Viele Mythen ranken sich um die Unterschiede zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte. Besonders verbreitet ist die Theorie einer “left-brained” versus “right-brained” Persönlichkeit. Das meiste davon ist nicht wissenschaftlich fundiert. Neurowissenschaftler:innen untersuchen funktionelle Asymmetrien der Gehirnhälften, sogenannte Lateralisierungen. Sie messen die Dominanz einer Seite für eine bestimmte Funktion. Beide Gehirnhälften sind immer aktiv, und Gehirntraining von nur einer Hirnhälfte ist ein Mythos. Das Gehirntraining von NeuroNation spricht daher immer beide Gehirnhälften an! Dieser Artikel beleuchtet die tatsächliche Rolle der rechten Gehirnhälfte bei Stress, basierend auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Lateralisierung von Gehirnfunktionen: Was bedeutet das wirklich?
Grundsätzlich erforschen Neurowissenschaftler:innen die Lateralisierung von Gehirnfunktionen, und nicht, ob eine Funktion “links oder rechts” stattfindet. Das bedeutet: Dank bildgebender Verfahren beobachten sie die Aktivität in beiden Hirnhälften und berechnen das Verhältnis von links zu rechts, den Lateralitätsindex. Sie sehen also, welche Seite dominanter für eine Funktion ist. Das kann sich allerdings von Mensch zu Mensch unterscheiden! Außerdem ist diese Dominanz spezifisch für eine Aufgabe oder Fähigkeit. “Links-” oder “rechts-denkende” Menschen gibt es also so allgemein nicht.
Der Mythos der "rechten Gehirnhälfte" Persönlichkeit
Im Internet kursieren viele Behauptungen über die rechte Gehirnhälfte. Sie sei konzeptuell, holistisch, intuitiv, non-verbal und einfallsreich. Es gibt sogar Online-Tests, die vorgeben, feststellen zu können, ob jemand “left-brained” oder “right-brained” ist, also eher “mit links oder rechts denkt”. Zum Beispiel können Neugierige sich die Animation einer drehenden Ballerina-Tänzerin ansehen und entscheiden, ob sie die Pirouette als Links- oder Rechtsdrehung wahrnehmen. Daraus werden dann Schlüsse über die Persönlichkeit gezogen. Was steckt dahinter? Jedenfalls keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Denn wie meistens sind die Studien viel komplizierter.
Der Ballerina-Test: Mehr Schein als Sein?
Trotzdem ist der Ballerina-Test nicht völlig aus der Luft gegriffen. Tatsächlich ist die Animation intensiv untersucht in neurowissenschaftlichen Studien. Sie zeigen, dass die rechte Gehirnhälfte stärker involviert ist in die Verarbeitung von menschlichen Bewegungen als die linke. Das könnte erklären, wieso die Drehung von vielen als Rechtsdrehung (d.h., im Uhrzeigersinn) wahrgenommen wird. Diese Interpretation ist allerdings umstritten.
Außerdem wurde gezeigt, dass einige Menschen bewusst beeinflussen können, ob sich die Ballerina für sie links- oder rechtsherum dreht. Die wahrgenommene Drehrichtung sagt also nichts darüber aus, ob jemand “mehr links oder rechts denkt”. Die rechte Hirnhälfte aktiviert sich bei den meisten Menschen verstärkt, egal in welche Richtung sich die Tänzerin dreht. Forscher:innen haben entdeckt, dass diese Momente des Richtungswechsels mit spezifischen Fluktuationen in der Aktivität des rechten Scheitellappens zusammenfallen. Sie könnten erklären, woher die plötzliche Änderung unserer Wahrnehmung kommt. Schlüsse über die Persönlichkeit lassen sich aus der Wahrnehmung der Tänzerin übrigens leider auch nicht ziehen.
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Emotionen und die rechte Gehirnhälfte: Eine Verbindung zu negativen Gefühlen?
Wahrscheinlich haben Wissenschaftler:innen selbst den Samen für viele Mythen gesät, die die rechte Gehirnhälfte heute umranken. Beispielsweise schreibt Ned Herrmann, weltweit anerkannt für seine Beiträge zur Hirnforschung, 1998 im Scientific American, die rechte Hirnhälfte sei der“Sitz von Neugier, Synergie, Experimentieren, metaphorischem Denken, Verspieltheit, Lösungsfindung, Kunstfertigkeit, Flexibilität, Synthese und allgemeiner Risikobereitschaft.” Diese Behauptung hält einem Blick auf die Forschungsergebnisse nicht stand.
Heute wird stattdessen ein Zusammenhang zwischen einer Dominanz der rechten Hirnhälfte und Emotionen wissenschaftlich diskutiert - allerdings nur negativer Emotionen! Auf der Suche nach der Ursache für Depressionen haben Forscher:innen die Valenzhypothese vorgeschlagen. Die Idee ist, dass eine Hyperaktivität der rechten Gehirnhälfte dazu führe, dass negative Gefühle stärker verarbeitet werden, pessimistische Gedanken auftauchen und unkonstruktive Denkmuster entstehen. Aktivität in der rechten Hirnhälfte sei außerdem verknüpft mit Selbstreflektion, die bei depressiven Patient:innen häufig intensiver ist als bei gesunden Menschen. Die rechte Hirnhälfte spielt auch eine wichtige Rolle bei der Anpassung unseres Erregungszustands. Das könnte erklären, wieso depressive Menschen häufig an Schlafproblemen leiden.
Die Rolle der rechten Gehirnhälfte bei der Verarbeitung von Stress
Unter Stress ist die rechte Gehirnhälfte sehr aktiv, die linke hingegen nicht. Dabei lässt sich Stress leichter verarbeiten, wenn Sie Zugriff auf beide Gehirnhälften haben. Tapping bringt beide Seiten in Schwung - und es kostet nur ein paar Sekunden.
Für eine Studie im Bereich der Stressforschung suchen Forschende der Ruhr-Universität-Bochum männliche Probanden, die Linkshänder sind. Ziel ist es zu verstehen, wie unter Stress ein Netzwerk an Hirnregionen aktiv wird und welche Rolle dabei die linke und die rechte Gehirnhälfte spielen. Dazu unterziehen sich die Probanden einer MRT-Untersuchung im Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund.
Strategien zur Aktivierung beider Gehirnhälften in Stresssituationen
Wenn der Körper in eine Notreaktion gerät und Signale sendet, dass etwas nicht stimmt, hängt man oft in seinen Emotionen fest. Jegliche rationale Gedanken kommen nicht mehr bei uns an. Das liegt daran, dass in diesem Moment unsere rechte Gehirnhälfte, die unter anderem für unsere Emotionen zuständig ist, überaktiv ist. Die linke Gehirnhälfte, die unter anderem für das logische Denken zuständig ist, dafür zu wenig. Was wir in diesen Situationen brauchen, sind also Strategien, wie wir die linke Gehirnhälfte wieder aktivieren können. Und Strategien, wie die Verstopfung zwischen den Hirnhälften wieder aufgelöst wird.
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- Singen: Beim Singen werden automatisch beide Hirnhälften aktiviert. Die Linke durch den Text. Die Rechte durch die Melodie. Dabei ist es absolut nicht wichtig, dass du schön singst, oder richtig. Solange dein Lied einen Text und eine Melodie hat, ist das absolut ausreichend.
- Malen und Beschriften: Male dein Gefühl auf und beschrifte es anschließend. Durch die Worte wird deine linke Hirnhälfte aktiviert, durch das Bild deine Rechte.
- Schreiben: Schreibe deine Gedanken und Gefühle auf. Am Besten in Schönschrift. Durch die Worte wird wieder deine linke Hirnhälfte aktiviert. Durch die grafische Darstellung deine Rechte.
- Zählen und Visualisieren: Zähle von 10 rückwärts, oder stelle dir leichte Matheaufgaben. Dadurch wird deine linke Hirnhälfte aktiviert. Jetzt stelle dir noch jeder Zahl in einer anderen Farbe vor. Durch die wechselnde links-rechts-Bewegung wird abwechselnd die rechte und die linke Hirnhälfte aktiviert. Das funktioniert auch, wenn du nur auf der Stelle gehst, abwechseln deine rechte und linke Schulter tappst oder abwechselnd dein linkes und rechtes Bein anspannst.
Blackout verhindern: Ein Trick für Rechtshänder
Jede:r hat es schon erlebt - man steht vor Publikum, muss eine wichtige Präsentation halten und auf einmal ist der Kopf ganz leer. Blackout! Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Mit einem einfachen Handgriff kann man das Gehirn beruhigen, um in Stresssituationen nicht den Fokus zu verlieren. Sportwissenschaftler:innen der TU München haben diesen Effekt bei männlichen Tennis-Kaderspielern beobachten können. Sie ließen die jungen Sportler den Ball vor Aufschlägen mit der linken Hand für zehn bis fünfzehn Sekunden fest drücken und maßen daraufhin die Treffsicherheit der Athleten. EEG-Untersuchungen zeigten dabei, dass der Griff die sogenannten Alphawellen im Gehirn aktiviert, die uns in den Zustand einer entspannten Wachheit versetzen. Außerdem hemmt er die Aktivität der linken Gehirnhälfte, die eher für Sprache und abstraktes Denken zuständig ist. Der hohe Widerstand des Tennisballs sei notwendig, um die Wirkung zu erzielen. Dadurch lässt sich diese neue Erkenntnis leicht in die Praxis umsetzen. Hat man gerade keinen Stress- oder Tennisball zur Hand, reicht es auch, die linke Hand für fünfzehn Sekunden zur Faust zu ballen. Allerdings wurden die Experimente nur mit Rechtshänder:innen durchgeführt - ob der Trick so auch bei Linkshänder:innen funktioniert, ist noch nicht untersucht.
Wenn die rechte Gehirnhälfte ausfällt: Der Neglect
Die rechte Gehirnhälfte ist hauptverantwortlich für einen Großteil der Wahrnehmung von linksseitigen Sinneseindrücken und Bewegung unserer linken Körperhälfte. Daher führt eine Schädigung in der rechten Hirnhälfte zu Beeinträchtigungen in der Aufmerksamkeit für die linke Hälfte der Umwelt, genannt linksseitiger Neglect. Die linke Gehirnhälfte wiederum steuert (die meisten) Bewegungen und Wahrnehmungen der rechten Körperhälfte. Trotzdem folgt auf eine Schädigung der linken Gehirnhälfte nur selten ein rechtsseitiger Neglect. Forscher:innen schließen daraus, dass die rechte Gehirnhälfte eine Dominanz hat für die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit und zwar sowohl nach links als auch nach rechts.
Symptome des Neglect
Stellen Sie sich vor, die Zeichner werden darauf angesprochen, leugnen aber einfach, dass links etwas fehlt. Auch sonst benehmen sie sich seltsam: Sie verwenden kaum ihre linken Körperteile. Sie gehen nicht auf Berührungen und Geräusche ein, die von ihrer linken Seite kommen. Andere Menschen, die sich links im Raum befinden, beachten sie nicht. Es kann sogar passieren, dass sie sich nur den rechten Jackenärmel anziehen und den linken vergessen! Die Zeichnungen stammen von Menschen, die eine Schädigung in der rechten Hirnhälfte, meist am Scheitellappen, erlitten haben. Seitdem zeigen sie einen sogenannten Neglect. Bei diesem Krankheitsbild passiert etwas, das für Außenstehende schwierig nachzuvollziehen ist: Die linke Hälfte der Welt wird normal wahrgenommen, aber kaum verarbeitet und deshalb ignoriert.
Gehirntraining für mehr Aufmerksamkeit: Ein ganzheitlicher Ansatz
Es klingt verlockend: Spezifisch die rechte Gehirnhälfte trainieren, um die Aufmerksamkeit zu steigern. Trainings, die vorgeben, nur die rechte Gehirnhälfte anzusprechen, sind aber nicht wissenschaftlich fundiert. Obwohl die rechte Gehirnhälfte eine Dominanz für räumliche Aufmerksamkeit hat, arbeiten im gesunden Gehirn die Hälften immer zusammen. Ihre Aufmerksamkeit zu trainieren ist aber trotzdem möglich. NeuroNation bietet Ihnen im Bereich Aufmerksamkeit über 20 Übungen an, die gezielt diese Funktionen und Fähigkeiten ansprechen: Bei regelmäßigem Training verlängern sie die Aufmerksamkeitsspanne und verbessern den Fokus. NeuroNation bietet Ihnen ein wissenschaftlich fundiertes Trainingsprogramm, das in Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungsinstituten entwickelt wurde. Über 30 Übungen warten dort auf Sie. Die App wertet automatisch Ihre Leistung aus und personalisiert die Schwierigkeit, um so den Trainingseffekt zu maximieren.
Die Amygdala: Die Alarmanlage im Gehirn
Der Anblick einer Spinne oder huschender Schatten im Dunklen lassen blitzschnell die sensible Alarmanlage des Gehirns schrillen - Schweißausbrüche und nackte Angst sind die Folge. Oft ist es ein Fehlalarm. Prof. Dr. Die Amygdala schätzt Gefahren ein und steuert die Kaskade der Angstreaktionen. Direkt vom Thalamus erhält die Amygdala eine grobe Skizze der Situation, um schnell die Gefahr einzuschätzen. Eine genaue Analyse liefert etwas später der langsamere Weg vom Thalamus über den Neocortex und den Hippocampus. Die Amygdala dient Tier und Mensch also als Alarmanlage. Innerhalb von wenigen Millisekunden bewertet sie Situationen und schätzt Gefahren ein.
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Der Schaltkreis der Angst
Der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux von der New York University hat die zugrundeliegenden Mechanismen als einen Schaltkreis der Angst beschrieben, der über zwei Wege Informationen an die Amygdala sendet: einmal schnell, grob und fehleranfällig, und einmal langsam, aber durch genaue Analyse überprüft. Ausgangspunkt ist stets der Thalamus. Dieser Teil des Zwischenhirns bildet das Tor zum Bewusstsein und ist eine wichtige zentrale Schaltstelle für Nachrichten von den Sinnesorganen. Erhält er einen emotionalen Reiz wie zum Beispiel ein lautes Geräusch, leitet er eine grobe Skizze des Sinneseindrucks direkt weiter an einen kleinen Zellverbund („Furcht-an“ Neurone) in der lateralen Amygdala. Werden diese Zellverbände aktiviert, fließt die Information weiter zum zentralen Kern der Amygdala. Hier werden die defensiven Verhaltensprogramme aktiviert. So werden körperliche Angstreaktionen ausgelöst. Dank dieser thalamo-amygdalären Verbindung können Tier und Mensch blitzschnell auf eine Gefahr reagieren. Auch der Hirnstamm und die Großhirnrinde werden informiert. Der Hirnstamm löst automatische Verhaltensreaktionen aus, die von einem Erstarren über Flucht bis zum Angriff reichen können.
Zusätzlich zu der von LeDoux als „quick and dirty“, also als schnell und schmutzig beschriebenen Abkürzung führt daher vom Thalamus zur Amygdala auch die so genannte „high road“ der kognitiven Verarbeitung. Auf dieser bewussten Route gelangt die Sinnesinformation vom Thalamus zuerst in den Cortex und den Hippocampus. Dort werden die Eindrücke genauer analysiert, bevor sie die Amygdala erreichen.
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