Das Rückenmark spielt eine zentrale Rolle im Nervensystem und ist für die Weiterleitung von Informationen und die Steuerung von Reflexen unerlässlich. Reflexe sind blitzschnelle, unwillkürliche Reaktionen des Körpers, die oft dem Schutz und dem Überleben dienen. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Reflexe des Rückenmarks, von den beteiligten neuronalen Schaltkreisen bis hin zu ihrer klinischen Bedeutung.
Einführung in die Reflexe
Reflexe sind automatische, unwillkürliche Reaktionen auf äußere oder innere Reize. Sie werden durch das Nervensystem gesteuert, ohne dass das Gehirn aktiv an der Verarbeitung beteiligt ist. Diese schnellen Reaktionen sind entscheidend, um den Körper vor Verletzungen zu schützen und grundlegende Funktionen aufrechtzuerhalten. Ein typisches Beispiel ist das Zurückziehen der Hand von einer heißen Herdplatte, bevor man überhaupt bewusst den Schmerz wahrnimmt.
Der Reflexbogen: Die Grundlage der Reflexe
Der Reflexbogen ist der neuronale Weg, den ein Reiz vom Auslöser zum reagierenden Organ nimmt. Er besteht aus mehreren Schlüsselkomponenten:
- Rezeptor: Eine Sinneszelle, die den Reiz wahrnimmt (z. B. Schmerz-, Temperatur- oder Dehnungsrezeptoren).
- Afferente Bahn: Sensorische Nervenfasern, die das Signal vom Rezeptor zum Rückenmark leiten.
- Verrechnung im ZNS: Die Umschaltung des Signals im Reflexzentrum des Rückenmarks. Dies kann monosynaptisch (über eine einzige Synapse) oder polysynaptisch (über mehrere Synapsen) erfolgen.
- Efferente Bahn: Motorische Nervenfasern, die das Signal vom Rückenmark zum Effektor leiten.
- Effektor: Ein Muskel oder eine Drüse, die die Reaktion ausführt.
Ein Beispiel für einen einfachen Reflexbogen ist der Kniesehnenreflex. Hier wird durch einen Schlag auf die Kniesehne der Unterschenkelstrecker-Muskel ruckartig gedehnt. Diese Dehnung erregt Muskelspindeln, die als Dehnungsrezeptoren fungieren. Die Erregung wird über sensible Fasern ins Rückenmark geleitet, wo sie über eine einzige Synapse auf ein Motoneuron übertragen wird. Das Motoneuron leitet die Erregung zurück zum Muskel, der sich daraufhin zusammenzieht und den Unterschenkel nach vorne schnellen lässt.
Arten von Reflexen
Reflexe können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden:
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Angeborene vs. erworbene Reflexe
- Angeborene (unbedingte) Reflexe: Diese Reflexe sind von Geburt an vorhanden oder entwickeln sich in der frühen Kindheit. Sie sind genetisch bedingt und müssen nicht erlernt werden. Beispiele sind der Kniesehnenreflex, der Rückziehreflex und frühkindliche Reflexe wie der Greifreflex und der Suchreflex.
- Erworbene (bedingte) Reflexe: Diese Reflexe entstehen durch Lernen oder Konditionierung. Ein bekanntes Beispiel ist der Pawlowsche Hund, der darauf konditioniert wurde, auf einen neutralen Reiz (z. B. einen Glockenton) mit Speichelfluss zu reagieren.
Eigenreflexe vs. Fremdreflexe
- Eigenreflexe (monosynaptische Reflexe): Hier liegen Rezeptor und Effektor im gleichen Organ. Ein typisches Beispiel ist der Muskeldehnungsreflex, wie der Kniesehnenreflex oder der Bizepssehnenreflex. Diese Reflexe dienen der Aufrechterhaltung der Muskelspannung und dem Schutz vor Überdehnung.
- Fremdreflexe (polysynaptische Reflexe): Bei diesen Reflexen liegen Rezeptor und Effektor in verschiedenen Organen. Die Verschaltung erfolgt über mehrere Rückenmarkssegmente. Beispiele sind der Rückziehreflex des Beines, der Hustenreflex und der Lidschlussreflex. Diese Reflexe dienen oft dem Schutz vor schädlichen Reizen.
Viszerale Reflexe
Viszerale Reflexe steuern die unbewussten Reaktionen der inneren Organe auf bestimmte Reize. Ein Beispiel ist der Blasenentleerungsreflex, bei dem Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand die zunehmende Füllung mit Urin erfassen. Die Erregung wird über afferente Nervenfasern ans Rückenmark geleitet, was zur Kontraktion der Blasenmuskulatur und zur Erschlaffung des Schließmuskels führt.
Gemischte Reflexe
Gemischte Reflexe entstehen durch das Zusammenspiel von somatischen und viszeralen Nerven. Ein Beispiel ist der viszero-kutane Reflex, auch bekannt als Head’sche Zonen. Hierbei führt eine Reizung der Nozizeptoren eines Organs zur Aktivierung viszerosensibler Afferenzen, die über das Rückenmark Signale an den Kortex senden. Das Gehirn kann den Schmerz jedoch nicht exakt lokalisieren und ordnet ihn einem entsprechenden Hautgebiet (Dermatom) zu.
Frühkindliche Reflexe
Frühkindliche Reflexe sind angeborene Reaktionen, die bei Neugeborenen eine wichtige Rolle spielen, sich jedoch im Laufe der Entwicklung zurückbilden. Typische Beispiele sind der Greifreflex, bei dem Druck auf die Handinnenfläche das reflexartige Greifen auslöst, sowie der Suchreflex. Letzterer sorgt dafür, dass das Baby bei Berührung des Mundwinkels den Kopf dreht und den Mund öffnet, um die Brust oder Flasche zu finden. Ein weiteres Beispiel ist der Moro-Reflex, der durch eine plötzliche Lageveränderung oder ein lautes Geräusch ausgelöst wird und sich durch ein ruckartiges Ausbreiten der Arme mit anschließender Umklammerungsbewegung zeigt.
Die Rolle des Rückenmarks
Das Rückenmark ist ein etwa 40-50 cm langer Nervenstrang, der im Rückenmarkskanal der Wirbelsäule verläuft. Es dient als Leitungs- und Reflexapparat zwischen Gehirn und peripherem Nervensystem.
Aufbau des Rückenmarks
Im Querschnitt zeigt das Rückenmark außen die weiße Substanz und innen die graue Substanz in Form eines Schmetterlings. Die weiße Substanz besteht aus Faserbündeln, die afferente (aufsteigende) und efferente (absteigende) Nervenfasern enthalten. Die graue Substanz enthält Nervenzellkörper, Dendriten, marklose Anfangsteile der Axone, präsynaptische Endigungen von Neuronen, Gliagewebe und Blutkapillaren. Sie ist die eigentliche Schaltstelle des Rückenmarks.
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Die graue Substanz ist in Vorderhörner (Cornua anteriora) und Hinterhörner (Cornua posteriora) unterteilt. Die Hinterhörner empfangen sensible (afferente) Nervenfasern, während die Vorderhörner motorische (efferente) Nervenfasern aussenden. Diese Fasern vereinigen sich zu Spinalnerven, die das Rückenmarksegment verlassen.
Das Rückenmark ist von drei Häuten umgeben: der weichen Rückenmarkshaut (Pia mater spinalis), der Spinnwebhaut (Arachnoidea spinalis) und der harten Rückenmarkshaut (Dura mater spinalis). Zwischen den inneren beiden Häuten befindet sich ein mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum, der eine Dämpfungs- und Schutzfunktion hat.
Funktionen des Rückenmarks
Das Rückenmark erfüllt zwei Hauptaufgaben:
- Weiterleitung von Informationen: Es leitet sensorische Informationen vom Körper zum Gehirn und motorische Befehle vom Gehirn zum Körper.
- Verarbeitung von Reflexen: Es verarbeitet bestimmte Reize im Reflexbogen, ohne dass eine Beteiligung des Gehirns erforderlich ist.
Klinische Bedeutung von Reflexen
Die Untersuchung von Reflexen ist ein wichtiger Bestandteil der neurologischen Untersuchung. Abweichungen von der Norm können auf Schädigungen des Nervensystems hinweisen.
Areflexie
Das Fehlen von Reflexen (Areflexie) kann ein Hinweis auf eine Schädigung des peripheren Nervensystems sein, z. B. bei Polyneuropathien, Rückenmarksverletzungen oder dem Guillain-Barré-Syndrom.
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Hyperreflexie
Eine übermäßige Steigerung der Reflexe (Hyperreflexie) deutet oft auf eine Schädigung des zentralen Nervensystems hin, z. B. bei Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Rückenmarksschädigungen. Charakteristisch sind intensivere oder länger anhaltende Reflexe sowie unwillkürliche Muskelzuckungen (Kloni).
Pathologische Reflexe
Das Auftreten von Reflexen, die bei gesunden Menschen nicht vorkommen, wird als pathologischer Reflex bezeichnet. Ein Beispiel ist der Babinski-Reflex bei Erwachsenen, der auf eine Schädigung der Pyramidenbahn hinweisen kann.
Beispiele für wichtige Reflexe
- Kniesehnenreflex (Patellarsehnenreflex): Ein Eigenreflex, der durch einen Schlag auf die Kniesehne ausgelöst wird und zur Streckung des Unterschenkels führt. Er dient der Aufrechterhaltung der Muskelspannung und der Stabilität des Kniegelenks.
- Achillessehnenreflex: Ein Eigenreflex, der durch einen Schlag auf die Achillessehne ausgelöst wird und zur Plantarflexion des Fußes führt.
- Bizepssehnenreflex: Ein Eigenreflex, der durch einen Schlag auf die Bizepssehne ausgelöst wird und zur Beugung des Arms im Ellenbogengelenk führt.
- Rückziehreflex: Ein Fremdreflex, der durch einen schmerzhaften Reiz (z. B. einen Stich) ausgelöst wird und zum Zurückziehen des betroffenen Körperteils führt.
- Lidschlussreflex: Ein Fremdreflex, der durch eine plötzliche Annäherung eines Objekts an das Auge oder durch einen Luftstoß ausgelöst wird und zum Schließen des Augenlids führt.
- Hustenreflex: Ein Fremdreflex, der durch Reizung der Atemwege ausgelöst wird und zur Freihaltung der Atemwege von Schleim oder Fremdkörpern dient.
- Blasenentleerungsreflex: Ein viszeraler Reflex, der durch Dehnung der Blasenwand ausgelöst wird und zur Entleerung der Blase führt.
- Moro-Reflex: Ein frühkindlicher Reflex, der bei Neugeborenen durch plötzliche Lageveränderungen oder laute Geräusche ausgelöst wird und sich durch ein ruckartiges Ausbreiten der Arme mit anschließender Umklammerungsbewegung zeigt.
- Greifreflex: Ein frühkindlicher Reflex, der durch Druck auf die Handinnenfläche ausgelöst wird und zum reflexartigen Greifen führt.
- Suchreflex: Ein frühkindlicher Reflex, der durch Berührung des Mundwinkels ausgelöst wird und dazu führt, dass das Baby den Kopf dreht und den Mund öffnet, um die Brust oder Flasche zu finden.
Die Bedeutung der Reflexhemmung
Die Hemmung von Reflexen spielt eine wichtige Rolle bei der Koordination von Bewegungen und der Vermeidung von Überreaktionen. Beispielsweise wird beim Kniesehnenreflex die Kontraktion des Oberschenkelstreckers durch die gleichzeitige Hemmung des Oberschenkelbeugers ermöglicht. Diese Hemmung wird durch Interneurone im Rückenmark vermittelt, die die Aktivität der Motoneurone, die den Beuger innervieren, reduzieren.
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