Risiko Kindheit: Entwicklung des Gehirns, Resilienz und die Bedeutung früher Erfahrungen

Die frühe Kindheit ist eine entscheidende Phase für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Erfahrungen in dieser Zeit prägen uns fürs Leben und beeinflussen unsere Persönlichkeit, unsere psychische Gesundheit und unsere Fähigkeit, mit Stress umzugehen. Das Buch »Risiko Kindheit« von Neurobiologin Nicole Strüber widmet sich diesen komplexen Zusammenhängen und beleuchtet, wie Risikofaktoren in der Kindheit die Entwicklung des Gehirns negativ beeinflussen können. Gleichzeitig zeigt es auf, wie Resilienz gefördert und negative Auswirkungen im Erwachsenenleben behoben werden können.

Die prägende Kraft früher Erfahrungen

Frühe Erfahrungen haben einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns. Armut, traumatisierte oder depressive Eltern, Scheidung, Flucht, emotionale Vernachlässigung und überfüllte Kitas sind nur einige der Risiken, die die Entwicklung des kindlichen Gehirns und die Reifung von Persönlichkeit und Psyche negativ beeinflussen können. Diese Einflüsse können sich sogar über Generationen hinweg auswirken.

Nicole Strüber verknüpft in ihrem Buch aktuelle internationale Forschungsergebnisse und erklärt in verständlicher Sprache, warum diese Risiken das Auftreten psychischer Probleme begünstigen. Sie zeigt auf, wie frühe Erfahrungen die Hirnstruktur prägen und langfristig zu einem Ungleichgewicht führen können.

Die Rolle von Kortisol und Stress

Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von psychischen Problemen aufgrund von Stress in der Kindheit ist das Hormon Kortisol. Unter akuter Belastung steigt der Kortisolspiegel im Blut normalerweise an, sinkt aber wieder, sobald die Situation überstanden ist. Bei Kindern, die übermäßigem Stress ausgesetzt sind, kann es jedoch zu einem langfristigen Ungleichgewicht kommen. Studien zeigen, dass Menschen mit extremen und lang anhaltenden Stresserfahrungen oder Traumata in der frühen Kindheit oft auffallend niedrige Kortisolwerte aufweisen.

Diese Anpassung kann kurzfristig helfen, unkontrollierbare Umstände besser zu ertragen, wirkt sich aber langfristig nachteilig aus. Starker, anhaltender Stress kann die Hirnstruktur eines Kindes ungünstig prägen. Ein Zuviel an Kortisol schädigt Nervenzellen und beeinträchtigt beispielsweise den Hippocampus, der für das Abspeichern von Erinnerungen wichtig ist. Dieser Mechanismus kann dazu führen, dass belastende Kindheitserfahrungen psychische Erkrankungen begünstigen, da er es erschwert, positive Erinnerungen abzuspeichern.

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Risikofaktoren im Detail

Strüber geht in ihrem Buch auf zahlreiche problematische Umstände ein, die bei Kindern Stressreaktionen auslösen können:

  • Kaiserschnitt: Auch die Art der Geburt kann eine Rolle spielen.
  • Überforderte Eltern: Eltern, die selbst unter Stress stehen, können ihren Kindern möglicherweise nicht die nötige Unterstützung bieten.
  • Scheidung: Die Trennung der Eltern ist für Kinder oft eine belastende Erfahrung.
  • Traumata: Vernachlässigung, sexueller oder psychischer Missbrauch können tiefe Wunden hinterlassen.
  • Armut: Materielle Not kann zu Stress und Unsicherheit führen.
  • Flucht: Kinder, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, sind oft traumatisiert.

Die Autorin thematisiert auch die Bedeutung der Epigenetik. Studien weisen darauf hin, dass manche Folgen von Traumata sogar von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können.

Ein weiterer Risikofaktor, der in »Risiko Kindheit« thematisiert wird, ist die frühe Krippenbetreuung. Strüber betont jedoch, dass nicht die Krippenbetreuung an sich ein Risiko darstellt, sondern die Qualität der Betreuung. Nur mit einem guten Personalschlüssel und feinfühligen Bezugspersonen können Kinder eine sichere Bindung aufbauen.

Der Risikofaktor Eltern

Eltern spielen eine entscheidende Rolle im Leben eines Kindes. Sie sollen das Kind vor Stress schützen und Trost spenden, wenn es ängstlich, enttäuscht, frustriert oder wütend ist. Aus unterschiedlichen Gründen können dies manche Eltern jedoch nicht leisten. Strüber geht auf verschiedene Aspekte ein:

  • Peripartale Depression: Mütter, die nach der Geburt an einer Depression leiden, können sich möglicherweise nicht ausreichend um ihr Kind kümmern.
  • Traumatisierte Eltern: Eltern, die selbst traumatische Erfahrungen gemacht haben, können diese möglicherweise unbewusst an ihre Kinder weitergeben.
  • Chronisch gestresste Eltern: Eltern, die ständig unter Stress stehen, können ihren Kindern möglicherweise nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken.
  • Psychische Misshandlung und Vernachlässigung: Diese Formen der Gewalt haben gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes.
  • Körperliche Misshandlung: Körperliche Gewalt ist eine traumatische Erfahrung, die langfristige Folgen haben kann.
  • Drogensucht: Eltern mit Suchtproblemen sind oft nicht in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern.
  • Scheidung: Die Trennung der Eltern ist für Kinder oft eine belastende Erfahrung.

Strüber macht deutlich, dass häufig mehrere Risikofaktoren zusammenkommen und sich gegenseitig verstärken können.

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Resilienz: Die psychische Widerstandsfähigkeit

Trotz der potenziellen Risiken betont Strüber, dass Kinder nicht hilflos ihren Lebensumständen ausgeliefert sind. Ein zentrales Thema des Buches ist die Resilienz, die psychische Widerstandsfähigkeit.

Eine gute Bindung zu einer Bezugsperson kann viele Risikofaktoren ausgleichen. Strüber widmet sich der Frage, was Kinder kennzeichnet, die Stress gut überstehen und von Natur aus resilient sind. Sie thematisiert die Rolle der Gene, die Schwangerschaft und Genvarianten, die Auswirkungen auf die Vulnerabilität bzw. die Resilienz haben. Dabei werden auch die Gen-Umwelt-Wechselwirkungen deutlich: Gene beeinflussen, wie wichtig die Umwelt ist, und die Umwelt legt fest, wie wichtig die Gene sind. Die Umwelt beeinflusst auch, wie aktiv Gene sind.

Strüber unterscheidet zwischen „Orchideenkinder“ und „Löwenzahnkinder“. Orchideenkinder entwickeln sich nur in sehr guten Verhältnissen gut, während Löwenzahnkinder auch unter schwierigen Verhältnissen widerstandsfähig sind. Der beste Schutzfaktor ist eine sichere Bindung, aber auch positive Körpererfahrungen spielen eine wichtige Rolle.

Auswege und Therapieansätze

Auch wenn frühe Erfahrungen prägend sind, gibt es Auswege in der weiteren Kindheit und im Erwachsenenleben. Strüber unterscheidet zwischen kritischen und sensiblen Perioden, wobei letztere in der menschlichen Entwicklung eher zutreffen. Sie erläutert dies anhand von Erkenntnissen zur Entwicklung von Waisenkindern und an Untersuchungen zur Entwicklung für die Psyche relevanter neuronaler Netzwerke.

Als Auswege im Kindesalter werden Programme zur Erhöhung der Feinfühligkeit der Eltern (SAFE, STEEP) benannt sowie die Unterstützung von Pflege- und Adoptivfamilien, damit die Kinder wichtige Erfahrungen nachholen können. Wichtig ist dabei, dass das Umfeld stabil und vorhersehbar sein muss. Auch im Erwachsenenalter gibt es Möglichkeiten, negative Auswirkungen früher Erfahrungen zu beheben, beispielsweise durch Psychotherapie.

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