Lange Zeit ging man davon aus, dass die wesentlichen Aspekte der Gehirnentwicklung in der Kindheit abgeschlossen sind. Neueste Studien zeigen jedoch, dass die Jugend eine weitere kritische Phase der Gehirnentwicklung darstellt, die sich bis ins frühe Erwachsenenalter ausdehnt. Diese Umstrukturierung des Gehirns wirkt sich bei Jugendlichen auch auf ihr Verhalten aus, das häufig geprägt ist von der Suche nach neuen Erfahrungen. Dies schließt auch riskante Verhaltensweisen ein wie beispielsweise Drogenkonsum. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Phasen der Gehirnreifung, die damit verbundenen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf das Verhalten von Jugendlichen.
Die Gehirnentwicklung in der Pubertät: Eine "Großbaustelle"
Früher dachten Wissenschaftler, dass Kinder bereits in jungen Jahren ein voll entwickeltes Gehirn haben. Diese Annahme ist heute überholt. Im Kindes- und Jugendalter gleicht unser Gehirn einer Großbaustelle, wo sich viele Bausteine neu zusammensetzen oder überhaupt erst entwickeln. US-Wissenschaftler der Washington University haben herausgefunden, dass von Kindheit an bis hinein in die Pubertät bis zu 120 Milliarden Nervenzellen verdrahtet werden - und wie sich diese verknüpfen, das hängt maßgeblich vom Erfahrungs- und Informationsschatz des Kindes ab. Die kindliche Neugier und das Ausloten von Grenzen im Jugendalter wird Neurologen zufolge hauptsächlich durch den Wissenstrieb im Gehirn gesteuert. Es wird aktiver, leistungsfähiger und effizienter. Aber alles auf einmal stemmen, das kann es nicht. Und so geraten manche Teile des Gehirns ins Hintertreffen, während sich andere in den Vordergrund drängeln. Eine Reizüberflutung, mit der Teenager wie Leon erst einmal überfordert sind.
Rückbau der grauen Substanz
Ein wichtiger Prozess der Gehirnentwicklung ist der Rückbau und die Neustrukturierung der so genannten grauen Substanz. Die befindet sich vor allem in der Hirnrinde, der äußeren Schicht des Gehirns. Die graue Substanz besteht überwiegend aus Nervenzellkörpern, die wegen ihrer grauen Färbung ihren Namen erhalten hat. Bis zum Alter von etwa 12 bis 14 Jahren nimmt die graue Substanz zu und danach wieder ab. Die Hirnrinde wird infolge des Abbaus dünner. Dieser Vorgang ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer effizienten Struktur. Der Reifeprozess geschieht auf der Basis der Erfahrungen, die Jugendliche machen. Das bedeutet, es bleiben jene Nervenzellen und deren Verbindungen, die häufig verwendet werden. Netzwerke, die nicht so intensiv genutzt werden, werden hingegen zurückgebaut.
Aufbau der weißen Substanz
Gleichzeitig werden unterschiedliche Hirnareale stärker miteinander vernetzt. Die Vernetzung erfolgt über Nervenfasern, die als Axone bezeichnet werden. Ein wichtiger Prozess im Rahmen der Vernetzung ist die so genannte Myelinisierung. Myelin ist eine Substanz, die aus Fetten und Proteinen besteht und sich als isolierende Schicht um die Nervenfasern wickelt. Ebenso wie die Isolation eines Stromkabels einen störungsfreien Stromfluss ermöglicht, verbessern myelinisierte Nervenbahnen die Signalübertragung und erhöhen dadurch die kognitiven Fähigkeiten der Person. Myelinisierte Nerven werden auch als weiße Substanz bezeichnet, weil Myelin weiß erscheint. Der Anteil an weißer Substanz nimmt von der Kindheit bis in das frühe Erwachsenenalter hinein an Volumen zu. Es wird vermutet, dass die Veränderung der weißen Substanz primär auf die fortschreitende Myelinisierung der Axone durch Oligodendrozyten zurückzuführen ist. Insgesamt verläuft die Myelinisierung von inferioren zu superioren Hirnarealen und dabei tendenziell von posterior nach anterior.
Asynchrone Entwicklung und Risikoverhalten
Bis ins junge Erwachsenenalter findet ein wichtiger neuronaler Reifungsprozess vor allem im präfrontalen Cortex statt. Diese Hirnregion ist unter anderem für die langfristige Planung und die Hemmung impulsiver Reaktionen zuständig. Im präfrontalen Cortex waltet gewissermaßen die innere Stimme der Vernunft, die zur Mäßigung aufruft. Eine weitere Hirnregion, die stark vom neuronalen Umbau betroffen ist, ist das limbische System, auch bekannt als Belohnungssystem. Während der Umbaumaßnahmen reifen die Hirnregionen jedoch nicht gleichzeitig heran. Die Entwicklung verläuft asynchron. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten hierin den zentralen Grund für die gesteigerte Risikofreudigkeit von Jugendlichen. Denn während sich das Belohnungssystem früh in der Pubertät ausbildet und emotionale Prozesse in den Vordergrund treten, bleibt die rationale Steuerung durch den präfrontalen Cortex noch längere Zeit auf dem Stand eines Kindes. Die Fähigkeit, kurz- und längerfristige Effekte des eigenen Handelns bewerten zu können und aufkommende Impulse zu kontrollieren, bilden sich dadurch erst im frühen Erwachsenenalter richtig aus. Jugendliche haben daher stärker das Bedürfnis, neue Erfahrungen zu sammeln. Für die Entwicklung der Selbstständigkeit und zur Abgrenzung gegenüber den eigenen Eltern ist das sogenannte „Sensation Seeking“, die Suche nach neuen, aufregenden Erfahrungen durchaus sinnvoll. Die jugendliche Risikofreude verstärkt aber auch die Gefahr, Drogen auszuprobieren und beim Alkoholkonsum über die Stränge zu schlagen.
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Neurobiologisches Modell zur Erklärung von typischem Verhalten in der Adoleszenz
Eines der aktuell einflussreichsten neurobiologischen Modelle zur Erklärung von typischem Verhalten bei Adoleszenten wurde von der New Yorker Arbeitsgruppe um Casey entwickelt. Basierend auf neuroanatomischen Befunden und funktionellen Bildgebungsstudien geht dieses Modell davon aus, dass es bei Jugendlichen durch eine vergleichsweise frühe Reifung subkortikaler Hirnareale und eine verzögerte Reifung präfrontaler Kontrollareale zu einem Ungleichgewicht kommt, so dass bei Jugendlichen in emotionalen Situationen das weiter gereifte limbische System sowie das Reward-System sozusagen die Oberhand über das noch nicht ausgereifte präfrontale Kontrollsystem gewinnen. Dabei sollte beachtet werden, dass Adoleszente nicht per se unfähig sind, rationale Entscheidungen zu treffen, sondern dass in emotionalen Situationen (zum Beispiel bei Anwesenheit von Gleichaltrigen, bei Aussicht auf Belohnung) die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass Belohnung und Emotionen stärker die Handlung beeinflussen als rationale Entscheidungsprozesse.
Einfluss von Gleichaltrigen auf Risikoverhalten
So konnte gezeigt werden, dass Jugendliche in Fragebögen Risiken von bestimmten Verhaltensweisen ähnlich gut abschätzen konnten wie Erwachsene. Wurden jedoch ökologisch valide Verhaltenstests durchgeführt, so wurde deutlich, dass Jugendliche in Gruppen mehr risikoreiche Entscheidungen trafen. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass in diesem Alter der Nutzen der risikoreichen Handlung durch die soziale Anerkennung von Freunden sehr viel höher bewertet wird. Das könnte auf neuronaler Ebene mit dem nichtlinearen Reifungsmuster von präfrontalen und limbischen Hirnarealen assoziiert sein. In Übereinstimmung hiermit haben Ergebnisse der Präventionsforschung ergeben, dass Präventionsprogramme, die primär auf Wissensvermittlung hinsichtlich möglicher Gefahren und Risiken basieren, weniger effektiv waren als solche Programme, die den Aspekt des individuellen Nutzens thematisierten und mit sozialen Kompetenz- und Widerstandstrainings kombiniert wurden.
Die Rolle der Hormone
Der Hypothalamus, ein wichtiger Teil unseres Zwischenhirns, erwacht in der Pubertät zu neuem Leben: Über ihn werden sogenannte Gonadotropine freigesetzt: Hormone, welche die Produktion von Sexualhormonen im Körper anregen. Neben körperlichen Veränderungen wie wachsenden Brüsten oder Intimbehaarung dreht sich mit einmal auch im Kopf alles um Sexualität, Liebe und das Geschlecht. Das führt in der Folge häufig zu Unsicherheiten und Verletzlichkeit, denn junge Menschen fangen an, sich mit anderen zu vergleichen, Gefühle für jemanden zu entwickeln - und Signale von Mitmenschen bewusster wahrzunehmen. Die Hausaufgaben für den nächsten Schultag oder die Bitte der Eltern, doch bitte endlich das Zimmer aufzuräumen, geraten dadurch gerne mal in Vergessenheit. Das überrascht nicht, denn während die Amygdala, der Teil des Gehirns für Emotionen und Gefühle, in der Pubertät schon vollständig entwickelt ist, steckt der präfrontale Kortex, verantwortlich für rationale Entscheidungen, Planung und Impulskontrolle, noch mitten in der Findungsphase.
Das Teenagerhirn und psychische Gesundheit
Dieses Ungleichgewicht im Gehirn freut besonders die Botenstoffe, die unser Gemüt beeinflussen. Dopamin, auch Glückshormon genannt, wird in der Pubertät zum Beispiel vermehrt und häufig unkontrolliert ausgeschüttet - ohne, dass das Gehirn im Ausnahmezustand regulierend und stark darauf einwirken kann. Neue und gute Erfahrungen, Entdeckungen und Ausbrüche aus der Normalität stärken den Ausschuss von Dopamin. Drogen wie Alkohol und Rauchen erweisen sich für Teenager besonders reizvoll, da sie das Belohnungssystem von Dopamin aktivieren - genau deshalb ist das Alter von 12 bis 18 Jahren laut Wissenschaftlern aber auch so gefährlich. Denn viele psychische Krankheiten wie Sucht, Depressionen, Essstörungen oder Angsterkrankungen bahnen sich häufig während der Umbauphase des Gehirns im Jugendalter an. Ein Bereich im Gehirn, der sich bei Jugendlichen großen Umstrukturierungen unterzieht, ist das Frontalhirn. Es liegt direkt hinter der Stirn und ist Bestandteil des erwähnten präfrontalen Kortex. Seine Aufgaben liegen in der Vernunft, Moral und Ethik sowie dem logischen Denken. Problem ist nur: Während der Wachstumsphase des Gehirns liegt dieser Bereich ganz am Ende der Wachstumskette. Junge Menschen wie Leon sind sich der Konsequenzen ihres Handelns daher oft nicht bewusst, denken gar nicht erst darüber nach - oder es fehlt ihnen schlichtweg die Erfahrung.
Unterstützung für pubertierende Kinder
Die Pubertät ist für Jugendliche eine schwierige Zeit. Eltern können dabei helfen, ihren Kindern authentisch und selbstbewusst den Weg zu weisen - und sie bei ihren Erfahrungen und Veränderungen unterstützen. Eine kanadische Studie hat ergeben, dass sich mehr als 70 Prozent aller Pubertierenden Eltern mit Vorbildcharakter wünschen (auch wenn sie es vielleicht nicht offen zugeben). Wie Eltern das gelingt?
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Aufklärung betreiben
Früher oder später landet das Thema Sexualität zwischen Eltern und Kind auf dem Tisch. Mit dem Kind offen darüber zu reden, verringert die Wahrscheinlichkeit, dass sich emotionale Blockaden bilden. Im Gegenteil: Regelmäßig die Gefühle des Pubertierenden zu erörtern, kann beiden Parteien helfen, einander besser zu verstehen.
Feste Regeln einhalten
Bei der Aufforderung, am Wochenende den Rasen zu mähen oder das Wohnzimmer zu saugen, stoßen Eltern häufig auf Widerstand. Trotzdem: Klare Anweisungen und geregelte Anforderungen an das Kind helfen ihm dabei, sich in der Welt Verpflichtungen zu stellen, geregelte Abläufe einzuhalten und damit entgegen seiner Gefühlswelt Verantwortung zu übernehmen. Zu den Regeln gehört aber auch, dem Kind Freiheiten zu lassen - wie etwa eine gesicherte Privatsphäre.
Streit lösen
Bei Widerständen und launischem Verhalten des Kindes bleiben Streitereien nicht aus. Wichtig ist es, als autoritärer Elternteil die Oberhand zu behalten, ohne dabei handgreiflich zu werden. Am meisten lernt das Kind, wenn stattdessen gemeinsam eine Lösung gefunden und der Streit nicht langfristig fortgeführt wird.
Vergesslichkeit akzeptieren
Wenn das Kind auf dem Weg in die Küche schon wieder vergessen hat, dass es eigentlich den Müll rausbringen soll, ist das nicht immer böser Wille: Während der Pubertät fällt einiges aus dem gedanklichen Raster. Wichtig ist es, von Elternseite keinen zusätzlichen Druck oder Stress aufzubauen - sondern gemeinsam Konzepte, wie zum Beispiel Wochenpläne, zu entwickeln.
Ein schrittweiser Prozess
All diese Prozesse und Neusortierungen im Gehirn passieren nicht von heute auf morgen. Die Pubertät verläuft eher schleichend und kann bis zu sechs Jahre dauern. Erst dann erhebt sich aus der Großbaustelle Gehirn ein vollständig entwickeltes Organ. Dafür sorgt außerdem eine groß angelegte und radikale Aufräumaktion: Was junge Menschen im Kindheits- und Pubertätsalter lernen, was sie erfahren und aufnehmen, wird im Gehirn gespeichert. Was sich an Nervenbahnen verknüpft hat, bleibt bestehen - andere, nicht verwendete Stränge werden gekappt und gehen verloren. Nach turbulenten und wilden Jahren der Reizüberflutung und Stimmungsschwankungen befreit sich das Gehirn im Laufe der Pubertät von Altlasten, um so sprichwörtlich den Kopf freizubekommen. Sind die die Nervenbahnen erst einmal verdrahtet und das Frontalhirn entwickelt, wächst aus der pubertären Phase ein erwachsener Mensch: Verstand und Impuls- sowie Emotionskontrollen haben sich im wahrsten Sinne gefestigt. Das Gehirn ist geordnet und um die gespeicherten Nervenstränge legt sich eine isolierende Hülle, die die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns um ein Vielfaches erhöht. Mehrere Studien belegen, dass der Mensch die größtmögliche und schnellste Denkgeschwindigkeit nach der Pubertät im Alter von etwa 20 Jahren besitzt.
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Die Adoleszenz: Mehr als nur physische Reifung
Die Adoleszenz beschreibt den Lebensabschnitt zwischen der späten Kindheit und dem Erwachsenenalter. Sie umfasst nicht nur die physische Reifung, sondern vor allem auch die seelische und psychische Entwicklung zum selbstständigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen. Zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz gehören die Aufnahme und der Aufbau intimer Beziehungen, die Entwicklung von Identität, Zukunftsperspektiven, Selbstständigkeit, Selbstsicherheit, Selbstkontrolle und von sozialen Kompetenzen. Das Verhalten von vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist oft gekennzeichnet durch eine erhöhte Risikobereitschaft und Lust an extremen Gefühlen. Dies schlägt sich auch in den Statistiken nieder, die zeigen, dass riskantes Verhalten in der Adoleszenz mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko verbunden ist. So machen in Deutschland tödliche Verletzungen 62 % aller Todesfälle bei Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren aus. Zu den häufigsten Todesursachen zählen Verkehrs- und andere Unfälle, Gewalt sowie Selbstverletzungen. Als Grund für die hohe Mortalität werden Alkohol am Steuer, Fahren ohne Sicherheitsgurt, Tragen von Waffen, Substanzabusus und ungeschützter Geschlechtsverkehr genannt.
Vergleich Mädchen und Jungen
Wie der Tabelle zu entnehmen ist, zeigen Jungen und Mädchen ähnlich häufig risikoreiche Verhaltensweisen. So haben sich Jungen und Mädchen in der Häufigkeit des Tabakrauchens in den letzten Jahren mehr und mehr angeglichen, allerdings zeigen sich gewisse qualitative Unterschiede (Jungen rauchen mehr Zigaretten und zudem häufiger „harte“ Tabakprodukte wie zum Beispiel Zigarren, schwarzer Tabak und filterlose Zigaretten). Auch beim Alkoholkonsum zeigt sich, dass Jungen andere Getränke zu sich nehmen (Bier und Spirituosen gegenüber Wein und Sekt et cetera). Jungen konsumieren auch häufiger und größere Mengen an Alkohol. Illegale Drogen werden häufiger von Jungen genommen. Jungen weisen eine erhöhte Unfallhäufigkeit und ein riskanteres Verhalten im Straßenverkehr auf. Mädchen sind hingegen im Bereich Ernährung häufiger von gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen betroffen (zum Beispiel Diäten und Essstörungen).
Hirnstruktur und Funktion in der Adoleszenz
Das Gehirn ist relativ früh nach der Geburt ausgewachsen, das heißt, das maximale kortikale Gesamtvolumen ist dann erreicht. Dennoch finden wichtige Reifungsprozesse in der anatomischen Struktur in der Adoleszenz statt, wie strukturelle Bildgebungsstudien zeigen konnten. Die Reifung der grauen Substanz verläuft im Gehirn sozusagen von hinten nach vorne: Zuerst in der Entwicklung wird das Maximum der Dichte der grauen Substanz im primären sensomotorischen Kortex erreicht, zuletzt in höheren Assoziationsarealen, wie dem dorsolateralen präfrontalen Kortex, dem inferioren parietalen und dem superioren temporalen Gyrus. Das bedeutet, dass insbesondere Hirnareale wie der präfrontale Kortex - der für höhere kognitive Funktionen wie etwa die Handlungskontrolle, das Planen oder die Risikoabschätzung von Entscheidungen verantwortlich ist - später reift als jene Kortexareale, die mit sensorischen oder motorischen Leistungen assoziiert sind. Post-mortem-Studien lassen vermuten, dass diese Veränderungen der grauen Substanz auf synaptische Pruning-Prozesse zurückzuführen sind. In den ersten Lebensjahren wird zunächst eine Vielzahl von Synapsen gebildet, deren Zahl dann in der Adoleszenz reduziert wird. Dies geschieht nach erfahrungsabhängigen Prozessen, das heißt, nur die Synapsen bleiben erhalten, die häufig „verwendet“ werden. Allerdings gibt es auch eine Reihe anderer zellulärer Mechanismen, die Veränderungen der grauen Substanz in dieser Lebensphase erklären könnten, zum Beispiel die Reduktion der Gliazellen beziehungsweise die Zunahme der Myelinisierung.
Die beschriebenen anatomischen Reorganisationsprozesse des adoleszenten Gehirns sind mit tiefgreifenden emotionalen und kognitiven Veränderungen verbunden. Insbesondere kommt es zu einer Weiterentwicklung von exekutiven Funktionen - also von kognitiven Prozessen, die das Denken und Handeln kontrollieren und somit eine flexible Anpassung an neue, komplexe Aufgabensituationen ermöglichen. Neben der Entwicklung dieser grundlegenden kognitiven Fähigkeiten, kommt es während der Adoleszenz auch zu Veränderungen sozial-affektiver Fähigkeiten wie der Gesichtererkennung, der Theory of Mind (der Fähigkeit, sich in den mentalen Zustand von anderen hineinzuversetzen) und der Empathie. Auf neuronaler Ebene konnten Bildgebungsstudien zur funktionellen Hirnentwicklung nachweisen, dass Kinder und Jugendliche häufig ein breiteres, weniger fokales Aktivierungsmuster zeigen als Erwachsene, und dass mit zunehmendem Alter die effektive Rekrutierung von neuronalen Ressourcen zunimmt und die neuronale Aktivität außerhalb aufgabenrelevanter Hirnregionen abnimmt. Welchen Anteil erfahrungsabhängige versus biologisch determinierte Einflussvariablen auf dieses neuronale Entwicklungsmuster haben, ist derzeit noch nicht geklärt. Bildgebungsstudien legten ferner dar, dass Jugendliche in emotionalen Situationen eine erhöhte Aktivität in limbischen Arealen aufweisen. So zeigten Galvan und Kollegen, dass Jugendliche, im Vergleich zu Kindern und Erwachsenen, bei der Antizipation von Belohnung durch eine erhöhte Aktivität im Nucleus accumbens charakterisiert sind. Interessanterweise konnte die gleiche Arbeitsgruppe belegen, dass eine positive Assoziation zwischen der Aktivierung im Nucleus accumbens und der individuellen Risikoneigung der Jugendlichen besteht. Darüber hinaus konnte durch anatomische und funktionelle Bildgebungsstudien eine verstärkte Vernetzung des präfrontalen Kortex mit sensorischen und subkortikalen Strukturen während der Adoleszenz gezeigt werden, die für einen verstärkten Einfluss frontaler Hirnregionen bei kognitiven und affektiven Prozessen spricht. Dennoch sollte die Entwicklung kognitiver und affektiver Schaltkreise nicht nur als eine Bedingung struktureller neurobiologischer Reifung betrachtet werden, sondern genetische Faktoren interagieren vermutlich sehr stark mit Umweltanforderungen. So werden zum Beispiel die Affektregulation und die zugrunde liegenden Hirnstrukturen durch die Eltern-Kind-Interaktion beeinflusst.
Ein weiterer Befund, der auf eine tiefgreifende Reorganisation der Schaltkreise in der Adoleszenz hindeutet, sind Studien mit elektrophysiologischen Methoden, wie beispielsweise der Elektroenzephalographie (EEG), die Veränderungen in der Entwicklung von hochfrequenten und synchronen Hirnwellen untersucht haben. Die Gehirnentwicklung in der Adoleszenz ist verbunden mit einer Abnahme von oszillatorischer Aktivität im Delta- (0-3 Hz) und Thetaband (4-7 Hz) im Ruhezustand, während Oszillationen im Alpha- (8-12 Hz) und Betaband (13-30 Hz) zunehmen. Bei aufgabenabhängigen Oszillationen nimmt die Genauigkeit der Synchronisation oszillatorischer Aktivität im Theta-, Alpha- und Betaband zu. Die späte Entwicklung von synchronisierten Oszillationen während der Adoleszenz steht dabei in engem Zusammenhang mit strukturellen oder anatomischen Reifungsprozessen sowie grundlegenden Veränderungen in Neurotransmittersystemen, die in den letzten Jahren verstärkt erforscht wurden.
Evolutionäre Perspektive
Eine interessante Frage ist die Funktion dieses vorübergehenden Ungleichgewichts zwischen kortikalen und subkortikalen Hirnstrukturen. Aus evolutionärer Sicht ist die Adoleszenz eine Entwicklungsperiode, in der Jugendliche zur Unabhängigkeit gelangen. Diese Entwicklung ist nicht spezifisch für den Menschen. Verstärktes Neugierverhalten („Novelty-Seeking“) und eine Zunahme an sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen kann in verschiedenen Spezies beobachtet werden. Risikoreiches Verhalten in der Adoleszenz, das als Produkt eines biologischen Ungleichgewichts zwischen der Suche nach Abwechslung und neuen Erlebnissen („sensation seeking“) und unreifen selbstregulatorischen Fähigkeiten gesehen werden kann, mag das Ziel haben, dass Jugendliche sich aus der familiären Sicherheitsnische lösen können, um zum Beispiel einen Partner außerhalb der Primärfamilie zu suchen. Ebenfalls scheint der noch unreife präfontale Kortex bestimmte Lernformen und Flexibilität zu begünstigen. Es ist in der Tat wahrscheinlich, dass über die Lebensspanne mehrere Entwicklungsfenster existieren, in denen unser Gehirn besonders auf bestimmte Lernerfahrungen vorbereitet ist. Von daher könnte es evolutionär sinnvoll sein, dass während der Adoleszenz ein kognitiver Stil, der besonders sensitiv für sozial-affektive Reize und flexibel hinsichtlich der Anpassung von Zielprioritäten ist, optimal für die sozialen Entwicklungsaufgaben ist.