktuellen Probleme erfragt und zusätzlich erörtert, ob in der Vergangenheit die Kriterien von ADHS im Kindes- und Jugendalter erfüllt waren. Da bei einer ADHS in der Regel Probleme auf der Arbeit oder in Freundschaften und Partnerschaften auftreten, ist - mit dem Einverständnis des Betroffenen - ein Gespräch mit Freunden, Partnern oder Kollegen ebenfalls sehr sinnvoll. Hier können die konkreten Verhaltensprobleme in verschiedenen Situationen erfragt werden.

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  • Körperliche und neurologische Untersuchung: Eine körperliche Untersuchung und neurologische Untersuchungen der Fein- und Grobmotorik, der Bewegungskoordination sowie der Sinnesorgane (u. a. Testung der Sehstärke, des Hörvermögens) können durchgeführt werden, um andere Ursachen für die Symptome auszuschließen. Um die Diagnose ADHS stellen zu können, müssen bestimmte körperliche Erkrankungen zunächst als Erklärungsmöglichkeit für die Probleme der betroffenen Person ausgeschlossen werden, da verschiedene Grunderkrankungen ähnliche Symptome auslösen, wie eine ADHS. Zum Beispiel können Schilddrüsenerkrankungen, Anfallsleiden oder ein Schädel-Hirntrauma ähnliche Symptome wie ADHS auslösen. Außerdem muss überprüft werden, ob die Symptome durch die Einnahme eines Medikaments oder durch den Missbrauch von Substanzen ausgelöst wurden. Daher sind körperliche Untersuchungen des internistischen und neurologischen Status und Blutentnahmen zur Bestimmung von Laborparametern in der Regel unverzichtbar. Für eine mögliche medikamentöse Behandlung bei ADHS sind manchmal weitere körperliche Untersuchungen notwendig. Technische Untersuchungen: In Leitlinien empfehlen Fachleute als Zusatzdiagnostik eine Untersuchung der Schilddrüse und ein EEG, denn erst wenn internistische und neurologische Erkrankungen ausgeschlossen werden können, ist die Diagnose ADHS erlaubt.

  • Testpsychologische Untersuchungen: Testpsychologische Untersuchungen (Begabungsuntersuchungen, Intelligenz- und Aufmerksamkeitstests, Überprüfung schulischer Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen, Untersuchung der emotionalen und sozialen Entwicklung) können zusätzliche Informationen liefern. Die Diagnose selbst kann aber nicht durch einen einzigen Testwert sichergestellt werden, da es nicht einen ADHS-Test gibt. Bei Problemen in der Ausbildung und im Studium kann eine Intelligenztestung sinnvoll sein. Bei Problemen beim Rechnen oder Schreiben kann es sinnvoll zu überprüfen, ob eine Teilleistungsschwäche, wie eine Lese-Rechtschreib-Störung, vorliegt.

  • Verhaltensbeobachtungen und -bewertung: Verhaltensbeschreibungen aus Alltagssituationen von unterschiedlichen Personen wie Eltern, Verwandten, Lehrern, Erziehern, Kinder- und Jugendarzt, Freunden etc., evtl. Videoaufzeichnungen von Alltagssituationen, Feststellen von Stärken/Kompetenzen und Schwächen/Defiziten sind wichtige Informationsquellen. Die Verhaltensbeobachtung bei Erwachsenen mit ADHS ist häufig weniger aufschlussreich als bei Kindern oder Jugendlichen. Da das hypermotorische Verhalten bei vielen Betroffenen in der Jugend zurückgeht und eher einer inneren Unruhe weicht, weisen nur noch wenige der erwachsenen Betroffenen körperliche Unruhezeichen auf. Viele der Betroffenen haben keinerlei Probleme damit längere Zeit ruhig auf einem Platz sitzen zu bleiben. Anzeichen einer Störung der motorischen Aktivität im Erwachsenenalter können sein: Trommeln mit den Fingern, Spielen mit Stiften oder Schlüsseln, An sich herum nesteln, Wippen im Sitzen mit den Füssen rhythmisch vor und zurück.

  • Fragebögen: Neben dem Gespräch können standardisierte Fragebögen eingesetzt werden, um die Probleme genau zu erfassen. Diese Fragebögen gibt es in Form einer Selbstauskunft für den Betroffenen selbst oder auch als Fremdauskunft für Bezugspersonen, Partner und Freunde des Betroffenen.

    Folgende Fragebögen gibt es für den Erwachsenenbereich:

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    • Klinisches Urteil
      • Selbsturteil
        • ADHS-DC (HASE)
        • ADHS Interview (IDA)
        • CAARS-OWIR (HASE)
        • ADHS-SB (HASE)
        • ADHS-E
        • CAARS-SKATE
        • WR-SB
        • WURS-K (HASE)
      • ADHS-DC: ADHS Diagnostische Checkliste, (HASE: Rösler et al., 2008)
      • ADHS-E: ADHS Screening für Erwachsene (Schmidt und Petermann, 2013)
      • ADHS-SB: ADHS Selbstbeurteilungsskala (HASE: Rösler et al., 2008)
      • CAARS-O: Conners Skalen zu Aufmerksamkeit und Verhalten für Erwachsene, Fremdbeurteilung (Christiansen et al., 2015)
      • CAARS-S: Conners Skalen zu Aufmerksamkeit und Verhalten für Erwachsene, Selbstbeurteilung (Christiansen et al., 2015)
      • Conners-3: Conners Skalen zu Aufmerksamkeit und Verhalten - 3 (Lidzba et al., 2015)
      • CONNERS EC: Conners Skalen zu Aufmerksamkeit und Verhalten - Vorschulversion (Harbarth et al., 2015)
      • DCL-ADHS: Diagnose-Checkliste ADHS aus dem Diagnostik-System DISYPS-III (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017)
      • HASE: Homburger ADHS Skalen für Erwachsene (Rösler et al., 2008)
      • IDA: Integrierte Diagnose für ADHS im Erwachsenenalter (Retz et al., 2013)
      • ILF-EXTERNAL: Interviewleitfaden für Externale Störungen aus dem Diagnostik-System DISYPS-III (Görtz-Dorten & Döpfner, 2018)
      • FBB-ADHS-V: Fremdbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörungen im Vorschulalter aus dem Diagnostik-System DISYPS-III (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017)
      • FBB-ADHS: Fremdbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörungen aus dem Diagnostik-System DISYPS-III (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017)
      • KATE: Kölner ADHS Test für Erwachsene (Lauth und Minsel, 2014)
      • SBB-ADHS: Selbstbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörungen aus dem Diagnostik-System DISYPS-III (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017)
      • WIR: Wender-Reimherr Interview (HASE: Rösler et al., 2008)
      • WR-SB: Wender-Reimherr Selbstbeurteilungsfragebogen (Retz-Junginger et al., 2017)
      • WURS-k: Wender-Utah Rating Scale - deutsche Kurzform (HASE: Rösler et al., 2008)
  • Weitere Untersuchungen: In einigen Fällen können weitere Untersuchungen wie eine Messung der Hirnströme (EEG) und der Herztätigkeit (EKG) sowie Blutuntersuchungen (insbesondere bei geplanter Medikamentengabe) sinnvoll sein.

Differentialdiagnostische Untersuchung

Im Rahmen der differentialdiagnostischen Untersuchung ist es wichtig, begleitende Probleme wie Störungen im Sozialverhalten, Lernschwierigkeiten, depressive Verstimmungen, Angst o. Ä. zu erkennen, um sie gegebenenfalls gesondert behandeln zu können. Alle diese Störungen können nicht nur mögliche Begleiterscheinungen der ADHS (Komorbidität) sein, sondern auch das verursachende Krankheitsbild, das die Verhaltensauffälligkeiten hervorruft. Diese Erkrankungen müssen vor der Diagnosestellung als Ursache der Symptomatik ausgeschlossen werden, denn unter Umständen können Intelligenzminderung (oder in selten Fällen auch Hochbegabung), Schädel-Hirn-Traumen, Epilepsie, Schilddrüsenstörungen und andere psychische Erkrankungen (z.B. kindliche depressive Verstimmungen, Ängste, Zwangserkrankungen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen (wie z. B. Asperger Syndrom), Psychosen bei Jugendlichen (Schizophrenie), posttraumatische Belastungsstörungen) zu ähnlichen Anzeichen wie bei einer ADHS führen. Auch bestimmte Medikamente können ähnliche Symptome verursachen.

ADHS im Erwachsenenalter

Nur bei einem vergleichsweise geringen Anteil von ca. 30% der betroffenen Kinder bildet sich die ADHS bis zum Erwachsenenalter vollständig zurück. Bei erwachsenen Patienten mit ADHS finden sich besonders häufig zusätzlich ein Drogenmissbrauch bzw. Alkoholismus (bis 50%), Persönlichkeitsstörungen (bis 60%), affektive Störungen (bis 35%) und Angststörungen (bis 25%). ADHS-Betroffene haben nicht nur in der schulischen Ausbildung und im Berufsleben Schwierigkeiten, sondern sie haben auch mehr als nicht Betroffenen eheliche oder partnerschaftliche Probleme. In unserer Praxis bieten wir sowohl die Erstdiagnostik bzw. Abklärung von erwachsenen Patienten mit Verdacht auf ein ADHS an und klären im Falle der Diagnosestellung auch über eventuelle Behandlungsmöglichkeiten auf. Eine spezielle medikamentöse Behandlung, welche nicht in allen Fällen erforderlich ist, kann direkt durch uns initiiert und auch längerfristig durchgeführt werden. Mittel der Wahl ist hier Methylphenidat, ein Alternativpräparat ist Atomoxetin.

Vorbereitung auf den ersten Termin

Für eine fundierte Diagnostik ist es wichtig, dass Sie folgende Unterlagen zum ersten Termin mitbringen:

  • Grundschulzeugnisse (erforderlich)
  • Tabellarischer Lebenslauf (erforderlich)
  • Elektrokardiogramm (EKG), nicht älter als 3 Monate (erforderlich). Sollten Sie an Herzrhythmus-Störungen leiden, brauchen wir einen aktuellen Bericht Ihres Kardiologen.
  • Entlassungsberichte aus psychiatrischen Vorbehandlungen, falls stattgefunden (erforderlich)
  • Zum ersten Arzttermin wäre eine Fremdanamnese (diagnostisches Arztgespräch) mit einem Elternteil, falls möglich, erwünscht.
  • Falls die AD(H)S-Diagnose bereits gestellt worden ist, benötigen wir zum Blutentnahmetermin den Arztbrief, aus dem die AD(H)S-Diagnose hervorgeht, und den aktuellen Medikamentenplan (erforderlich).

Die o. g. Dokumente sind notwendig für die korrekte Diagnose und Ihre erfolgreiche Behandlung. Diese werden im Vorfeld des ersten Arztgespräches entsprechend von einem Facharzt/einer Fachärztin für Psychiatrie analysiert.

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Sollten Sie zum Blutentnahmetermin die o. g. Dokumente nicht mitbringen, können wir Ihnen leider keinen Arzttermin zur weiteren Diagnostik vergeben.

Behandlungsmöglichkeiten

Wenn sich im Rahmen einer Verhaltenstherapie die ADHS-Symptomatik nicht hinreichend verbessern lässt und beeinträchtigende ADHS-Symptome weiterhin bestehen, kann die medikamentöse Therapie von ADHS eine wichtige Ergänzung darstellen; bei einer schweren Symptomatik ist sie sogar eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine Psychotherapie / Verhaltenstherapie erfolgreich eingesetzt werden können. Die deutschen Leitlinien empfehlen für die medikamentöse Behandlung sogenannte Psychostimulanzien als Mittel der ersten Wahl (z.B. Methylphenidat); aber auch Atomoxetin kann unter bestimmten Bedingungen als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden. Darüber hinaus können beim Auftreten von zusätzlichen Symptomen (z.B. Depression oder Ängsten) weitere Medikamente, z.B. Antidepressiva, sinnvoll sein. Wie bei allen Medikamenten können auch hier Nebenwirkungen auftreten, z.B. Appetitminderung, Übelkeit, Schlafprobleme, Puls- und Blutdrucksteigerungen. Im Rahmen Ihrer Behandlung in unserer Praxis können wir das Für und Wider abwägen. Die Medikamente sind verschreibungspflichtig und können nur von einem Psychiater verschrieben werden.

ADHS und ADS: Was ist der Unterschied?

Viele Menschen verwenden die Begriffe ADS und ADHS abwechselnd, doch sind sie nicht austauschbar. Bei ADHS zählt Hyperaktivität neben Aufmerksamkeitsstörungen und Impulsivität zu den Kernsymptomen. Bei ADS spielt Hyperaktivität keine Rolle. ADS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Während die ersten beiden Typen von ADHS aufgrund der motorischen Hyperaktivität schnell auffallen, wird der dritte Typ (ADS) eher als verträumt und ruhig wahrgenommen und die dahinterliegende Störung übersehen. In der Konsequenz kann es zu einem, scheinbar unerklärlichen Versagen in der Schule, im Beruf oder in zwischenmenschlichen Beziehungen kommen.

ADHS bei Frauen

Anders als Jungs fallen Mädchen mit ADHS in der Kindheit selten auf, da sie kaum dem Bild des klassischen Zappelphilipp ähneln. Meist sind sie still, ruhig, zurückgezogen, verlieren sich in Tagträumereien, vergessen die Hausaufgaben, verlieren die Arbeitszettel und der Schreibtisch sieht chaotisch aus. Ihre Unruhe zeigt sich im Kauen an den Nägeln oder dem Spielen mit den Haaren. Sie stören niemanden, fallen kaum auf, gelten häufig als faul und werden aufgefordert, „sich mehr anzustrengen“. Dementsprechend wird bei Frauen das ADHS oder ADS später als bei Männern diagnostiziert.

Ursachen von ADHS

Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre weisen darauf hin, dass es sich bei ADHS nicht um eine Modediagnose handelt, sondern um eine weitgehend genetisch bedingte, neurobiologisch determinierte Entwicklungsstörung (Krause und Krause, 2013). Darüber hinaus konnten in zahlreichen genetischen Studien eine Störung in der dopaminergen Übertragung im zentralen Nervensystem nachgewiesen werden.

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