Neurologischer Neglect: Definition, Ursachen und Therapie

Ein neurologischer Neglect, oft einfach nur Neglect genannt, ist eine neurologische Störung, die durch eine Schädigung des Gehirns verursacht wird. Betroffene vernachlässigen eine Seite ihres Körpers oder des Raumes, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Begriff "Neglect" stammt vom lateinischen Wort "neglegere", was "nicht beachten" oder "vernachlässigen" bedeutet.

Definition des neurologischen Neglects

Beim Neglect kommt es zur Vernachlässigung einer Raum- bzw. Körperhälfte (egozentrisch) und/oder von Objekthälften (allozentrisch). Den Patienten ist das Defizit meist nicht bewusst. Es handelt sich um eine einseitige Vernachlässigung von Reizen auf der Raum- oder Körperhälfte, die der geschädigten Hirnhälfte gegenüberliegt. Insbesondere nach Schlaganfällen in der rechten Hirnhälfte erleben Betroffene in 30-40% einen anhaltenden Neglect. Diese einseitige verminderte Wahrnehmung schränkt die Betroffenen im Alltag deutlich ein.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Hirnschäden, die zu einem Neglect-Syndrom führen, beruhen meist auf einem Schlaganfall. Dieser entsteht entweder durch eine Durchblutungsstörung (ischämischer Schlaganfall) oder aber Einblutung (hämorrhagischer Schlaganfall oder Hirnblutung) in bestimmten Hirnarealen. Seltener sind Gehirntumoren und Demenzerkrankungen wie Alzheimer für einen Neglect verantwortlich.

Neglect und andere Störungen der Raumkognition treten nach größeren rechtshemisphärischen Läsionen auf, beispielsweise bei größeren rechtshemisphärischen Schlaganfällen oder Blutungen der Arteria cerebri media. Die Störung der Raumkognition hat für die Patienten schwerwiegende Folgen für die Selbstständigkeit im Alltag. Weiterhin beeinflussen diese Störungen Rehabilitationsergebnis und Genesungsverlauf negativ. Dementsprechend sind eine zielgerichtete Diagnostik und frühzeitig einsetzende Therapie sehr wichtig.

Ein Neglect tritt vor allem dann auf, wenn die rechte Hirnhälfte geschädigt wurde. Deshalb vermuten Neurologen, dass diese Hälfte des Gehirns wichtiger ist für die Verarbeitung von Sinnesreizen als die linke. Dafür spricht auch, dass die rechte Hirnhälfte einen Ausfall der linken oft teilweise auszugleichen vermag, während dies umgekehrt nicht möglich ist.

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Formen und Symptome des Neglects

Je nachdem, welche Bereiche betroffen sind, unterscheidet man verschiedene Formen des Neglects:

  • Visuell-räumlicher Neglect (Visueller Neglect): Dabei werden die visuellen Reize der gestörten Raumhälfte nicht oder zu wenig betrachtet. Die Betroffenen sehen nichts mehr mit dem Auge der beeinträchtigen Körperhälfte. Ihr Gesichtsfeld beschränkt sich auf den Ausschnitt der gesunden Körperseite. Beim Lesen lassen sie die Wörter auf der betroffenen Seite aus, bzw. fangen erst ab der Mitte der Seite an zu lesen was dazu führt, dass der Lesestoff keinen Sinn ergibt. Bei einer solchen Störung sollte auch unbedingt das Extinktionsphänomen beachtet werden.
  • Akustischer Neglect (Auditorischer Neglect): Die Patienten können nur die akustischen Reize wahrnehmen, die an die gesunden Seite gerichtet sind. Wenn jedoch die andere Seite angesprochen wird, kann es passieren, dass der Patient sich zur Gegensätzlichen wendet und somit ins Leere antwortet. Die Patienten hören auf der Neglect-Seite nichts und reagieren deshalb nicht, wenn man sie aus dieser Richtung anspricht. Außerdem haben sie Schwierigkeiten zuzuordnen, woher Geräusche kommen.
  • Somatosensibler Neglect: Betroffene reagieren nicht oder verspätet auf Berührungen oder Schmerzen an der vom Neglect betroffenen Körperseite. Die Berührung oder den Schmerz verorten sie oft auf der nicht betroffenen Seite.
  • Motorischer Neglect: Der Neglect kann auch die Körperwahrnehmung betreffen, was bedeutet, dass entweder die motorische Aktivität der Gliedmaßen reduziert ist oder aber die betroffene Körperhälfte einfach vernachlässigt wird. Die Patienten nutzen die willentlich steuerbaren Muskeln auf der betroffenen Seite kaum oder gar nicht. Unbewusste Bewegungen wie Blinzeln oder Kauen funktionieren aber meist.
  • Olfaktorischer Neglect: Dabei nehmen die Patienten keine Gerüche in der Umgebung der betroffenen Körperseite wahr.

Weitere typische Symptome sind:

  • Bei rechtsseitiger Hirnschädigung zeigen Betroffene eine Vernachlässigung (Neglect) nach links und eine Kopf- und Blickwendung nach rechts.
  • Umgebungsgeräusche, Gegenstände oder Hindernisse auf der vernachlässigten linken Seite werden nicht wahrgenommen.
  • Die basale Körperpflege mit Kämmen, Waschen, Rasieren wird linksseitig vernachlässigt.
  • Beim Essen kann es zum Verschlucken kommen, da Essensreste in der linken Wangentasche nicht wahrgenommen werden.
  • Schmerzreize auf der linken Körperseite werden weniger stark bemerkt und Schutzfunktionen (zum Beispiel Armeinsatz beim Sturz) fehlen.
  • Probleme bei der sozialen Kommunikation können durch Schwierigkeiten beim Aufnehmen und Halten des Blickkontakts entstehen.
  • Typischerweise führen Erkrankte die Aufgaben so aus, dass die subjektive Mitte bei der Linienhalbierung zur gesunden Seite verschoben ist und dass bei Suchaufgaben Objekte auf der betroffenen Seite nicht markiert werden.
  • Ein eingeschränktes Gesichtsfeld. Deshalb nehmen sie ihre Umwelt nur zur Hälfte wahr. Das äußert sich zum Beispiel beim Essen, wenn eine Seite des Tellers nicht geleert wird.
  • Oft stoßen die Betroffenen auch immer wieder mit Arm oder Bein der betroffenen Körperseite an.
  • Viele schminken oder rasieren außerdem nur eine Gesichtshälfte.
  • Ein Neglect beeinflusst auch die visuelle Erinnerung: Wenn Betroffene zum Beispiel bekannte Orte, Menschen oder Gegenstände beschreiben oder zeichnen, malen sie nur eine Hälfte. Und zwar auch dann, wenn sie das jeweilige Motiv bereits kannten, bevor der Neglect auftrat. Man bezeichnet dies als repräsentationalen Neglect.

Diagnose des Neglects

Zunächst untersucht der Arzt, ob der Patient tatsächlich an einem Neglect leidet. Dafür gibt es spezielle Testverfahren, von denen meist mehrere durchgeführt werden. Denn erst die Gesamtheit der Testergebnisse erlaubt eine sichere Diagnose. Schwere Neglect-Formen erkennt ein erfahrener Arzt jedoch meist schon am Verhalten des Patienten. Dann erübrigen sich aufwendige Testverfahren.

Spezielle Tests:

  • Linienhalbierungsaufgaben: Die Patienten werden aufgefordert, horizontale Linien auf einem Blatt Papier mit dem Stift exakt in der Mitte zu teilen. Bei einem Neglect-Syndrom ist die Halbierung zur gesunden Seite hin verschoben.
  • Such- und Durchstreichaufgaben: Die Patienten erhalten ein Blatt Papier mit verschiedenen, gleichmäßig verteilten Symbolen. Die Aufgabe ist es, alle gleichen Symbole zu markieren. Liegt ein Neglect vor, markiert der Patient auf einer Seite wesentlich mehr Symbole als auf der anderen.
  • Lesetests und Zeichenübungen: Beim Vorlesen lassen Neglect-Betroffene häufig Wörter am Zeilenanfang aus. Auch beim Zeichnen zeigt sich die gestörte Wahrnehmung einer Körperseite. So malen die Betroffenen zwar beim Zeichnen einer Uhr ein rundes Zifferblatt. Doch sämtliche Stunden werden in nur eine Hälfte eingezeichnet.

Therapie des Neglects

Alle Therapieansätze zielen darauf ab, die Wahrnehmung der betroffenen Körper- und Raumhälfte wiederherzustellen. Das effektivste Zeitfenster für intensive rehabilitative Behandlungen liegt in den ersten 3-4 Monaten nach dem schädigenden Ereignis, da in diesem Zeitfenster die Umstrukturierung des Gehirns stattfindet. Bisher sind nur wenige Therapien zur Verbesserung der Neglectsymptomatik im klinischen Alltag etabliert [3]. Die aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten ist bei den verschiedenen Therapieansätzen unterschiedlich. Ziel ist es, multiple Hirnareale zu aktivieren, die die Aufmerksamkeitslenkung und Hinwendung zum vernachlässigten Halbfeld bzw. die Wahrnehmung der vernachlässigten Körperhälfte anregen und dadurch fehlerhafte visuell-räumliche Funktionen verbessern sollen.

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Die Therapie sollte stets dem Grad der Beeinträchtigung angepasst werden. Sie kann sehr vielseitig sein. Beispielweise können verschiedenste Gegenstände vor dem Patienten ausgebreitet werden, diese muss er anschließend suchen oder zählen. Dem Patienten sollten stets Reize (auditiv, visuell, taktil) von der betroffenen Seite aus gegeben werden. Ebenso ist das Lese- bzw. Schreibtraining wichtig. Hierbei soll dem Patienten als Hilfestellung ein Reiz, wie zum Beispiel ein roter Balken gegeben werden. Ein Konzept welches sehr gut bei Neglect angewendet werden kann ist die basale Stimulation.

Einige etablierte Therapieansätze sind:

  • Visuelles Explorationstraining: Exploration umfasst das Einüben koordinierter Augen- und Kopfbewegungen. Die Größe der Suchvorlagen (DIN A4-Blatt Papier, Bildschirm, Leinwand) kann individuell variiert werden. Der Schwierigkeitsgrad der Explorationsaufgaben kann über die Zeit gesteigert werden. Hier fehlen derzeit jedoch etablierte Verfahren, um die Schwierigkeiten standardisiert zu erfassen und zu behandeln.
  • Optokinetische Stimulation (OKS): Bei der OKS (Abbildung 2A) werden bewegte Einzelreize am Bildschirm oder an der großen Leinwand mit den Augen fixiert und bis zur vernachlässigten Seite mitverfolgt (Verschiebung der subjektiven Mitte). Für die Wirksamkeit der OKS besteht bisher die beste wissenschaftliche Evidenz.
  • Visuo-motorisches Feedbacktraining: Ein Stab wird mittig mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand (bei rechtsseitiger Hirnschädigung) gegriffen und angehoben, so dass der Stab im Gleichgewicht ist.
  • Handeln im Raum in Form von Arm-/Zeigebewegungen.
  • Änderung und Erweiterung des Explorationstrainings: Eine Studie aus dem Jahr 2018 von Turgut et al. zeigte, dass das Explorationstraining durch den Einsatz von Hinweisreizen - angepasst an den Schweregrad des Neglects - effizienter ist. Diese Hinweisreize können im Therapieverlauf systematisch ausgeschlichen werden.
  • Augmented Reality-Verfahren: Unter Augmented Reality (AR) wird die computergenerierte Ergänzung der Realität durch virtuelle Elemente verstanden. Dadurch werden Neglect-Patienten ermutigt, ihre vernachlässigte Raumseite zu erkunden. AR wurde zur Erweiterung des Explorationstrainings bei Neglect allerdings erst bei einzelnen Patienten erprobt und müsse sich „erst noch in kontrollierten Studien bewähren“, heißt es in der Leitlinie.
  • Virtual Reality zur Ergänzung von Explorationstraining: Der Einsatz von VR-Brillen in diesem Rahmen wurde allerdings nur bei einzelnen Patienten untersucht, Gruppenstudien stehen noch aus. Nicht immersive VR-Verfahren, bei denen Patienten nicht mit einer Brille in ein virtuelle 3D-Umgebung eintauchen, sondern unter Nutzung eines Monitors interagieren, sind schon besser untersucht. Hierzu werden in der Leitlinie Studien zu verschiedenen Aufgaben, etwa fangen oder bewegen von Gegenständen oder Simulation einer Straßenüberquerung, vorgestellt. In den Studien kam es zur Verbesserung der kontralateralen Vernachlässigung und der Alltagsaktivitäten nach dem Training, Nachweise zur Nachhaltigkeit dieser Methoden stehen jedoch noch aus.
  • Nicht-invasive Hirnstimulation: cTBS: Das kontinuierliche Theta-Burst Stimulation (cTBS)-Protokoll als eine Form der Non-Invasive Brain Stimulation (NIBS) als wirksame Methode vorgestellt. Die Leitlinienautoren haben die Studienlage zu verschiedenen NIBS-Verfahren gesichtet und kommen zu dem Schluss, dass das cTBS-Protokoll zusammen mit mindestens einem weiteren Trainingsverfahren aus der Neurorehabilitation, besonders wirksam in der Therapie von Neglect-Patienten zu sein scheint. Die Autoren berufen sich dabei unter anderem auf eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2021 von Houben et al.

Neue Therapieansätze

Neuropsychologen der Saar-Universität haben eine Therapie entwickelt, mit der den Betroffenen dies nach kurzer Zeit wieder gelingt. Die neue Therapie wurde in der Saarbrücker Hochschulambulanz für Neuropsychologie getestet und kann auch zu Hause online durchgeführt werden. Sie wird vielen Patienten dabei helfen, sich wieder im Alltag zurechtzufinden.

Das Besondere an dieser Therapie ist, dass die Betroffenen eine neue Blickstrategie schrittweise erlernen, mit der sie visuelle Reize im gesamten Gesichtsfeld schneller erfassen. Erst werden ihnen verschiedene Reize nacheinander angezeigt, dann in immer kürzeren Abständen, am Ende fast gleichzeitig. Das neue Programm kann aber auch als Home-Training verwendet werden, wenn Betroffene in abgelegenen ländlichen Regionen wohnen oder keinen Behandlungsplatz für diese Therapie bekommen. Für die Therapie zu Hause ist lediglich ein PC mit einem Internetzugang nötig.

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