Die genetisch bedingte Polyneuropathie, auch bekannt als hereditäre Neuropathie, umfasst eine heterogene Gruppe von Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Diese Erkrankungen sind durch Mutationen in verschiedenen Genen bedingt, die für die Funktion und Struktur der Nervenzellen und ihrer Myelinscheiden verantwortlich sind. Die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) stellen mit einer Prävalenz von 20-40 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner eine der häufigsten erblichen neurologischen Erkrankungen dar.
Einführung in die hereditäre Polyneuropathie
Die hereditäre Polyneuropathie manifestiert sich durch eine Schädigung der peripheren Nerven, was zu einer Vielzahl von sensorischen, motorischen und autonomen Störungen führt. Die Symptome variieren je nach Art der genetischen Mutation und dem betroffenen Nerventyp. Die klinische Präsentation reicht von milden Empfindungsstörungen bis hin zu schweren motorischen Defiziten und autonomer Dysfunktion.
Ursachen und genetische Grundlagen
Die Ursachen für genetisch bedingte Polyneuropathien sind vielfältig und spiegeln die komplexe genetische Architektur dieser Erkrankungen wider. Mutationen in über 100 verschiedenen Genen können zu hereditären Neuropathien führen. Diese Gene kodieren für Proteine, die an der Entwicklung, Erhaltung und Funktion der peripheren Nerven beteiligt sind. Die Vererbungsmuster können autosomal-dominant, autosomal-rezessiv oder X-chromosomal sein.
Häufige genetische Ursachen
- PMP22-Gen: Eine Duplikation des PMP22-Gens auf Chromosom 17 (17p11.2-12) ist die häufigste Ursache für die hereditäre motorisch-sensible Neuropathie Typ I (HMSN I, CMT1A). Umgekehrt führt eine Deletion desselben Gens zur hereditären Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen (HNPP).
- MPZ-Gen: Mutationen im MPZ-Gen auf Chromosom 1 (1q22-23), das für das Myelinprotein 0 kodiert, sind mit der HMSN I assoziiert (CMT1B).
- GJB1-Gen: Mutationen im GJB1-Gen auf dem X-Chromosom (Xq13.1), das für das Connexin 32 kodiert, verursachen die X-chromosomale HMSN (CMTX).
- Mitofusin 2-Gen: Mutationen im Mitofusin 2-Gen auf Chromosom 1 (1q23 bzw. 1p35) oder auf Chromosom 3 (3q13-22) oder 7 (7p14) sind eine häufige Ursache für HMSN II (CMT2).
Seltene genetische Ursachen
Neben den häufigeren genetischen Ursachen gibt es eine Reihe seltenerer Mutationen, die zu verschiedenen Formen der hereditären Polyneuropathie führen können. Dazu gehören Mutationen in Genen, die für Proteine des Zytoskeletts, der axonalen Transportmechanismen und der mitochondrialen Funktion kodieren.
Klassifikation der hereditären Polyneuropathien
Die hereditären Polyneuropathien werden anhand verschiedener Kriterien klassifiziert, darunter der Erbgang, das klinische Erscheinungsbild, die elektrophysiologischen Befunde und die zugrunde liegende genetische Mutation.
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Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT)
Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT), auch bekannt als hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN), ist die häufigste Form der hereditären Polyneuropathie. Sie ist durch eine progrediente distal-symmetrische Muskelschwäche, Muskelatrophie und Sensibilitätsstörungen gekennzeichnet. Die CMT wird in verschiedene Typen unterteilt, darunter CMT1 (demyelinisierend), CMT2 (axonal) und intermediäre Formen.
- CMT1: Diese Form ist durch eine Schädigung der Myelinscheide gekennzeichnet, was zu einer Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit führt. Die häufigste Ursache ist die Duplikation des PMP22-Gens.
- CMT2: Bei dieser Form liegt eine primäre Schädigung des Axons vor, wobei die Nervenleitgeschwindigkeit normal oder nur leicht reduziert ist. Mutationen im Mitofusin 2-Gen sind eine häufige Ursache.
Déjerine-Sottas-Syndrom (DSS)
Das Déjerine-Sottas-Syndrom (DSS) ist eine seltene, schwerere Form der hereditären Polyneuropathie, die durch eine frühzeitige Manifestation, eine rasche Progression und eine ausgeprägte Demyelinisierung gekennzeichnet ist. Die Patienten weisen häufig eine verzögerte motorische Entwicklung, Muskelschwäche, Sensibilitätsstörungen und tastbar verdickte Nerven auf. Molekulargenetisch zeigen sich bisher vorwiegend Heterozygotie für Punktmutation im PMP22- und MPZ-Gen ähnlich der HMSN I.
Hereditäre sensorische und autonome Neuropathien (HSAN)
Die hereditären sensorischen und autonomen Neuropathien (HSAN) sind eine Gruppe seltener erblicher Neuropathien, bei denen sensible und autonome Nervenfasern von der Degeneration betroffen sind. Dies führt zu einem Verlust des Schmerzempfindens, autonomer Dysfunktion und trophischen Störungen. Es werden verschiedene Subtypen unterschieden, darunter HSAN I (Maladie de Thévenard), HSAN II (Morvan’s disease), HSAN III (Riley-Day-Syndrom), HSAN IV (Swanson-Syndrom) und HSAN V.
Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen (HNPP)
Die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen (HNPP) ist eine autosomal-dominant vererbte Neuropathie, bei der die Patienten eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber mechanischen Traumata aufweisen. Bereits nach leichter Druckschädigung kommt es zu peripheren Nervenlähmungen, wobei häufig der N. peroneus (fibularis), N. ulnaris und N. medianus betroffen sind. Molekulargenetisch zeigen 85 % der Patienten mit HNPP eine Deletion des PMP22-Gens auf dem Chromosom 17.
Refsum-Syndrom (HMSN IV)
Das Refsum-Syndrom, auch als HMSN IV bezeichnet, ist eine seltene autosomal-rezessive Erkrankung, die durch einen Mangel an Phytansäure-Oxidase verursacht wird. Dies führt zu einer Akkumulation von Phytansäure im Serum und Geweben, was zu einer sensomotorischen Neuropathie, Retinitis pigmentosa, zerebellärer Ataxie und erhöhten Liquoreiweißspiegeln führt.
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Diagnostik
Die Diagnose einer genetisch bedingten Polyneuropathie umfasst eine umfassende klinische Untersuchung, elektrophysiologische Studien, bildgebende Verfahren und genetische Tests.
Anamnese und klinische Untersuchung
Eine detaillierte Anamnese, einschließlich der Familienanamnese, ist entscheidend, um den Verdacht auf eine hereditäre Neuropathie zu lenken. Die klinische Untersuchung umfasst die Beurteilung der Muskelkraft, der Reflexe, der Sensibilität und der autonomen Funktionen.
Elektrophysiologische Studien
Elektrophysiologische Studien, wie die Elektroneurographie (ENG) und die Elektromyographie (EMG), sind wichtig, um die Art und das Ausmaß der Nervenschädigung zu beurteilen. Bei demyelinisierenden Neuropathien zeigen sich verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeiten, während bei axonalen Neuropathien die Amplituden der Aktionspotenziale reduziert sind.
Bildgebende Verfahren
Bildgebende Verfahren, wie die Magnetresonanztomographie (MRT), können hilfreich sein, um andere Ursachen für die Polyneuropathie auszuschließen und um Muskelatrophie und Nervenverdickungen zu beurteilen.
Genetische Tests
Die genetische Testung ist der Goldstandard für die Diagnose einer genetisch bedingten Polyneuropathie. Die Bestimmung des PMP22-Gens bei Verdacht auf HMSN I oder HNPP ist etablierte Diagnostik. Durch molekulargenetische Untersuchungen wurde eine Duplikation auf dem kurzen Arm von Chromosom 17 (17p11.2-12) gefunden, die den Genort für das periphere Myelinprotein 22 (PMP22) umfasst. 70-90 % der Patienten mit HMSN I haben diese Duplikation. Spontane Neumutationen sind häufig.
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- Einzelgenanalyse: Bei Verdacht auf eine demyelinisierende CMT sollte als erster diagnostischer Schritt die Kopienzahl des PMP22-Gens bestimmt werden. Ergeben sich Hinweise auf einen X-chromosomalen Erbgang in einer Familie (CMTX), zum Beispiel bei fehlender Vater-Sohn-Vererbung und schwererem Verlauf bei männlichen Betroffenen, sollte zunächst das GJB1-Gen inklusive seiner genregulatorischen Abschnitte überprüft werden.
- NGS-Panel-Diagnostik: Bei anderen Formen der CMT oder HSAN beziehungsweise HMN ist die Gesamtaufklärungsrate durch gezielte Testung einzelner Gene wesentlich geringer und eine NGS-Panel-Diagnostik als erster Schritt in der Regel zielführender. Bei der Panel-Diagnostik von Neuropathien wird eine Vielzahl ursächlicher Gene parallel sequenziert und beurteilt.
Nervenbiopsie
Die Indikation einer Nervenbiopsie (Nervus suralis) ist vor allem dann zu diskutieren, wenn differenzialdiagnostisch behandelbare nichterbliche Neuropathien erwogen werden. Dazu zählen Entzündungen wie die Vaskulitis und die Perineuritis sowie atypische Fälle von Neuritis (chronisch-inflammatorische demyelinisierende oder axonale Neuropathie, CIDP beziehungsweise CIAP), der Befall der Nerven durch ein Lymphom und die Amyloid-Neuropathie.
Therapie
Die Therapie der genetisch bedingten Polyneuropathie zielt in erster Linie auf die Linderung der Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität ab. Eine kausale Therapie, die die zugrunde liegende genetische Mutation behebt, ist derzeit nur in wenigen Fällen verfügbar.
Symptomatische Therapie
- Schmerzmanagement: Neuropathische Schmerzen können mit verschiedenen Medikamenten behandelt werden, darunter Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Duloxetin) und Antikonvulsiva (z. B. Gabapentin, Pregabalin).
- Physiotherapie und Ergotherapie: Physiotherapie und Ergotherapie können helfen, die Muskelkraft und Koordination zu verbessern, die Gelenkbeweglichkeit zu erhalten und die funktionellen Fähigkeiten im Alltag zu verbessern.
- Orthopädische Hilfsmittel: Orthesen und andere orthopädische Hilfsmittel können eingesetzt werden, um die Stabilität zu verbessern, Fehlstellungen zu korrigieren und die Belastung der Gelenke zu reduzieren.
Kausale Therapie
In einigen Fällen ist eine kausale Therapie möglich, die auf die zugrunde liegende genetische Mutation abzielt.
- Transthyretin-Amyloidose: Bei gehfahigen Patienten mit Transthyretin - Amyloidose kann Tafamidis gegeben werden (Coelho et al.
- Refsum-Syndrom: Durch eine Reduktion der Phytansäureaufnahme mit der Nahrung kann eine Besserung herbeigeführt werden.
Genetische Beratung
Eine genetische Beratung ist für Patienten mit hereditärer Polyneuropathie und ihre Familien wichtig, um Informationen über den Erbgang, das Wiederholungsrisiko und die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik zu erhalten.
Spezielle Formen der hereditären Polyneuropathie
Hepatische Porphyrien
Bei den hepatischen Porphyrien kombinieren sich akute abdominelle Symptome mit sensomotorischen Neuropathien. Hepatische Porphyrien, wie der autosomal-rezessiv vererbte δ-Aminolävulinsäure-Dehydrogenase-Mangel und die dominant vererbten akute intermittierende Porphyrie, hereditäre Koproporphyrie und Porphyria variegata, äußern sich klinisch zumeist in akuten abdominellen Symptomen (Oberbauchkoliken), die insbesondere nach Alkohol, Medikamenten, Nahrungsmitteln und bei hormonellen Veränderungen auftreten. Neben sensomotorischen Neuropathien finden sich oft auch zentralnervöse Symptome wie Delir, Psychosen, epileptische Anfälle und Bewusstseinsstörungen.
Amyloidosen
Bei den sekundären Amyloidosen (meist im Zusammenhang mit chronisch entzündlichen Prozessen) wird das Nervensystem durch die Ablagerung von Serumamyloid A (SAA) nur selten geschädigt. Die sporadischen primären Amyloidosen, die zu 90 % bei monoklonaler Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS, Kap. „Paraproteinämische und paraneoplatische Polyneuropathien“) auftreten, führen jedoch regelmäßig zu Polyneuropathien. Sie entstehen durch Ablagerung von unlöslichen Immunglobulin-Leichtketten (AL-Amyloidosen). werden autosomal-dominant vererbt. Die extrazelluläre Amyloidablagerung resultiert bei den hereditären Formen aus einem Gendefekt mit fehlerhafter Proteinsynthese.
A-β-Lipoproteinämie
Diese seltene autosomal-rezessive Erkrankung führt durch Mangel von Apoprotein B zu einer Malabsorption von Fetten (A-β-Lipoproteinämie) und damit zum Mangel an Vitamin A, E und K. Die Cholesterin- und Triglyceridspiegel im Serum sind vermindert. Neben einer Polyneuropathie mit bevorzugtem Befall großer Fasern finden sich eine Retinitis pigmentosa und eine spinozerebelläre Degeneration.
Metachromatische Leukodystrophie
Die metachromatische Leukodystrophie ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, bei der es durch Mangel an Arylsulfatase A (Nachweis im Urin oder in Leukozyten) zur Ablagerung metachromatischer Substanzen im zentralen und peripheren Nervensystem (Suralisbiopsie!) kommt.
Adrenoleukodystrophie
Bei dieser Variante der X-chromosomal-rezessiv vererbten Adrenoleukodystrophie treten axonale Neuropathien auf. Ursächlich ist ein Enzymdefekt im Lipidmetabolismus (peroxisomale β-Oxidation), der zu einer Erhöhung der überlangkettigen Fettsäuren (VLCFA) im Serum führt.
Morbus Fabry
Morbus Fabry ist eine X-chromosomal vererbte lysosomale Speicherkrankheit, die durch einen Mangel an α-Galaktosidase A verursacht wird. Dies führt zu einer Akkumulation von Glycosphingolipiden in verschiedenen Geweben, einschließlich des Nervensystems, was zu einer Small-Fiber-Neuropathie führen kann.
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