Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ, das aus zwei Hälften besteht, die miteinander interagieren und zusammenarbeiten. Obwohl das Gehirn auf den ersten Blick symmetrisch erscheint, weisen die beiden Hemisphären subtile, aber funktionell relevante Unterschiede auf. Die rechte und linke Gehirnhälfte sind arbeitsteilig für verschiedene Funktionen zuständig. Die Vorstellung, dass Menschen eher mit der linken oder rechten Hemisphäre "denken", hat jedoch keine wissenschaftliche Grundlage.
Die unterschiedlichen Funktionen der Gehirnhälften
Die linke Gehirnhälfte steuert die rechte Körperseite und ist bei den meisten Menschen für Sprache und Motorik der geschickteren Hand zuständig. Sie übernimmt die Aufgabe, Wörter zu erzeugen, zusammenzustellen oder zu analysieren. Die rechte Gehirnhälfte steuert die linke Körperseite und ist für die Interpretation von Klangmustern zuständig. Sie spielt eine dominante Rolle bei der räumlichen Aufmerksamkeitslenkung.
Diese Aufteilung der Aufgaben ermöglicht es dem Gehirn, effizienter zu arbeiten und das Aufgabenspektrum insgesamt zu erweitern. Es gibt jedoch keine strikte Trennung der Funktionen, und beide Hemisphären sind an fast allen kognitiven Prozessen beteiligt und arbeiten eng zusammen.
Ursachen für eine gestörte Zusammenarbeit
Es gibt verschiedene Ursachen, die zu einer gestörten Zusammenarbeit der rechten und linken Gehirnhälfte führen können. Dazu gehören:
- Schlaganfall: Ein Schlaganfall kann eine oder beide Gehirnhälften schädigen und zu einer Halbseitenlähmung (Hemiparese) führen. Je nachdem, welche Gehirnhälfte betroffen ist, kann dies zu unterschiedlichen Symptomen führen, wie z. B. Sprachstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen oder Neglect (Vernachlässigung einer Körperhälfte oder der Umgebung).
- Epilepsie: Bei manchen Epilepsiepatienten wird der Hirnbalken (Corpus callosum) durchtrennt, um die Ausbreitung epileptischer Anfälle zu verhindern. Dies kann jedoch zu einer gestörten Kommunikation zwischen den beiden Gehirnhälften führen und zu sogenannten "diagnostischen" Verhaltensweisen führen, bei denen die Hände des Betroffenen in Konflikt miteinander geraten.
- Corpus-callosum-Agenesie: In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass der Hirnbalken von Geburt an fehlt (Corpus-callosum-Agenesie). In diesen Fällen kann das Gehirn jedoch in der Lage sein, die fehlende Verbindung mithilfe anderer "Brücken" zwischen den Hirnhälften, den sogenannten Kommissuren, zu kompensieren.
- Entwicklungsstörungen: Bei Kindern mit ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen oder Lernstörungen wird häufig eine zu schwache Aufgabenteilung zwischen den beiden Gehirnhälften festgestellt. Dies kann zu einem Gehirnungleichgewicht führen, bei dem eine Gehirnhälfte zu langsam oder zu schwach ist und die stärkere Seite das Ruder übernimmt.
Die evolutionäre Perspektive
Eine interessante Hypothese zur Erklärung der unterschiedlichen Funktionen der Gehirnhälften und der gekreuzten Nervenverbindungen im Gehirn liefert ein deutsch-niederländisches Forscherteam um Dr. Marc de Lussanet. Sie vermuten, dass ein urzeitlicher Fisch sich vor mindestens 450 Millionen Jahren um 90 Grad gedreht hat, um sich am Meeresboden zu verstecken. Im Laufe der Evolution verschoben sich dann einzelne Körperteile, um diese asymmetrische Anordnung wiederherzustellen. Dabei entstanden zum Teil Kreuzungen der Nervenbahnen, wie z. B. das optische Chiasma (die Kreuzung der Sehnerven).
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Auswirkungen einer gestörten Zusammenarbeit
Eine gestörte Zusammenarbeit der rechten und linken Gehirnhälfte kann sich auf verschiedene Bereiche des Lebens auswirken. Dazu gehören:
- Motorik: Halbseitenlähmungen (Hemiparesen) können zu einseitigen Kraft- und Bewegungsstörungen sowie Muskelverkrampfungen führen.
- Sprache: Sprachstörungen (Aphasien) können die Fähigkeit beeinträchtigen, Sprache zu verstehen, zu sprechen, zu lesen oder zu schreiben.
- Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeitsstörungen können es erschweren, sich zu konzentrieren, Aufgaben zu erledigen oder Anweisungen zu befolgen.
- Wahrnehmung: Neglect kann dazu führen, dass Betroffene eine Körperhälfte oder die Umgebung auf einer Seite weniger oder gar nicht wahrnehmen.
- Emotionen: Studien haben gezeigt, dass selektiv linksseitige Schäden das Risiko für Psychosen erhöhen können, während Defekte auf der rechten Hirnseite häufiger mit Aufmerksamkeitsproblemen verbunden sind.
Die Plastizität des Gehirns
Trotz der unterschiedlichen Funktionen und der möglichen Störungen ist das Gehirn ein äußerst anpassungsfähiges Organ. Es ist in der Lage, fehlende Verbindungen zu kompensieren, neue neuronale Verbindungen zu bilden und Funktionen von einer Gehirnhälfte auf die andere zu verlagern. Diese Fähigkeit zur Anpassung wird als Plastizität bezeichnet und ermöglicht es dem Gehirn, sich an Veränderungen anzupassen und Schäden zu kompensieren.
Mythen und Fakten
Es ist wichtig, sich von einigen weitverbreiteten Mythen über die Zusammenarbeit der Gehirnhälften zu distanzieren. Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für die Vorstellung, dass Menschen eher mit der linken oder rechten Hemisphäre "denken" oder dass eine Hemisphäre dominant ist. Beide Hemisphären arbeiten eng zusammen und sind an fast allen kognitiven Prozessen beteiligt.
Auch die Idee, dass die linke Gehirnhälfte analytisch-logisch und die rechte Gehirnhälfte emotional-kreativ ist, ist eine Vereinfachung. Zwar gibt es funktionelle Unterschiede zwischen den Hemisphären, aber diese sind nicht so scharf und eindeutig, wie oft dargestellt wird.
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