Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur akute gesundheitliche Herausforderungen mit sich gebracht, sondern auch langfristige Folgen, die als Long Covid bekannt sind. Ein besonders besorgniserregender Aspekt von Long Covid sind die Auswirkungen auf das Gehirn, die von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen bis hin zu neuropsychiatrischen Symptomen wie Angstzuständen und Depressionen reichen. Trotz intensiver Forschung sind die Mechanismen, die diesen kognitiven und affektiven Veränderungen zugrunde liegen, noch immer weitgehend unbekannt. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Erkenntnisse zu Long Covid und seine Auswirkungen auf das Gehirn, einschließlich der neuesten Forschungsergebnisse, potenzieller Ursachen und möglicher Therapieansätze.
Kognitive Beeinträchtigungen und Gedächtnisstörungen nach COVID-19
Eine umfassende Studie der SRH University Heidelberg hat gezeigt, dass eine COVID-19-Erkrankung lang anhaltende und spezifische Gedächtnisbeeinträchtigungen verursachen kann. Die Forschungsgruppe analysierte die kognitiven Funktionen von über 1.400 Teilnehmenden und konnte nachweisen, dass insbesondere das Gedächtnis zur Unterscheidung ähnlicher Erinnerungen betroffen ist. Diese Fähigkeit wird maßgeblich vom Hippocampus gesteuert, einer zentralen Gedächtnisregion des Gehirns.
Die Studie umfasste Personen, die bereits mit Sars-CoV-2 infiziert waren, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne bisherige Infektion. Die Teilnehmenden, zwischen 18 und 90 Jahren alt, absolvierten eine Reihe digitaler Tests, um spezifische Aspekte ihrer kognitiven Leistung zu überprüfen. Dabei zeigten sich signifikante Defizite in der sogenannten mnemonischen Diskriminierungsleistung, also der Fähigkeit, ähnliche Erinnerungen voneinander zu unterscheiden. Diese spezifische Gedächtnisstörung trat unabhängig von Faktoren wie Alter, Bildung, Stress oder Depressivität auf. Andere kognitive Fähigkeiten, wie beispielsweise kognitive Flexibilität oder das allgemeine Erinnerungsvermögen, blieben hingegen weitgehend unbeeinträchtigt.
Die Ergebnisse der Studie belegen erstmals in einer großen Stichprobe eindeutig eine spezifische Gedächtnisstörung nach einer Covid-19-Erkrankung, die nicht allein durch psychische Belastungen oder allgemeine körperliche Erschöpfung erklärt werden kann. Die Wissenschaftler vermuten, dass Entzündungsreaktionen im Gehirn, welche häufig im Zusammenhang mit Covid-19 auftreten, die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus beeinträchtigen.
Neuro-Covid: Neurologische Symptome bei Long Covid
Bei Long Covid treten häufig auch neurologische Symptome auf, darunter Fatigue, Gedächtnisstörungen und Brain Fog. Sie werden unter dem Begriff Neuro-Covid zusammengefasst. Früh in der Pandemie hieß es, das Virus dringe ins Gehirn ein. Heute weiß man, dass vermutlich andere Mechanismen hinter den Beschwerden stecken.
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Das EU-finanzierte Projekt NeuroCOV unter der Leitung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn hat sich zum Ziel gesetzt, die Wechselwirkungen zwischen Nervengewebe und Immunsystem aufzuschlüsseln und zielgerichtete Therapien zu entwickeln. Joachim Schultze, Koordinator des Projekts, betont die außergewöhnliche Bandbreite von der molekularen Ebene bis hin zu Informationen aus nationalen Registerstudien. Durch die Verbindung von Gesundheitsdaten mit klinischen Experimenten soll ein klareres Bild vom gesamten Spektrum der Erkrankung gewonnen werden.
Herausforderungen und interdisziplinäre Zusammenarbeit
Ein solches Projekt bringt viele Herausforderungen mit sich, angefangen bei nationalen Unterschieden im Gesundheitssystem und zwischen neurologischen Tests bis hin zu sprachlichen Barrieren. NeuroCOV vereint Forschende aus verschiedenen Fachbereichen wie Neuropathologie, Immunologie und Informatik, die normalerweise nicht dieselben Kongresse besuchen. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist entscheidend, um die komplexen Mechanismen von Neuro-Covid zu verstehen.
Häufige neurologische Probleme
Das häufigste Symptom von Neuro-Covid ist Fatigue, also eine extreme chronische Erschöpfung. Oft wird auch die Kognition schlechter, Aufmerksamkeit und Gedächtnis leiden. Man spricht in dem Zusammenhang von Brain Fog. Hinzu kommen Benommenheit und Schwindel. Es ist tatsächlich schwierig, Long-Covid-Patienten zu finden, die keine neurologischen Probleme haben. Allein von Fatigue sind 80 bis 90 Prozent betroffen, je nach Land. Das Gehirn ist also in fast allen Fällen beteiligt. Die Symptome ähneln deutlich denen, die auch bei ME/CFS auftreten.
Rückgang der Zahlen?
Obwohl die Zahlen der Betroffenen insgesamt abnehmen, bedeutet dies nicht, dass die Menschen geheilt sind. Viele kommen aus der symptomatischen Phase heraus, aber die Ursache besteht weiter. Bei der nächsten Infektion sind die vermeintlich Genesenen dann vermutlich die Ersten, die wieder betroffen sind. Der Rückgang der Zahlen kann auch daran liegen, dass sich das Virus und die Immunität in der Gesellschaft verändert haben.
Veränderungen im Gehirn von Menschen mit Neuro-Covid
Zu Beginn der Pandemie wurde beobachtet, dass das Hirnvolumen abnimmt. Zudem findet man Entzündungen der Hirngefäße, thrombotische Geschehen und entzündliche Parameter in der Hirnflüssigkeit. Einige Long-Covid-Patienten haben übermäßige Amyloid-Ablagerungen im Gehirn, also Proteinansammlungen, die man auch bei Alzheimer sieht. Es ist jedoch unklar, ob sie schon vorher da waren und sich bloß durch die Infektion vermehrt haben.
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Modernste Techniken zur Aufklärung der Mechanismen
Um die Mechanismen von Neuro-Covid aufzuschlüsseln, setzt das NeuroCOV-Projekt modernste Techniken ein. Dazu gehören hochdimensionale Statistik zur Suche nach Mustern in der Population, Einzelzellgenomik zur Messung von Parametern pro Zelle und die Arbeit mit Organoiden und Stammzellen. An Nervenzellen, die aus pluripotenten Stammzellen hergestellt werden, wird geprüft, ob sie bei Long-Covid-Patienten besonders anfällig sind.
Erkenntnisse des NeuroCOV-Projekts
Eine wichtige Erkenntnis des NeuroCOV-Projekts ist die Heterogenität innerhalb der Patienten. Obwohl alle mit Sars-CoV-2 infiziert waren, haben sie unglaublich viele unterschiedliche klinische Erscheinungsbilder. Man muss Neuro-Covid daher als Spektrum bezeichnen. Im Vergleich zu jenen, die nach der Infektion wieder gesund werden, haben Menschen mit Neuro-Covid ein deutlich verändertes Immunsystem.
Anhaltende Aktivierung des Immunsystems im Gehirn von COVID-19-Genesenen
Freiburger Forscherinnen haben wichtige Fortschritte im Verständnis der immunologischen Veränderungen im Gehirn von COVID-19-Genesenen gemacht. Im Gehirn von Personen, die eine SARS-CoV-2-Infektion überstanden haben, fanden sie Anzeichen einer anhaltenden Aktivierung des angeborenen Immunsystems. Diese Erkenntnisse könnten entscheidend für die Entwicklung neuer Therapien für Patientinnen mit langfristigen neurologischen Symptomen nach COVID-19 sein.
Hirneigenes Immunsystem längerfristig gestört
Die Forscherinnen untersuchten die Gehirne von Personen, die an COVID-19 erkrankt, vollständig genesen und zu einem späteren Zeitpunkt an einer anderen Ursache verstorben waren. Bei diesen ermittelten sie immunologische Veränderungen im zentralen Nervensystem. Im Vergleich zu ebenfalls untersuchten Personen ohne vorherige SARS-CoV-2-Infektion fanden die Forscherinnen in den Gehirnen von Genesenen zahlreiche sogenannte Mikrogliaknötchen. Diese charakteristischen Immun-Zellansammlungen weisen auf eine chronische Immunaktivierung hin, ähnlich einer Narbe, die nicht vollständig ausheilt.
Relevanz für langfristige neurologische Symptome
Die anhaltende Aktivierung des angeborenen Immunsystems im Gehirn könnte zu den langfristigen neurologischen Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion beitragen. Studienleiter Prinz betont, dass diese Studie ein wichtiger Schritt ist, um zu verstehen, wie COVID-19 das Gehirn langfristig beeinflusst. Dies könnte helfen, gezielte Therapien zu entwickeln, die diese Immunreaktionen modulieren und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern.
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Das Spike-Protein und seine Auswirkungen auf das Gehirn
Forschende von Helmholtz Munich und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) haben einen Mechanismus identifiziert, der möglicherweise die neurologischen Symptome von Long COVID erklärt. Die Studie zeigt, dass das SARS-CoV-2-Spike-Protein in den schützenden Schichten des Gehirns, den Hirnhäuten, und im Knochenmark des Schädels bis zu vier Jahre nach der Infektion verbleibt. Diese dauerhafte Präsenz des Spike-Proteins könnte bei den Betroffenen chronische Entzündungen auslösen und das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen.
Anreicherung des Spike-Proteins im Gehirn
Die Studie zeigte signifikant erhöhte Konzentrationen des Spike-Proteins im Knochenmark des Schädels und in den Hirnhäuten, selbst Jahre nach der Infektion. Das Spike-Protein bindet an sogenannte ACE2-Rezeptoren, die in diesen Regionen besonders häufig vorkommen. Das Team um Ertürk entdeckte, dass der mRNA-COVID-19-Impfstoff von BioNTech/Pfizer die Anreicherung des Spike-Proteins im Gehirn signifikant reduzieren.
Gesellschaftliche Herausforderung
Weltweit haben sich 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung mit COVID-19 infiziert. Davon leiden fünf bis zehn Prozent unter Long COVID. Das entspricht etwa 400 Millionen Menschen, die möglicherweise signifikante Mengen an Spike-Proteinen in sich tragen. Die Studie zeigt, dass mRNA-Impfstoffe das Risiko langfristiger neurologischer Folgen erheblich senken können und somit einen entscheidenden Schutz bieten.
Mögliche Therapieansätze
Es gibt mögliche Ansatzpunkte, um etwas gegen die abgelagerten Spike-Proteine zu tun. Das Spike-Protein wirkt unter anderem über den ACE2-Rezeptor. Mit dieser Bindung könnten vielleicht spezielle Wirkstoffe konkurrieren, etwa ein Antikörper, der an den Rezeptor bindet und ihn so blockiert.
Neurologische Symptome nicht Folge einer SARS-CoV-2-Infektion des Gehirns?
Eine Studie der Charité - Universitätsmedizin Berlin liefert Belege dafür, dass neurologische Symptome während und nach einer Corona-Infektion nicht unbedingt auf eine direkte Infektion des Gehirns zurückzuführen sind. Stattdessen könnten sie eine Folge der Entzündung im Rest des Körpers sein.
Immunzellen tragen Virus ins Gehirn
Die Charité-Wissenschaftler*innen konnten in einigen Fällen das Erbgut des Coronavirus im Gehirn nachweisen, aber keine SARS-CoV-2-infizierten Nervenzellen finden. Sie gehen davon aus, dass Immunzellen das Virus im Körper aufgenommen haben und dann ins Gehirn gewandert sind. Dennoch beobachteten die Forschenden, dass bei den COVID-19-Betroffenen die molekularen Vorgänge in manchen Zellen des Gehirns auffällig verändert waren: Die Zellen fuhren beispielsweise den sogenannten Interferon-Signalweg hoch, der typischerweise im Zuge einer viralen Infektion aktiviert wird.
Vagusnerv als Überträger der Entzündung
Die reaktiven Nervenzellen fanden sich hauptsächlich in den sogenannten Kernen des Vagusnervs, also Nervenzellen, die im Hirnstamm sitzen und deren Fortsätze bis in Organe wie Lunge, Darm und Herz reichen. Die Nervenzellen reagieren dabei nur vorübergehend auf die Entzündung. Eine Chronifizierung der Entzündung bei manchen Menschen könnte für die oft beobachteten neurologischen Symptome bei Long COVID verantwortlich sein.
Kognitive Defizite und kompensatorische Leistungen des Gehirns
Eine Studie der University of Maryland School of Medicine in Baltimore hat untersucht, wie sich neuropsychiatrische Symptome nach einer COVID-19-Erkrankung auf die kognitiven Leistungen auswirken. Die Ergebnisse zeigten, dass Patienten, die 7 Monate nach der akuten Erkrankung noch über neuropsychiatrische Symptome klagten, in kognitiven Tests keine schlechteren Ergebnisse erzielten als eine Kontrollgruppe. Die Untersuchungen mit der funktionellen Magnetresonanztomografie zeigten jedoch, dass die betroffenen Patienten größere neuronale Ressourcen aufbringen mussten, was die stärkere psychische Anspannung erklären könnte.
Kompensatorische Leistungen des Gehirns
Bei den schwierigen Aufgaben war die Aktivierung in den für die kognitiven Leistungen benötigten Zentren vermindert. In anderen Hirnregionen war die Aktivität dagegen höher als bei den gesunden Probanden. Chang vermutet, dass es sich um eine kompensatorische Leistung des Gehirns handelt. Die verminderte Aktivität in den kognitiven Zentren wird durch eine vermehrte Aktivität in andern Zentren ausgeglichen.
Verminderte Deaktivierung des „Default Mode Network“
Auffallend war auch eine verminderte Deaktivierung des „Default Mode Network“. Diese Regionen sind in Ruhe oder beim Tagträumen vermehrt aktiv. Bei Aufgaben, die eine erhöhte Konzentration erfordern, werden sie abgestellt. Dies scheint den Patienten mit Long COVID nicht so gut zu gelingen.
Behandlungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven
Obwohl es noch keinen etablierten Weg gibt, um etwas gegen die abgelagerten Spike-Proteine zu tun, gibt es mögliche Ansatzpunkte. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Medikamenten sind Biomarker, die es erlauben, die Patienten in klinische Subgruppen einzuteilen. Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité hat die nationale Studienplattform NKSG eingerichtet, in deren Rahmen bereits Wirkstoffe gegen Long COVID in klinischen Studien getestet werden.
Individuelle Therapien und Immunmodulation
Wenn die Symptome einer Person auf Autoantikörper zurückgehen, würde man versuchen, jene Zellen zu vernichten, die diese schädlichen Moleküle herstellen. Eine weitere Möglichkeit wäre die so genannte Immunmodulation, also Verfahren, die die überschießende Immunantwort auf ein normales Maß drosseln.
Die Bedeutung der Forschung
Die Forschung zu Long Covid und seinen Auswirkungen auf das Gehirn ist von entscheidender Bedeutung, um die komplexen Mechanismen der Erkrankung zu verstehen und gezielte Therapien zu entwickeln. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Forschenden aus verschiedenen Fachbereichen ist dabei unerlässlich.