Einleitung
Polyneuropathie (PNP) ist eine weit verbreitete neurologische Erkrankung, von der in Deutschland schätzungsweise 3,5 bis 5,5 Millionen Menschen betroffen sind. Sie äußert sich durch vielfältige Symptome wie sensible Ausfälle, brennende Missempfindungen, schmerzende Muskelkrämpfe und Muskelschwäche. Trotz ihrer hohen Prävalenz sind Diagnose und Therapie oft unbefriedigend, was auf ein mangelndes Verständnis der komplexen Krankheitsmechanismen zurückzuführen ist. Um diese Situation zu verbessern, hat sich ein Konsortium aus Forschenden der Universitäten Münster, Essen, Heidelberg und Leipzig gebildet, das mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums (BMBF) neue Erkenntnisse zu Ursachen und Therapie der PNP gewinnen will.
Herausforderungen bei Diagnose und Therapie
Eine der größten Herausforderungen bei der Behandlung der PNP ist die Vielfalt möglicher Ursachen. Ein gestörter Zuckerstoffwechsel (Diabetes mellitus), Alkoholmissbrauch, Infektionen, Mangelernährung, Chemotherapien, Autoimmunerkrankungen oder genetische Veränderungen können eine PNP auslösen. Um eine effektive Therapie einzuleiten, ist es entscheidend, die genaue Ursache der Erkrankung zu identifizieren.
Aktuell erfolgt die Ursachenfindung meist durch Ausschlussdiagnostik, was für die Betroffenen oft mit einer langen Reihe von Untersuchungen verbunden ist. Ziel der aktuellen Forschung ist es, diagnostische Verfahren zu entwickeln, die eine schnelle und eindeutige Identifizierung der Krankheitsursache ermöglichen.
Das LINC-Projekt: Fokus auf die Myelinscheide
Das Forschungsprojekt LINC ("Lipid Immune Neuropathy Consortium") konzentriert sich auf die Myelinscheide, die fettreiche Schutzhülle, die jede Nervenfaser umgibt. Die Myelinscheide spielt eine entscheidende Rolle für die Funktion der Nerven, da sie die Nervenleitgeschwindigkeit erhöht und die Nervenfaser vor Schädigungen schützt.
Die Forschenden vermuten, dass bei der PNP ein "zerstörerischer Teufelskreis" entsteht, der entweder durch eine Schädigung der Myelinscheide oder durch eine Fehlfunktion des Immunsystems ausgelöst wird.
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- Schädigung der Myelinscheide: Genetische Defekte oder andere Faktoren können die Zusammensetzung der Fettschicht der Myelinscheide verändern. Dies führt zur Aktivierung von Immunzellen, die das veränderte Fett angreifen und einen Entzündungsprozess auslösen. Die Entzündung schädigt die Myelinscheide weiter, was den Teufelskreis verstärkt.
- Fehlfunktion des Immunsystems: In manchen Fällen greifen Immunzellen die intakte Myelinscheide an, ohne dass eine vorherige Schädigung vorliegt. Auch hier kommt es zu einer Entzündung und zur Zerstörung der Nervenhülle.
Das LINC-Projekt untersucht diesen Teufelskreis von beiden Seiten, um die komplexen Zusammenhänge besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit für neue Erkenntnisse
Das LINC-Konsortium vereint Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen, um die PNP umfassend zu untersuchen.
- Prof. Mark Stettner (Universität Duisburg-Essen): Erforscht in Zellkulturen die zellulären Prozesse bei der PNP, insbesondere das Zusammenspiel zwischen dem Fettstoffwechsel der Nerven und der Aktivierung von Fett-erkennenden Immunzellen.
- Prof. Dr. Gerd Meyer zu Hörste (WWU Münster): Untersucht Zellen aus Nerven von PNP-Patienten mit hochauflösenden genetischen Methoden, um die Ursache der PNP schnell und eindeutig zu identifizieren.
- Prof. Britta Brügger (Universität Heidelberg): Analysiert die Zusammensetzung von Fetten und Lipiden bei PNP, um Veränderungen im Fettstoffwechsel zu identifizieren.
- Prof. Ruth Stassart und Dr. Robert Fledrich (Universität Leipzig): Untersuchen die Regeneration der Nervenhülle durch bestimmte Fette, basierend auf vorherigen Studien an Mäusen. Ziel ist es, eine entsprechende Studie am Menschen vorzubereiten.
Ursachen der Polyneuropathie im Überblick
Die Ursachen für Polyneuropathie sind vielfältig. Hier eine Übersicht über einige der häufigsten Auslöser:
- Diabetes mellitus: Eine der häufigsten Ursachen. Hohe Blutzuckerspiegel können die Nerven schädigen.
- Alkoholmissbrauch: Chronischer Alkoholkonsum kann zu Nervenschäden führen.
- Toxine: Bestimmte Medikamente, Chemikalien und Schwermetalle können eine PNP verursachen.
- Infektionen: Verschiedene Infektionskrankheiten wie Borreliose, HIV oder Hepatitis können Nervenschäden verursachen.
- Vitaminmangel: Ein Mangel an Vitamin B1, B12 oder E kann zu einer PNP führen.
- Autoimmunerkrankungen: Erkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom oder die chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) können die Nerven angreifen.
- Genetische Faktoren: Erbliche Formen der PNP, wie die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung, sind relativ selten.
- Krebserkrankungen: PNP kann als paraneoplastisches Syndrom bei Krebserkrankungen auftreten oder als Nebenwirkung von Chemotherapien.
Symptome der Polyneuropathie
Die Symptome einer Polyneuropathie sind vielfältig und hängen davon ab, welche Nervenfasern betroffen sind. Häufige Symptome sind:
- Sensibilitätsstörungen: Kribbeln, Brennen, Taubheitsgefühl, Schmerzen oder ein Gefühl des Eingeschnürtseins in den Füßen und Beinen (sockenförmige Verteilung) oder in den Händen (handschuhförmige Verteilung).
- Motorische Störungen: Muskelschwäche, Lähmungen, Muskelkrämpfe oder Koordinationsstörungen.
- Vegetative Störungen: Störungen der Schweißproduktion, Verdauungsprobleme, Blasen- und Darmfunktionsstörungen, Herzrhythmusstörungen oder Potenzstörungen.
Diagnostische Verfahren
Zur Diagnose einer Polyneuropathie werden verschiedene Untersuchungen durchgeführt:
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- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich Symptome, Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme und Familienanamnese.
- Klinisch-neurologische Untersuchung: Prüfung der Muskelkraft, Sensibilität, Reflexe und Koordination.
- Elektrophysiologische Untersuchungen: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) und des Nervensummenpotentials, um die Art und das Ausmaß der Nervenschädigung zu bestimmen.
- Laboruntersuchungen: Blutuntersuchungen zur Bestimmung von Blutzucker, Vitaminspiegeln, Entzündungswerten und anderen relevanten Parametern.
- Nervenbiopsie: Entnahme einer Gewebeprobe aus einem peripheren Nerven zur feingeweblichen Untersuchung.
- Quantitative sensorische Testung (QST): Messung der Wahrnehmung von verschiedenen Reizen wie Temperatur, Vibration und Berührung, um die Funktion der verschiedenen Nervenfasern zu beurteilen.
Therapieansätze bei Polyneuropathie
Die Therapie der Polyneuropathie zielt darauf ab, die Ursache der Erkrankung zu behandeln und die Symptome zu lindern.
- Ursachenbezogene Therapie: Behandlung der Grunderkrankung, z.B. Einstellung des Blutzuckers bei Diabetes mellitus, Alkoholverzicht bei alkoholtoxischer PNP, Behandlung von Infektionen oder Autoimmunerkrankungen.
- Symptomatische Therapie: Linderung der Schmerzen und anderer Beschwerden mit Medikamenten wie Antidepressiva, Antikonvulsiva oder Schmerzmitteln. Nicht-medikamentöse Therapien wie Physiotherapie, Ergotherapie, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) oder Capsaicin-Pflaster können ebenfalls zur Schmerzlinderung beitragen.
- Neue Therapieansätze: In den letzten Jahren wurden neue Medikamente und Therapien zur Behandlung bestimmter Formen der PNP entwickelt. Dazu gehören beispielsweise Eplontersen und Vutrisiran zur Behandlung der hereditären Transthyretin-Amyloidose mit Polyneuropathie (hATTR-PN) oder die CAR-T-Zell-Therapie bei bestimmten Autoimmunneuropathien.
Aktuelle Entwicklungen und Forschungsperspektiven
Die Forschung im Bereich der Polyneuropathie hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Neue Erkenntnisse über die Krankheitsmechanismen und die Entwicklung neuer Therapieansätze geben Hoffnung auf eine verbesserte Behandlung der PNP in der Zukunft.
Das LINC-Projekt und andere Forschungsinitiativen tragen dazu bei, die Ursachen der PNP besser zu verstehen und neue diagnostische und therapeutische Strategien zu entwickeln. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt dabei auf der personalisierten Medizin, bei der die Therapie auf die individuellen Bedürfnisse und Merkmale des Patienten zugeschnitten wird.
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