Polyneuropathie ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, welches alle Nerven außerhalb des Rückenmarks und des Gehirns umfasst. Schätzungsweise 5-6 Millionen Menschen in Deutschland sind von dieser Krankheit betroffen, die jedoch nicht immer die notwendige Aufmerksamkeit erhält. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei 65 Jahren, wobei Männer etwas häufiger betroffen sind als Frauen.
Was ist Polyneuropathie?
Polyneuropathie ist ein Sammelbegriff für verschiedene Erkrankungen, die zu einer Schädigung der peripheren Nerven führen. Diese Nerven steuern die Muskeltätigkeit, das Körpergefühl, die Wahrnehmung auf der Haut und beeinflussen die Funktion der inneren Organe. Bei einer Polyneuropathie ist die Reizweiterleitung der Nerven gestört: Reize werden nicht, zu stark oder abgeschwächt an das Gehirn weitergeleitet, und Kommandos vom Gehirn erreichen die Muskeln und inneren Organe nicht mehr zuverlässig.
Es gibt zwei Hauptformen der Schädigung:
- Demyelinisierende Polyneuropathie: Hierbei zerfällt die Isolation (Myelinscheide) um die Nervenfasern, was die elektrische Impulsweiterleitung beeinträchtigt.
- Axonale Polyneuropathie: Hierbei geht die Nervenfaser selbst zugrunde. Beide Formen können auch kombiniert auftreten.
Ursachen von Polyneuropathie
Häufig ist eine Polyneuropathie die Folge einer bereits bestehenden Erkrankung. Es gibt eine Vielzahl möglicher Ursachen, wobei die häufigsten eine fortgeschrittene Diabeteserkrankung und chronischer Alkoholmissbrauch sind. Weitere Ursachen können sein:
- Stoffwechselerkrankungen (z. B. Leber-, Nieren- oder Schilddrüsenerkrankungen)
- Vitaminmangelzustände (z. B. Vitamin B12-Mangel) nach Magenoperationen
- Nebenwirkungen bestimmter Medikamente (z. B. Zytostatika, Chemotherapeutika)
- Toxine
- Genetische Ursachen
- Entzündliche Ursachen (Polyneuritis)
- Autoimmunologische Ursachen (z. B. CIDP)
- Infektiöse Ursachen (z. B. HIV, Borreliose, Diphtherie, Pfeiffersches Drüsenfieber)
- Krebserkrankungen
In etwa 20 Prozent der Fälle bleibt die Ursache ungeklärt.
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Symptome der Polyneuropathie
Die Symptome einer Polyneuropathie können vielfältig sein und hängen vom betroffenen Nervenfasertyp ab. Typischerweise beginnen die Symptome an den Füßen und Händen und steigen dann langsam Richtung Körpermitte auf. Hier sind einige der häufigsten Symptome:
- Sensible Symptome:
- Kribbeln der Haut
- Taubheitsgefühl
- Stechen
- Schwellungsgefühl
- Druckgefühl
- Juckreiz
- Fehlerhaftes Temperaturempfinden
- Gangunsicherheit
- Motorische Symptome:
- Nachlassende Muskelkraft an Händen und Füßen
- Muskelzucken
- Muskelkrämpfe
- Muskelschwäche
- Muskelschwund
- Autonome Symptome:
- Verdauungsprobleme (Blähgefühl, Appetitlosigkeit, Aufstoßen, Durchfall, Verstopfung)
- Schwindel
- Herzrhythmusstörungen
- Kreislaufprobleme
- Urininkontinenz, Stuhlinkontinenz
- Impotenz
- Gestörtes Schwitzen
- Schwellung von Füßen und Händen (Wassereinlagerungen)
Diabetische Polyneuropathie: Bei Diabetikern treten die Symptome zuerst und vor allem im Fuß auf, beginnend mit Kribbeln oder Brennen. Im späteren Verlauf können schmerzlose und schlecht heilende Wunden entstehen, die zu einer Nekrose (diabetischer Fuß) führen können.
Folgen der Polyneuropathie
Durch Lähmungserscheinungen und Sensibilitätsstörungen können Gang- und Gleichgewichtsprobleme auftreten, was zu gehäuften Stürzen und eingeschränkter Mobilität führt. Betroffene der Arme und Hände erleben Kraftlosigkeit und Ungeschicklichkeit bei alltäglichen Aktivitäten. Quälende sensible Reizerscheinungen können Schlafstörungen und eine verminderte Lebensqualität verursachen. Bei Beteiligung der Hirnnerven können Sprech- und Schluckstörungen auftreten. Die Beteiligung des autonomen Nervensystems kann zu Schwindel, Kreislaufproblemen, Verstopfung, Durchfall oder Sexualstörungen führen. Häufig kommt es aufgrund der konstanten Schmerzen einer Polyneuropathie zu Depressionen und Gewichtsabnahmen.
Diagnose von Polyneuropathie
Die Diagnose von Polyneuropathie umfasst mehrere Schritte:
- Anamnese: Ausführliche Erhebung der Krankheitsgeschichte.
- Klinische Untersuchung: Gründliche körperliche Untersuchung.
- Elektrophysiologische Diagnostik:
- Elektroneurographie (Messung der Nervenleitgeschwindigkeit)
- Elektromyographie (Messung der Muskelaktivität)
- Ableitung evozierter Potentiale (sensibles und motorisches System)
- Untersuchungen des autonomen Nervensystems:
- Sudorimetrie (Messung der Schweißproduktion)
- Kipptischuntersuchungen (zur Beurteilung der Kreislaufregulation)
- Umfangreiche Labordiagnostik: Suche nach metabolischen oder autoimmunen Ursachen.
- Untersuchung des Nervenwassers (Liquor)
- In seltenen Fällen:
- Kombinierte Nerven-/Muskelbiopsie
- Hautbiopsie
- MRT-Bildgebung (MR-Neurographie)
Behandlung von Polyneuropathie
Die Behandlung der Polyneuropathie zielt primär darauf ab, die Ursache zu behandeln und die Symptome zu lindern.
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Behandlung der Ursache
- Diabetes mellitus: Optimale Einstellung des Blutzuckerspiegels. Intensive Schulung zu Ursachen, Folgen und Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung, individuelle Ernährungsberatung und Modifikation von Lebensumständen.
- Chronischer Alkoholmissbrauch: Absolute Alkoholabstinenz. Ausgleich von Vitaminmangelzuständen.
- Stoffwechselerkrankungen: Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung von Niere, Leber oder Schilddrüse.
- Autoimmun entzündliche Polyneuropathien: Behandlung des Immunsystems mit Kortison oder intravenösem Immunglobulin (IVIG).
- Tumorassoziierte Polyneuropathie: Behandlung des zugrunde liegenden Tumors.
- Vitaminmangel: Substitution der fehlenden Vitamine.
Symptomatische Behandlung
Auch wenn die Ursache nicht eindeutig ist, kann die Polyneuropathie symptomatisch behandelt werden:
- Medikamentöse Schmerztherapie: Spezielle Medikamente, die ursprünglich gegen Epilepsie und Depression entwickelt wurden, können Nervenschmerzen lindern. Lokale Schmerzmittel können ebenfalls wirksam sein.
- Physikalische Therapie:
- Bäder
- Elektrotherapie (TENS, Reizstromtherapie, Iontophorese) zur Steigerung der Erregbarkeit der betroffenen Nerven
- Wärmeanwendungen
- Krankengymnastik, Sporttherapie und medizinische Trainingstherapie (spezielles Krafttraining) zur Stärkung der geschwächten Muskulatur
- Ergotherapie zur Behandlung sensibler Symptome, Setzen mechanischer Reize durch Kontakt mit unterschiedlichsten Materialien, Kennenlernen von Hilfsmitteln
- Weitere Maßnahmen:
- Anpassung von Hilfsmitteln (Gehhilfen, Rollstühle)
- Optimale Pflege und Regeneration der Haut und chronischer Wunden
- Psychologische Betreuung bei Depressionen
- Logopädische Therapie bei Sprech- und Schluckstörungen
- Sozialdienstliche Beratung zur stufenweisen Wiedereingliederung ins Berufsleben, Umgestaltung des Arbeitsplatzes, Qualifizierungsmaßnahmen oder Umschulungen
Multimodaler Therapieansatz
Ein intensiver multimodaler Therapieansatz, der verschiedene Therapieformen kombiniert, kann zu schnellerer und nachhaltiger Besserung führen. Dazu gehören:
- Betroffene Hände und Füße möglichst viel bewegen
- Regelmäßige, unterschiedliche taktile Reize setzen
- Patientenschulung und Anleitung für die Zeit nach der Rehabilitation
Behandlung in der Onkologie
Bei Verabreichung von Chemotherapien können begleitend Wirkstoffe eingesetzt werden, die eine Polyneuropathie abmildern. Eine Kühlung von Füßen und Händen während der Medikamentengabe (z. B. bei Taxanen wie Docetaxel) scheint vorbeugend wirksam zu sein.
Spezialisierte Kliniken und Ambulanzen in Deutschland
Viele Kliniken in Deutschland haben sich auf die Diagnose und Behandlung von Polyneuropathien spezialisiert. Hier sind einige Beispiele:
- MEDIAN Kliniken: Bieten einen multimodalen Behandlungsansatz in neurologischen Rehabilitationskliniken.
- Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS), Klinik für Neurologie: Bietet in der Ambulanz für Polyneuropathie und CIDP umfassende Diagnostik und Therapieansätze.
- Alfried Krupp Krankenhaus, Klinik für Neurologie: Schwerpunkt auf Diagnostik und Therapie von Polyneuropathien im stationären und ambulanten Bereich.
- Habichtswald Reha-Klinik: Bietet spezielle Behandlungen in der onkologischen Abteilung zur Milderung von Polyneuropathien bei Chemotherapie.
- Start Reha - Bosenberg Kliniken: Fachbereich für neurologische Rehabilitation mit ganzheitlichem und interdisziplinärem Therapiekonzept.
- Schön Kliniken: Bieten spezialisierte Diagnostik und Therapie von Polyneuropathien.
Ambulanzen und Sprechstunden:
- Polyneuropathie-Ambulanz, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS): Gebäude 90, Erdgeschoss, Poliklinik, 66421 Homburg. Sprechstundenzeiten: 8 - 14 Uhr, Terminvergabe: Montag bis Freitag 12 - 14:30 Uhr, Telefon: +49 6841 16-24138
- Ambulanz für Polyneuropathie und CIDP der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS)
Wichtige Hinweise für den Termin:
- Europäische Versichertenkarte
- Medizinische Vorbefunde, inklusive Laborbefunde
- Aktuellen Medikationsplan
- Röntgen-, CT- und MRT-Bilder (wenn vorhanden)
- Betreuungsurkunde (wenn vorhanden)
- Seh- und Hörhilfe (wenn benötigt)
- Anfallskalender (wenn vorhanden)
Prävention und Selbsthilfe
- Optimale Behandlung der Grunderkrankung: Eine gute Behandlung von Diabetes mellitus, Alkoholkarenz und die Substitution von fehlenden Vitaminen sind wichtige Basismaßnahmen.
- Bewegung: Betroffene Hände und Füße möglichst viel bewegen.
- Taktile Reize: Regelmäßige, unterschiedliche taktile Reize setzen.
- Hautpflege: Regelmäßige Kontrolle auf Verletzungen und Druckstellen, Verbesserung der Hautelastizität und Regeneration durch Hautpflege.
- Fußhygiene: Bei Diabetikern ist eine richtige Fußhygiene wichtig, um Entzündungen oder unbemerkte Verletzungen zu verhindern.
Forschung und Studien
Im Rahmen der universitären Forschung besteht die Möglichkeit zur Teilnahme an Studien. Bei Interesse sollte der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin kontaktiert werden.
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