Polyneuropathie: Ursachen, Symptome und Behandlungsansätze

Die Polyneuropathie ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen des peripheren Nervensystems, also der Nerven, die außerhalb von Gehirn und Rückenmark verlaufen. Diese Nerven sind entscheidend für die Wahrnehmung von Berührungen, Temperatur oder Schmerzempfindungen sowie für die Steuerung der Muskelbewegungen und die Funktion der inneren Organe. Bei einer Polyneuropathie sind mehrere dieser peripheren Nerven geschädigt, was die Signalübertragung zwischen Gehirn, Rückenmark und den übrigen Körperregionen beeinträchtigt.

Was ist Polyneuropathie?

Die Nerven verzweigen sich wie die Äste eines Baumes vom Rückenmark aus. Sie stellen die Verbindung zwischen Gehirn und Muskeln, Haut sowie den inneren Organen her. Über diese Nervenbahnen laufen wichtige Befehle von der „Schaltzentrale“ zu den ausführenden Organen. Werden diese Nerven beschädigt oder zerstört, wird dieser Informationsfluss gestört.

Bei einer Polyneuropathie kommt es zu einer Schädigung der peripheren Nerven oder ihrer Hülle, was die Reizweiterleitung beeinträchtigt. Reize werden nicht, zu stark oder abgeschwächt an das Gehirn weitergeleitet, und Kommandos vom Gehirn erreichen die Muskeln und Organe nicht mehr zuverlässig. Es gibt zwei Hauptformen der Schädigung:

  • Demyelinisierende Polyneuropathie: Hier zerfällt die Isolation (Myelinschicht) um die Nervenfasern, was die Weiterleitung elektrischer Impulse behindert.
  • Axonale Polyneuropathie: Dabei geht die Nervenfaser selbst zugrunde.

Beide Formen können auch kombiniert auftreten.

Circa fünf Prozent aller Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Polyneuropathie. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko kontinuierlich an; bei Menschen über 80 Jahren auf bis zu 35 Prozent.

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Ursachen von Polyneuropathie

Es gibt eine Vielzahl von Ursachen für Polyneuropathien, wobei einige ursächlich und andere symptomatisch behandelbar sind. In den meisten Fällen ist die Polyneuropathie keine eigenständige Krankheit, sondern die Folge oder Begleiterscheinung einer Grunderkrankung. Die Wissenschaft kennt mittlerweile rund 600 Ursachen, die einer Polyneuropathie zugrunde liegen können. Trotz ausführlicher Diagnostik lässt sich bei rund einem Viertel der Betroffenen keine Ursache für die Polyneuropathie feststellen.

Zu den häufigsten Auslösern zählen:

  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit): Ein dauerhaft hoher Blutzuckerspiegel schädigt die Nerven. Bei etwa jedem zweiten Patient mit Diabetes mellitus treten im Laufe des Lebens Nervenschäden auf.
  • Langjähriger Alkoholmissbrauch: Alkohol greift das empfindliche periphere Nervensystem an und schädigt die Schutzschicht (Myelinschicht) der Nervenfasern oder die Nervenfasern selbst.
  • Weitere Auslöser:
    • Infektionskrankheiten, wie Borreliose oder Herpes zoster-Viren
    • Autoimmunreaktionen, wie das Guillain-Barré-Syndrom und rheumatoide Arthritis
    • Vitaminmangel, z. B. Vitamin B12
    • Schilddrüsen-, Leber- oder Krebserkrankungen
    • Genetische Faktoren
    • Bestimmte Medikamente, wie Chemotherapeutika
    • Giftstoffe
    • Längere Aufenthalte auf einer Intensivstation

Symptome einer Polyneuropathie

Je nachdem, welche Nerven betroffen sind, können unterschiedliche Beschwerden auftreten. Typischerweise beginnt die Polyneuropathie schleichend und zeigt sich zuerst an den vom Rumpf am weitesten entfernten Stellen, vorrangig an den Füßen.

Schäden an sensiblen Nerven (Empfindungsnerven)

Sensible Nerven übermitteln Informationen von der Haut zum Gehirn. Bei Beeinträchtigungen treten oft stechende oder brennende Schmerzen auf. Betroffene haben das Gefühl, als ob tausende Ameisen über ihre Haut krabbeln. Manchmal entwickeln sie eine Überempfindlichkeit, bei der selbst leichte Berührungen (Allodynie) schmerzhaft sein können.

Da die längsten Nervenfasern meist am stärksten leiden, sind die Füße (Zehen) häufig als Erstes betroffen. Sind die sensiblen Nerven bereits stark geschädigt, treten Ausfallerscheinungen, wie Koordinationsschwierigkeiten beim Laufen, auf. Ein nachlassendes Temperatur- und Schmerzempfinden erhöht das Risiko für Verletzungen.

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  • Schäden an den kleinen Nervenfasern (Small Fiber Neuropathie): Diese Nerven vermitteln Schmerz-, Temperatur- und Berührungsempfindungen. Bei Nervenschäden nehmen Betroffene Hitze, Kälte und Schmerzen nur noch abgeschwächt oder gar nicht mehr wahr. Zusätzlich treten oft Taubheitsgefühle auf, besonders in Händen und Füßen. Die Haut fühlt sich pelzig und fremd an. Als Folge steigt die Verletzungsgefahr erheblich: So wird beispielsweise die Wassertemperatur beim Duschen oder Baden nicht mehr als zu heiß empfunden. Auch kleine Verletzungen wie Schnittwunden, Brandblasen oder Druckstellen bleiben oftmals unbemerkt und werden erst spät entdeckt. Dadurch erhöht sich das Risiko für Entzündungen oder chronische Wunden.

Schäden an motorischen Nerven

Motorische Nerven steuern die Muskeln. Sind sie betroffen, können die Impulse, welche die Muskeln zum Bewegen anregen, nicht mehr richtig weitergeleitet werden. Die Folge sind Muskelschwäche oder Lähmungen, insbesondere in den Beinen und Füßen. Bei einigen Menschen sind auch die Arme und Hände betroffen. Langfristig kann die fehlende Nutzung der Muskeln zu einem Abbau der Muskelmasse führen, was die Bewegungsfähigkeit weiter einschränkt.

Schäden an autonomen Nerven

Autonome Nerven steuern das vegetative Nervensystem. Sind sie geschädigt, können sie Kreislaufprobleme wie Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen verursachen. Zudem kann die Verdauung beeinträchtigt sein, was zu Symptomen wie Verstopfung, Durchfall oder Inkontinenz führen kann. Auch Probleme mit der Blase, etwa eine Blasenschwäche oder Schwierigkeiten beim Wasserlassen, sind durch die Nervenschäden möglich.

Polyneuropathie und Sexualität

Die Nervenschädigung kann bei Männern und Frauen zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Durch die Polyneuropathie sind die Nerven geschädigt, die für die Empfindungen und Steuerung von Körperfunktionen zuständig sind - darunter auch die Nerven, die an der sexuellen Reaktion beteiligt sind. Männer haben häufig Schwierigkeiten, eine Erektion zu bekommen oder aufrechtzuerhalten. Frauen hingegen verspüren oft eine geringere Empfindlichkeit im Intimbereich, wodurch Erregung und Orgasmus erschwert sind. Zudem kann auch eine vaginale Trockenheit auftreten, was den Geschlechtsverkehr unangenehm macht.

Auch Schmerzen oder Unsicherheiten können die Lust mindern und den Sexualtrieb negativ beeinflussen.

Diagnose von Polyneuropathie

Entscheidend ist die umfangreiche, gründliche Suche nach möglichen Ursachen - nur so lassen sich Polyneuropathien gezielt behandeln. Bei Missempfindungen oder anderen Beschwerden, die im Zusammenhang mit einer Neuropathie stehen könnten, ist der Hausarzt die erste Anlaufstelle. Bei Verdacht auf eine Polyneuropathie überweist der Hausarzt an einen Neurologen.

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Die Diagnose umfasst in der Regel:

  1. Anamnese: Der Neurologe erfragt die Krankengeschichte, einschließlich aktueller Symptome, deren Beginn, Grunderkrankungen und Medikation.
  2. Klinische Untersuchung: Überprüfung von Reflexen, Temperatur-, Schmerz- und Vibrationsempfinden an betroffenen Gliedmaßen sowie Tests von Gleichgewicht, Stand, Gang und Muskelkraft.
  3. Elektroneurographie (ENG) / Nervenleitgeschwindigkeit (NLG): Messung, wie schnell elektrische Signale durch die Nerven geleitet werden.
  4. Elektromyographie (EMG): Analyse der Muskelaktivität zur frühen Erkennung von Schädigungen.
  5. Laboruntersuchungen: Blutuntersuchungen, eventuell Untersuchung des Nervenwassers mittels Lumbalpunktion, um spezifische Antikörper zu testen.
  6. Bildgebung: In bestimmten Fällen Magnetresonanztomografie (MRT) oder Ultraschall, um Veränderungen in der Dicke eines Nervs zu erkennen.
  7. Biopsie: In bestimmten Fällen Entnahme von Gewebeproben der Haut, von Muskeln oder Nerven zur feingeweblichen Untersuchung.

Therapiemöglichkeiten bei Polyneuropathie

Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der Ursache.

  • Diabetische Polyneuropathie: Eine stabile Blutzuckereinstellung ist entscheidend. Dies kann durch angepasste Ernährung, ausreichend Bewegung und gegebenenfalls Medikamente erreicht werden.
  • Alkoholbedingte Polyneuropathie: Konsequenter Verzicht auf Alkohol ist unerlässlich.
  • Entzündungsbedingte Nervenschädigung: Je nach Erreger können Antibiotika oder antivirale Medikamente helfen.
  • Autoimmunentzündung: Entzündungshemmende Medikamente wie Kortison oder Immunglobuline kommen zum Einsatz.
  • Vitaminmangel: Gezielte Ernährungsumstellung oder die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln. Wichtig ist das Vermeiden einer Überdosierung, etwa von Vitamin B6.

Zusätzlich zur Behandlung der Ursache gibt es verschiedene Möglichkeiten zur symptomatischen Behandlung:

  • Medikamentöse Therapie: Schmerzen oder Gangstörungen können medikamentös behandelt werden. Klassische Schmerzmittel sind bei Polyneuropathie oft wenig wirksam. Stattdessen werden Antidepressiva oder Antikonvulsiva eingesetzt. In schweren Fällen können Opioide in Betracht gezogen werden. Eine Alternative zu oralen Medikamenten können Schmerzpflaster mit hochdosiertem Capsaicin oder Lidocain sein, insbesondere bei lokalisierten Beschwerden. Seit 2017 können Ärzte in Deutschland medizinisches Cannabis auf Rezept verschreiben, dessen Einsatz bei chronischen neuropathischen Schmerzen jedoch kontrovers diskutiert wird.
  • Physikalische Therapie: Physiotherapie, Gleichgewichts- und Gehtraining sowie gelenkschonende Sportarten wie Aqua-Fitness können Beweglichkeit, Kraft und Gleichgewicht verbessern. Spezielle Schienen oder orthopädische Einlagen können zusätzliche Stabilität geben. Bei der transkutanen Elektrostimulation (TENS) werden kleine Elektroden auf die Haut geklebt, die sanfte elektrische Impulse abgeben. TENS kann bei starken neuropathischen Schmerzen in Kombination mit anderen Behandlungen eingesetzt werden.

Leben mit Polyneuropathie

Der Alltag mit einem eingeschränkten Temperatur- und Schmerzempfinden kann herausfordernd sein und erfordert besondere Vorsicht und Vorsorge, um Verletzungen zu vermeiden und frühzeitig zu erkennen sowie um Stürze zu vermeiden.

  • Verletzungen frühzeitig erkennen: Kontrollieren Sie täglich sorgfältig Ihre Hände und Füße und achten Sie auf Rötungen, kleine Schnitte oder Druckstellen. Nutzen Sie für schwer einsehbare Stellen einen Handspiegel.
  • Hautpflege: Regelmäßiges Eincremen beugt trockener, rissiger Haut vor, die anfällig für Erreger ist. Stellen Sie Wunden oder Entzündungen fest, sollten Sie frühzeitig ärztlichen Rat einholen. Auch medizinische Fußpflege kann eine sinnvolle Ergänzung sein.
  • Schutz vor Verbrennungen oder Erfrierungen: Nutzen Sie ein Thermometer, um die Wassertemperatur zu überprüfen. Verzichten Sie zudem auf Wärmflaschen oder Heizdecken. Im Winter können warme Handschuhe und gut isolierte Schuhe vor Kälte schützen.
  • Sicherheit zuhause und draußen: In den eigenen vier Wänden sind unter anderem rutschfeste Böden, ausreichende Beleuchtung und das Entfernen von Stolperfallen wie losen Teppichen wichtig, um Stürzen vorzubeugen. Im Freien sollten Sie auf festes Schuhwerk, Gehhilfen, gut beleuchtete Wege und die Vermeidung glatter oder unebener Flächen achten.

Unterstützung und Selbsthilfe

Für Erkrankte kann der Austausch mit anderen Betroffenen sehr hilfreich sein, zum Beispiel über Selbsthilfegruppen wie die Deutsche Polyneuropathie Selbsthilfe e.V.

Ernährung und Bewegung

Ein spezielles Ernährungskonzept ist bei Polyneuropathie im Allgemeinen nicht notwendig - mit einer ausgewogenen Ernährungsweise versorgen Sie Ihren Körper mit allen essenziellen Vitaminen und Nährstoffen. Eine Nahrungsergänzung mit Folsäure, B12 oder anderen B-Vitaminen ist nur angeraten, wenn bei Ihnen ein ärztlich nachgewiesener Mangel besteht.

Regelmäßige Bewegung kann neuropathische Beschwerden lindern und die Regeneration der Nerven anregen. Ideal ist die Kombination aus einem moderaten Ausdauertraining und Krafttraining. Zur Verbesserung von Gleichgewicht und Mobilität können schon einfache Übungen wie das Stehen auf einem Bein oder Gehen auf einer Linie helfen.

Fußpflege

Bei Sensibilitätsstörungen ist eine tägliche Fußpflege unverzichtbar. Kürzen Sie die Fußnägel mit einer Nagelfeile anstatt mit der Schere, um Verletzungen zu vermeiden. Um Folgeschäden an den Füßen vorzubeugen, empfiehlt sich eine regelmäßige medizinische Fußpflege beim Podologen.

Geeignetes Schuhwerk und Hilfsmittel

Taubheitsgefühle oder eine eingeschränkte Schmerz- und Temperaturempfindung können das Risiko für Stürze und Verletzungen am Fuß erhöhen. Umso wichtiger ist es, dass Sie geeignetes Schuhwerk tragen. Wechseln Sie täglich die Socken. Verschiedene Hilfsmittel können das Leben mit Polyneuropathie erleichtern.

Schwerbehindertenausweis

Bei erheblichen Beeinträchtigungen durch eine Polyneuropathie kann Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis bestehen, mit dem Sie bestimmte Nachteilsausgleiche wie zum Beispiel Steuerermäßigungen erhalten. Der Ausweis steht Ihnen ab einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 zu.

Verlauf und Heilungschancen

Der Verlauf einer Polyneuropathie ist je nach Ursache unterschiedlich. Es gibt akute Verläufe, bei denen sich die Symptomatik rasch bessert, aber auch chronische Verläufe, die eine langfristige Behandlung erfordern. Ob eine Neuropathie heilbar ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Viele Polyneuropathien weisen einen chronischen Verlauf auf und begleiten Betroffene über eine lange Zeit. Ob eine Rückbildung möglich ist, können im individuellen Fall nur die behandelnden Ärzte abschätzen.

Ebenso wie sich eine chronische Polyneuropathie schleichend über einen längeren Zeitraum entwickelt, dauert es eine Weile, bis sich der Körper an die verordneten Therapien gewöhnt hat. Ob Schmerzmittel oder nicht-medikamentöse Maßnahmen - oft braucht es einige Wochen, bis eine wesentliche Linderung der Beschwerden spürbar wird.

Rehabilitation

In vielen Fällen ist die Polyneuropathie eine langwierige Erkrankung, die vielfältige Auswirkungen auf den Beruf und das Privatleben der Betroffenen hat. In einer stationären oder ambulanten Reha können sich Patient*innen ganz auf ihre Behandlung konzentrieren. Ziele der Rehabilitation bei Polyneuropathie sind:

  • Wiederherstellung gestörter Nervenfunktionen
  • Erlernen von Strategien zur bestmöglichen Bewältigung des Alltags im Rahmen der körperlichen Fähigkeiten
  • Anpassung von Hilfsmitteln
  • Heilung chronischer Wunden und Regeneration strapazierter Haut

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