Unser Gehirn ist ein komplexes Organ, die Schaltzentrale für unser Gedächtnis. Es verarbeitet Sinneswahrnehmungen, koordiniert Bewegungen und Verhaltensweisen und kann komplexe Informationen speichern. Doch wie funktionieren Lern- und Erinnerungsprozesse und was passiert dabei im Gehirn?
Die Grundlagen des Lernens im Gehirn
Ungefähr 86 Milliarden Nervenzellen, auch Neurone genannt, vernetzen sich in einem menschlichen Gehirn. Diese Neurone sind über Synapsen miteinander verbunden, die darauf spezialisiert sind, Signale elektrochemisch umzuwandeln und weiterzuleiten. Das menschliche Gehirn ist das komplizierteste Organ, das die Natur je hervorgebracht hat: 100 Milliarden Nervenzellen und ein Vielfaches davon an Kontaktpunkten verleihen ihm Fähigkeiten, an die kein Supercomputer bis heute heranreicht. Eine der wichtigsten Eigenschaften ist seine Lernfähigkeit.
Beim Lernen werden individuell und selektiv erworbene Informationen aus der Umwelt im Gedächtnis in abrufbarer Form gespeichert. Dies kann kurzfristig oder, auf Erfahrungen aufbauend, über längere Zeiträume geschehen, zum Teil sogar für das ganze Leben.
Synaptische Plastizität und Langzeitpotenzierung
Lernen basiert auf einer spezifischen Verstärkung bestimmter Synapsen, an denen die Signalübertragung durch biochemische und strukturelle Modifikationen erleichtert wird. Hier sind Langzeitpotenzierung (LTP) und synaptische Plastizität wichtige Stichworte. Plastische Synapsen verändern ihre Struktur und ihre Übertragungseigenschaften, was die Grundlage für Lern- und Gedächtnisprozesse ist. Manchmal bilden sich beim Lernen neue Synapsen, oder nicht mehr gebrauchte Synapsen werden abgebaut.
Die Effektivität der Übertragung kann variieren. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als synaptische Plastizität. So kann eine Synapse durch einen Vorgang namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet.
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Faktoren, die das Lernen beeinflussen
Wie gut wir lernen und uns etwas merken können, hängt von Faktoren wie Aufmerksamkeit, Motivation und Belohnung ab. Dabei werden wichtige von unwichtigen Informationen getrennt. Im Gehirn gibt es keinen zentralen Ort, an dem Informationen gespeichert werden, aber der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstelle für viele Gedächtnisinhalte.
Neuroplastizität und die Veränderbarkeit des Gehirns
Das Gehirn ist keine statische Struktur, sondern verändert sich ständig. Die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu strukturieren, begleitet uns ein Leben lang. Diese Prozesse werden als Neuroplastizität bezeichnet. "Wir verstehen vor allen Dingen darunter die wechselseitige Beziehung von Struktur und Funktion. Also, wie ändert sich das Gehirn, wenn ich es benutze und wie verändert das veränderte Gehirn wiederum mein Handeln? Die Fähigkeit des Gehirns, sich immer wieder neu zu strukturieren, hilft aber auch, dass wir uns in unbekannten Umgebungen orientieren können und mit neuen Situationen zurechtkommen. Diese Anpassungsleistung hilft uns Menschen bei komplexen Zusammenhängen den Durchblick zu bewahren. Wir können schnell reagieren, abwägen, was neu und wichtig ist und mit bereits gespeicherten Informationen verbinden.
Die Vorstellung, dass das Gehirn ein Leben lang lernfähig bleibt, ist aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten. Anders hätte der Mensch die vielfältigen Herausforderungen, denen er im Laufe eines Lebens begegnet, auch gar nicht bewältigen können. So können wir bis ins hohe Alter eine Fremdsprache und Yoga lernen, uns Gesicht und Stimme eines neuen Arbeitskollegen merken oder den Weg zu einer neuen Pizzeria.
Neurogenese
Wenn Nervenzellen sich neu bilden, sprechen Forscher von einer Neurogenese. Diese Neubildung der Nervenzellen findet hauptsächlich im Hippocampus statt. Dieser Bereich im Gehirn ist für das Gedächtnis und Lernen zuständig. Ein Hirnareal, das aber auch zur räumlichen Orientierung notwendig ist. Bis ins hohe Alter können sich im Hippocampus Nervenzellen erneuern. Das ist für Menschen von Bedeutung, die aufgrund eines Schlaganfalls viele Dinge neu lernen müssen.
Routinen und Gewohnheiten
Das Gehirn spielt auch bei Routinen eine Rolle. "Sind wir einmal an eine Verhaltensweise gewöhnt, schalten wir gewissermaßen auf Autopilot", sagt Lars Schwabe, Professor für Psychologie an der Universität Hamburg. Das menschliche Gehirn spare damit Arbeit. Das zeigt sich auch bei der Ernährung: Essen wir Lebensmittel mit sehr viel Zucker und Fett, gewöhnt sich unser Gehirn daran und verlangt nach mehr. Wissenschaftler fanden heraus, dass Bereiche im Gehirn an Signale des Magens gekoppelt sind, die vermutlich das menschliche Hunger- und Sättigungsgefühl beeinflussen. Die Effekte von Zucker und Fett auf das Gehirn sind sogar auf MRT-Bildern zu sehen. Zu der Frage, wie lange es dauert, neue, gesunde Gewohnheiten aufzunehmen, gibt es unterschiedliche Positionen: Die Dauer variiert je nach Studie und Routine zwischen 18 und 245 Tagen.
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Methoden zur Untersuchung des Gehirns
Mit Hilfe der Neurowissenschaften können die Fähigkeiten unseres Gehirns immer genauer erklärt werden. Ein Blick ins Gehirn ist mit bildgebenden Verfahren, wie der Magnetresonanztomographie (MRT) möglich. Damit kann man Veränderungen von Hirnarealen untersuchen und das neuronale Netz in seiner Dichte erfassen. Es bietet Möglichkeiten immer besser zu verstehen, wie unser Gehirn tatsächlich lernt. Aber die neuronalen Aktivitäten im Detail zu erkennen, dafür reicht das MRT-Verfahren nicht aus.
Wissenschaftler können die Gehirnaktivität eines Menschen durch EEG-Signale mitlesen. Doch welche Signale gehören zu welchen Denkvorgängen? Bernhard Schölkopf und sein Team wollen diesen Code entschlüsseln und leistungsfähige Gehirn-Computer-Schnittstellen entwickeln.
Unterschiede beim Lernen zwischen Kindern und Erwachsenen
Prof. Dr. Brigitte Röder, eine renommierte Neurowissenschaftlerin und Psychologin, forscht zur Gehirnentwicklung bei Kindern. Sie erklärt, dass sich das Gehirn von Geburt an über viele Jahre entwickelt und noch bis Mitte der Zwanzigerjahre reift. Lernen ist eine neuronale Veränderung von Strukturen und Funktionen im Gehirn, die als Neuroplastizität bezeichnet wird.
Sensible Perioden
In der Pädagogik gibt es sogenannte sensible Perioden in der Entwicklung eines Kindes. Dies sind bestimmte, einzigartige Phasen der Gehirnentwicklung, in denen das Kind in einem bestimmten Bereich enorm viel und schnell lernt, oft passiv und ohne unmittelbare Konsequenzen. Zunächst lernen Kinder, die Statistiken der Welt wahrzunehmen, einfache Ereignisketten zu erkennen und unwichtige Informationen zu vergessen.
Diese sensiblen Phasen lassen sich zeitlich nicht klar eingrenzen, da sich das Gehirn sehr lange entwickelt. Sie laufen nicht sequentiell ab und haben kein abruptes Ende. Das bedeutet, dass Lernen in den jeweiligen Bereichen auch in späteren Lebensphasen möglich bleibt, wenn auch nicht mehr so gut, so schnell oder mit den gleichen neuronalen Mechanismen wie in der Kindheit.
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Neurokonstruktion
Im Erwachsenenleben sind weniger neuronale Verbindungen vorhanden, die genutzt werden können, um eine Expertenfunktion herauszukristallisieren und zu elaborieren. Dieser Mechanismus, die Neurokonstruktion, steht nur während sensibler Perioden der Hirnentwicklung in vollem Umfang zur Verfügung. Neuere Forschung zeigt jedoch, dass auch Erwachsene, die etwas Neues lernen, möglicherweise noch einmal einen gewissen Überschuss an neuronalen Verbindungen produzieren, der dann wieder zurückgeschnitten wird, um eine neue Funktion zu etablieren. Im Vergleich zur Kindheit finden diese Prozesse aber in einem viel kleineren Umfang statt.
Konsequenzen für die Praxis des Lernens und Lehrens
Kinder brauchen zunächst viele Fakten, auf denen sie aufbauen können. Sie entwickeln individuelle Lernbedürfnisse in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Um diese zu stillen, muss ihnen ihr Umfeld, zu dem wesentlich auch die Schule gehört, die entsprechenden Lern- und Entdeckungsmöglichkeiten sowie Wiederholungs- und Vertiefungsmöglichkeiten anbieten.
Es wäre die falsche Konsequenz aus sensiblen Phasen für die Sprachentwicklung, Schülerinnen und Schüler mit Defiziten aufzugeben. Lernen ist immer positiv und hat in jeder Lebensphase positive Effekte, auch wenn die Renditen später geringer sind.
Wie das Gehirn Informationen verarbeitet
Äußere Reize aktivieren über unsere Sinne die Synapsen im Gehirn. Über diese wird dann jede Information weitergetragen - von Nervenzelle zu Nervenzelle. Je mehr Nervenzellen und Synapsen aktiviert werden, desto tiefer verankert sich die Information im Gehirn. Das bedeutet, je mehr Sinne wir beim Lernen einsetzen, desto mehr Verbindungen entstehen im Gehirn, und desto besser können wir uns das Gelernte merken. Wenn Kinder beim Pauken mehrere Bereiche des Gehirns aktivieren - also Bereiche, die fürs Lesen, Sprechen, Hören und Schreiben verantwortlich sind - wird der Lernstoff besser abgespeichert. Hören wir Informationen nur, können wir diese nicht so gut einprägen, als wenn wir diese zusätzlich gelesen, aufgeschrieben oder aufgesagt haben. Verknüpfen wir Lerninhalte noch mit Geschichten, Bildern und Emotionen, wirkt das nachhaltig.
Die Rolle von Interesse und Emotionen
Interessiert sich ein Kind für ein Thema, saugt es jegliches Wissen dazu in sich auf, und zwar mehrkanalig. Das passiert automatisch, sobald sich ein Kind für ein Thema interessiert und intuitiv Lernstrategien einsetzt, um sich alles merken zu können. Kleinere Kinder lernen nämlich noch im Entdeckermodus und setzen sich intensiv mit den Inhalten auseinander - in Büchern, Kassetten oder über Filme und Gespräche.
Um nachhaltig und leichter lernen zu können, müssen wir uns die Lern-Vorlieben unseres Gehirns zunutze machen. Dazu gestalten wir jeden Lernstoff so um, wie das Gehirn es mag: bunt, vielseitig, strukturiert und spannend muss es sein. Das stumpfe Auswendiglernen kann also zum einen durch das Anfertigen von Mind-Maps oder bunten Plakaten ersetzt werden, bei denen das Wissen gegliedert und durch unterschiedliche Farben strukturiert wird - und zwar mehrkanalig über Sehen, Schreiben, Lesen. Zum anderen helfen Lernübungen, jeglichen Lernstoff fachunabhängig so aufzubereiten, wie das Gehirn es braucht. Dank solcher Methoden erarbeiten sich Schulkinder die Aufgaben selbstständiger und suchen wieder aktiv nach einer Lösung. Das hat viele positive Effekte auf den Lernalltag des Kindes: Es lernt selbstwirksam, vertraut stärker in die eigenen Fähigkeiten, lernt gelassener und motivierter.
Gedächtnis und seine verschiedenen Formen
Das Gedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen wie vergangene Ereignisse, Erfahrungen und Wissen zu speichern, abzurufen und zu nutzen. Es ist kein spezifisches Organ, sondern existiert in dem Netzwerk von neuronalen Verbindungen, die über das gesamte Gehirn verteilt sind. Einige Hirnregionen beeinflussen die Bildung und Speicherung von Gedächtnisinhalten allerdings entscheidend mit. Der Hippocampus etwa liegt im Schläfenlappen (Temporallappen) des Gehirns und ist eine der wichtigsten Hirnregionen für unsere Langzeiterinnerungen. Das Kurzzeitgedächtnis scheint hingegen hauptsächlich in der Stirnregion (präfrontaler Kortex) verortet zu sein.
Es gibt verschiedene Arten von Gedächtnis:
- Das sensorische Gedächtnis: Eine Art Puffer, welcher Informationen aus der Umwelt aufnimmt und wenige Sekunden zwischenspeichert, um sie zu filtern und gegebenenfalls zu verarbeiten.
- Das Arbeitsgedächtnis: Kann Informationen für Sekunden- oder Minutenspannen behalten und gleichzeitig nutzen, um an Aufgaben zu arbeiten, Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen. Der deklarative Teil des Arbeitsgedächtnisses, auch episodisches Gedächtnis genannt, speichert explizite Informationen wie Fakten, Namen und Ereignisse, während das prozedurale Gedächtnis für Fähigkeiten wie Laufen, Schreiben oder Fahrradfahren, aber auch für erlernte Ängste oder Konditionierungen zuständig ist.
- Das Langzeitgedächtnis: Ist nahezu unbegrenzt und kann beliebig viele Informationen über Jahre hinweg oder sogar ein ganzes Leben lang speichern. Es enthält all das Wissen, die Erfahrungen und die Fähigkeiten, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben.
Damit Fähigkeiten ins Langzeitgedächtnis gelangen können, müssen wir sie zumeist mehrmals wiederholen oder üben, um die Verbindungen zwischen den beteiligten Neuronen zu stärken.
Lernen als lebenslanger Prozess
Lernen ist ein lebenslanger Prozess, der bereits vor der Geburt beginnt und bis zum Lebensende stattfindet. Schon der Fötus im Mutterleib ist in der Lage, anhand von Geräuschen, Berührungen und Bewegungen, die zu ihm durchdringen, erste Erfahrungen zu sammeln.
Auch wenn wir es nicht immer bewusst wahrnehmen: Im Erwachsenenalter lernen wir stetig weiter. Der Begriff Intelligenz beschreibt unsere kognitive Leistungsfähigkeit - sprich, unser Potenzial, erfolgreich in einer Vielzahl von Situationen zu agieren. Dazu müssen wir in der Lage sein, Probleme zu lösen, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, kritisch und abstrakt zu denken sowie zu reflektieren.
Tipps für effektives Lernen
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, ein renommierter Hirnforscher, betont, dass richtiges Lernen aktiv und selbstbestimmt ablaufen sollte, um erfolgreich zu sein. Beim Wissenserwerb wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. Wir empfinden Freude, wenn wir Neues kennenlernen. Deshalb fällt uns das Lernen auch leichter, wenn wir für Themen eine Leidenschaft entwickeln oder Spaß am Hinterfragen von Zusammenhängen haben.
Die aktive Auseinandersetzung mit der Welt ist wichtig. Selbst Erfahrungen zu machen ist eine grundlegende Voraussetzung für effektives Lernen. Nur zuhören ist wenig effektiv. Wenn aber beim Sprachenlernen Wörter mit bestimmten Bewegungen oder Emotionen verbunden werden, spricht das im Gehirn auch visuelle, akustische und sensomotorische Zentren an. Die Schüler können sich an die Wörter leichter erinnern.
Die richtige Balance finden
Auch bei der Frage nach der richtigen Einteilung der Lernzeit gibt es aus Sicht der Hirnforscher eine klare Richtung. Wer eine Fremdsprache lernt, übt besser zehn Minuten am Tag als einmal in der Woche zwei Stunden. Außerdem brauchen Kinder und Jugendliche eine Balance zwischen Lern- und Entspannungsphasen, um neues Wissen zu verarbeiten und zu festigen. Besser ist es, sich beispielsweise künstlerisch zu betätigen, um die kognitiven Batterien wieder aufzuladen.