Neustart fürs Gehirn: Wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Therapieansätze

Die moderne Forschung hat in den letzten Jahren erstaunliche Einblicke in die Funktionsweise und die Plastizität des menschlichen Gehirns gewonnen. Diese Erkenntnisse eröffnen nicht nur neue Perspektiven auf neurologische und psychische Erkrankungen, sondern auch innovative Therapieansätze, die das Potenzial haben, das Leben von Millionen Menschen zu verbessern.

Therapieresistente Depressionen: Wenn Standardbehandlungen versagen

Depressionen sind eine weit verbreitete und belastende Erkrankung, von der weltweit mehr als 300 Millionen Menschen betroffen sind. Obwohl Antidepressiva und Psychotherapie für viele Betroffene wirksam sind, gibt es eine beträchtliche Anzahl von Patienten, bei denen diese Standardbehandlungen keine ausreichende Linderung bringen. US-Gesundheitsbehörden schätzen den Anteil derer, bei denen Therapieversuche mit zwei verschiedenen Antidepressiva keinen ausreichenden Erfolg hatten, auf 30 Prozent. Im Vereinigten Königreich sogar mehr als die Hälfte nicht auf das erste Antidepressivum ansprechen. Diese sogenannten therapieresistenten Depressionen stellen eine besondere Herausforderung dar und erfordern innovative Behandlungsstrategien. Eine erfolglose Psychotherapie zählt weder in der Forschung noch in den deutschen Behandlungsleitlinien zu den Voraussetzungen, um eine Depression für »therapieresistent« zu erklären.

Eine Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie steigert jedoch die Chance auf Heilung und gehört deshalb zu den von den Leitlinien empfohlenen Vorgehensweisen, wenn Antidepressiva allein nicht wirken.

Innovative Therapieansätze für therapieresistente Depressionen

Die Forschung hat in den letzten Jahren eine Reihe vielversprechender neuer Therapieansätze für therapieresistente Depressionen hervorgebracht, die teils zugelassen, teils noch im experimentellen Stadium sind.

Ketamin und Esketamin: Narkosemittel mit antidepressiver Wirkung

Ketamin, ein Narkosemittel, das seit den 1950er Jahren bekannt ist, hat sich als vielversprechend bei der Behandlung von therapieresistenten Depressionen erwiesen. Seine antidepressive Wirkung hängt wahrscheinlich mit einer Erhöhung des Botenstoffs Glutamat im Gehirn zusammen und womöglich auch mit dessen antientzündlichen Eigenschaften. Seit 2019 ist mit dem antidepressiv wirksamen Nasenspray Spravato ein neues Antidepressivum erhältlich, das die Substanz Esketamin enthält, ein chemisches Spiegelbild von Ketamin. Das Besondere am Esketamin-Spray: Es soll innerhalb einer Stunde wirken. Daher kommt es kurzzeitig bei psychiatrischen Notfällen zum Einsatz, um schwere Beschwerden rasch zu lindern. Zur Behandlung von therapieresistenten Depressionen wird es dagegen mindestens acht Wochen lang in Kombination mit einem weiteren Antidepressivum ein- bis zweimal wöchentlich angewendet. Im Gegensatz zu anderen Antidepressiva kann Esketamin bisher nur von einer Psychiaterin oder einem Psychiater verschrieben werden. Bei der Einnahme muss medizinisches Fachpersonal zugegen sein, um etwaige Nebenwirkungen wie Bluthochdruck oder Benommenheit rechtzeitig zu erkennen.

Lesen Sie auch: Methoden der Gehirnreparatur

Psilocybin: Antidepressiver Rausch aus Zauberpilzen

Auch die halluzinogene Substanz Psilocybin aus den Zauberpilzen wird intensiv erforscht. Sie sorgt nicht bloß für Rauschzustände und Halluzinationen, sondern scheint zudem depressive Symptome zu lindern - und das bereits nach einer einzigen Gabe, wie Forschende um Guy Goodwin von der britischen University of Oxford 2022 feststellten. In dieser bislang größten Studie mit 230 Probandinnen und Probanden hielt die antidepressive Wirkung von Psilocybin mehr als drei Wochen an, bei manchen sogar bis zu zwölf Wochen. Allerdings klagten mehr als drei Viertel von ihnen über Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel, und bei einigen wenigen verstärkten sich die Suizidgedanken. Die Studienlage ist also noch nicht überzeugend; es braucht mehr Belege für die Wirksamkeit und Sicherheit von Psilocybin. Wegen des erhöhten Psychoserisikos ist Psilocybin allerdings nicht geeignet für Menschen mit Psychosen, mit einer bipolaren Störung oder mit engen Verwandten, die zu Psychosen neigen. Trotzdem schätzt Gerhard Gründer, dass Psilocybin innerhalb der nächsten zehn Jahre als Medikament erhältlich sein könnte: »Die Studienlage ist so eindeutig, dass man von einer Zulassung ausgehen kann.«

Elektrokonvulsionstherapie (EKT): Neustart im Kopf durch elektrische Impulse

Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) ist ein Verfahren, bei dem unter Narkose kurze elektrische Reize über Elektroden am Kopf verabreicht werden, die einen Krampfanfall auslösen. Insgesamt sind zehn bis zwölf Sitzungen nötig, damit die EKT wirkt: Netzwerke im Gehirn organisieren sich neu, und teils bilden sich sogar neue Nervenzellen. Weil die Depressionen später wieder zurückkehren können, empfiehlt sich aber eine Weiterbehandlung: mit Medikamenten, Psychotherapie oder weiteren EKT-Sitzungen. Obwohl rund 60 Prozent der Behandelten auf die EKT ansprechen, kommt sie bei weniger als einem Prozent der Depressiven zum Einsatz. Das liegt vor allem an ihrem schlechten Ruf. Dabei ist die EKT ungefähr so sicher wie eine kurze Narkose: Das Risiko für lebensbedrohliche Komplikationen liegt bei 1 zu 30 000. Nach einer Sitzung können vorübergehend Kopfschmerzen und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses auftreten, die normalerweise nach ein paar Tagen bis Wochen wieder verschwinden.

Magnetkrampftherapie (MKT): Gezielte Stimulation durch Magnetfelder

Die Magnetkrampftherapie (MKT) ist eine Alternative zur EKT, bei der ein Krampfanfall im Gehirn mittels Magnetfeldern ausgelöst wird. Vorteil: eine gezieltere Stimulation der Hirnrinde - und so treten keine oder nur geringe Gedächtnisstörungen auf. Bereits 2015 wies Schläpfer nach, dass die MKT antidepressiv wirkt: Von 26 Patientinnen und Patienten sprachen rund zwei Drittel auf die MKT an, und bei knapp der Hälfte verschwanden die Depressionen. Bis dahin müssen Studien aber noch eine vergleichbare Wirksamkeit und Sicherheit bestätigen.

Transkranielle Magnetstimulation (TMS): Magnetimpulse für die Hirnrinde

Ein weiteres Verfahren, das über magnetische Impulse wirkt, ist die transkranielle Magnetstimulation, kurz TMS. Die Impulse werden von einer Magnetspule erzeugt und sollen die Nervenzellen in der Hirnrinde stimulieren. Im Gegensatz zu EKT und MKT wird dabei kein Krampfanfall ausgelöst; entsprechend ist keine Narkose nötig. In den USA ist sie von der zuständigen Behörde (Food and Drug Administration, FDA) zur Behandlung therapieresistenter Depressionen zugelassen. Doch nicht alle Fachleute halten die Methode für wirksam. Ob sie sich als Therapie etablieren wird, hängt von weiteren Befunden an größeren Stichproben ab. Sieben deutsche Unikliniken führen derzeit eine große Wirksamkeitsstudie mit betroffenen Freiwilligen durch.

Tiefe Hirnstimulation (DBS): Schrittmacher fürs Gehirn

Eine weitere Form der Neurostimulation erfordert Elektroden, die ins Hirn implantiert werden, umgangssprachlich »Hirnschrittmacher«. Unter Vollnarkose implantieren sie jeweils eine Elektrode pro Hirnhälfte in das mediale Vorderhirnbündel, eine Nervenbahn, die zum Belohnungszentrum führt. Dort reizen die Elektroden das Nervengeflecht durchgängig mit schwachen elektrischen Impulsen, um das Belohnungssystem zu stimulieren, erklärt der Psychiater. Die erhoffte Wirkung merke die Mehrzahl der Behandelten aber deutlich: »Ihre Depressionen bessern sich.« Bislang wird das Verfahren jedoch nur in wenigen Zentren in Deutschland untersucht und befindet sich noch im experimentellen Stadium. Die Wirkung setzt laut Schläpfer schon nach einigen Tagen ein und hält lange an, wie Forschende aus den Niederlanden 2022 zeigten: Die Lebensqualität blieb bei ihren Probanden bis zu neun Jahre nach dem ersten Eingriff höher als vor der Behandlung.

Lesen Sie auch: Depression: Neue Behandlungsansätze

Vagusnervstimulation (VNS): Nervenbahn zu den Organen stimulieren

Die Vagusnervstimulation (VNS) wurde zunächst zur Behandlung von Epilepsie eingesetzt. Man kann den Vagusnerv »transkutan«, also durch die Haut stimulieren. Die klassische, besser untersuchte Methode erfordert jedoch eine Operation - mit Risiken und Nebenwirkungen. Unterhalb des Schlüsselbeins wird ein batteriebetriebener Pulsgeber in die Brust implantiert, von dem ausgehend ein Kabel in den Hals aufsteigt, das dort mit einer Elektrode den Vagusnerv stimuliert. Dieser Hirnnerv reguliert unbewusste vegetative Prozesse wie die Atmung. Die Wirkung soll erst nach ungefähr drei bis sechs Monaten einsetzen und dann weiter zunehmen. Der Wirkmechanismus ist ebenfalls noch nicht klar, und viele Fachleute halten die Belege für zu schwach.

Mitochondrien und neuronale Stammzellen: Schlüssel zur mentalen Fitness im Alter

Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Mitochondrien, die "Kraftwerke der Zelle", eine entscheidende Rolle beim Alterungsprozess neuronaler Stammzellen spielen. Bei alternden neuronalen Stammzellen verändert sich nicht nur ihre Energieproduktion, sondern auch die Art, wie sie auf Stress reagieren. Sie senden Botenstoffe aus, die eine Art „Zell-Alarmsystem“ aktivieren. Diese Stressantwort, ursprünglich als Schutzmechanismus gedacht, blockiert langfristig die Regeneration und begünstigt Entzündungen im Gehirn.

Alternde Stammzellen neigen dazu, sich häufiger in Gliazellen als in Neuronen zu differenzieren. Gliazellen sind zwar wichtig für die Unterstützung von Nervenzellen, fördern aber bei Übermaß Entzündungsprozesse und blockieren neuronale Plastizität. Das bedeutet: Weniger neue Nervenzellen, mehr Entzündung - ein Teufelskreis, der das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer steigert.

Bestimmte Interventionen - zum Beispiel Substanzen, die den mitochondrialen Stoffwechsel stabilisieren oder die Stressantwort modulieren - könnten helfen, die neuronale Stammzellfunktion im Alter zu erhalten oder sogar zu revitalisieren.

Repositionierung von Medikamenten: Neue Anwendung für bekannte Wirkstoffe

Die Forschung hat gezeigt, dass bereits zugelassene Medikamente neue Anwendungsmöglichkeiten bei der Behandlung seltener Erkrankungen wie des Leigh-Syndroms finden können. Das Leigh-Syndrom, eine seltene, genetisch bedingte und fortschreitende Erkrankung des Zentralnervensystems, die auf eine Störung des mitochondrialen Stoffwechsels zurückgeht.

Lesen Sie auch: Neustart nach Schlaganfall

Im Hochdurchsatzverfahren haben sie mehr als 5.500 Wirkstoffe getestet, für die bereits umfangreiche Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten vorhanden sind, und in einer qualitativ hochwertigen „Substanzbibliothek“ zusammengeführt. Einer der bei CureMILS getesteten Wirkstoffe ist Sildenafil, das unter der Bezeichnung Viagra® zur Behandlung von Erektionsstörungen zugelassen ist. Auch bei Kindern ist die Sicherheit des Wirkstoffs bereits bekannt und gut erforscht.

Basierend auf den präklinischen und klinischen Daten hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) inzwischen gemäß der Orphan Drug Designation (ODD) genehmigt, Sildenafil zur MILS-Therapie einzusetzen - ein entscheidender Schritt, damit auch weitere Betroffene von der Behandlung profitieren können.

Die erstaunlichen Fähigkeiten des Gehirns: Neuroplastizität als Schlüssel zur Rehabilitation

Unser Gehirn ist nicht - wie lange angenommen - eine unveränderliche Hardware. Es kann sich vielmehr auf verblüffende Weise umgestalten und sogar selbst reparieren - und das bis ins hohe Alter. Diese Erkenntnis ist die wohl sensationellste Entdeckung der Neurowissenschaften. Das Gehirn ist kein fertig verdrahteter Denkapparat, der im Laufe des Lebens immer weiter verschleißt. Es kann sich umorganisieren, umformen und manchmal kann es sogar wachsen.

tags: #Neustart #fürs #Gehirn #wissenschaftliche #Erkenntnisse