Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit Demenz stellen eine erhebliche Herausforderung in der Langzeitpflege dar. Antipsychotika, insbesondere Risperidon, werden häufig eingesetzt, um diese Verhaltensweisen zu kontrollieren, obwohl der Nutzen einer solchen Medikation fraglich und der potenzielle Schaden groß ist. Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Studienlage zur Langzeitbehandlung von Demenz mit Risperidon, betrachtet die damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen und diskutiert alternative Therapieansätze.
Das Problem der Antipsychotika-Verschreibung in Pflegeheimen
Seit Jahrzehnten weisen Analysen von Sekundärdaten der Kranken- und Pflegekassen auf hohe Verordnungszahlen von Antipsychotika in Pflegeheimen hin. Eine Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ergab beispielsweise, dass 40 Prozent der pflegebedürftigen Menschen mit Demenz in vollstationären Pflegeeinrichtungen mindestens ein Antipsychotikum erhielten. Trotz wiederholter Berichte in den Medien scheint das Problembewusstsein gering zu sein, und die Gabe von Psychopharmaka wird oft als notwendig oder sogar als Gnade betrachtet.
Insgesamt werden in deutschen Pflegeheimen bis zu 60 Prozent der Bewohner mit psychotrop wirksamen Medikamenten behandelt, darunter vorrangig Antipsychotika, aber auch Tranquilizer, Schlafmittel und Antidepressiva. Diese Medikamente werden oft eingesetzt, um die Menschen an selbstbestimmter Fortbewegung zu hindern, sie antriebslos und schläfrig zu machen. Insbesondere Antipsychotika stehen in der Kritik, da sie verschrieben werden, um sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz zu kontrollieren.
Risperidon: Zulassung und Anwendung
Mit der Zulassung von Risperidon für die Indikation Verhaltensstörungen bei Demenz schien man den Forderungen der Fachgesellschaften nach einer wirksamen und verträglichen Therapie einen Schritt näher gekommen zu sein. Die Daten von 4.499 dementen Patienten mit Verhaltensstörungen, die über acht Wochen lang in niedergelassenen Praxen mit Risperidon behandelt wurden, zeigten bereits nach zwei Wochen eine signifikante Besserung der dokumentierten Leitsymptome Erregung, Aggressivität, Schlaf-Wach-Rhythmus, sozialer Rückzug, krankhaftes Misstrauen und Wahn. Mehr als 90 Prozent der behandelnden Ärzte beurteilten den Zustand der Patienten unter Risperidon als deutlich besser (54 Prozent) oder besser.
Kurzzeitige Wirksamkeit vs. Langzeitrisiken
Gemäß Leitlinien dürfen Antipsychotika maximal zur Kurzzeitbehandlung eingesetzt werden, da sie schwere Nebenwirkungen haben können. Eine kurzfristige Antipsychotika-Behandlung (über sechs bis zwölf Wochen) mittels Risperidon, Olanzapin und Aripiprazol kann einer Studie zufolge bei schwerer Aggression zu einer geringfügigen Linderung dieser herausfordernden Verhaltensweise führen. Ein Nutzen im Hinblick auf andere herausfordernde Verhaltensweisen und auf eine längerfristige Therapie ist hingegen nicht erwiesen.
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Die Anwendung von Antipsychotika erfolgt bei Menschen mit Demenz zumeist im Off-Label Use, da die Medikamente für deren Hauptindikation mit jüngeren Patienten untersucht wurden und eben nicht für die Zielgruppe älterer Menschen mit demenziellen Veränderungen. Die Nebenwirkungen von Antipsychotika sind in der wissenschaftlichen Literatur hinreichend beschrieben. Sie können zu psychomotorischen Störungen führen und gehen mit einer erhöhten Sterblichkeit einher, bedingt durch kardiale Komplikationen und Infektionen sowie ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Weitere bekannte Nebenwirkungen sind eine Bewusstseinstrübung, Schwindel und ein erhöhtes Sturzrisiko sowie eine Verschlechterung der Kognition. Menschen mit Demenz sind besonders gefährdet.
Die Schattenseite der Langzeitbehandlung mit Risperidon
Die S3-Leitlinie zur Demenz (Stand 2016) betont ausdrücklich, dass die Gabe von Antipsychotika bei Patienten mit Demenz wahrscheinlich mit einem erhöhten Risiko für Mortalität und für zerebrovaskuläre Ereignisse assoziiert ist. Das Risiko ist in den ersten Behandlungswochen am höchsten, besteht aber wahrscheinlich auch in der Langzeitbehandlung. Es besteht ferner wahrscheinlich das Risiko für beschleunigte kognitive Verschlechterung durch die Gabe von AP bei Demenz.
Ein Cochrane-Review berichtet von einer Überlegenheit von Risperidon gegenüber Placebo in der Behandlung von Aggressivität und Agitation. Allerdings traten vermehrt zerebrovaskuläre Ereignisse, extrapyramidale Symptome und weitere Nebenwirkungen auf; die Drop-out-Raten und die Mortalität waren höher als unter Placebo. In einer weiteren Metaanalyse zeigte sich eine Wirksamkeit von Risperidon (0,5 bis 2 mg) und Aripiprazol (2,5 bis 15 mg) auf die Agitation, aber nicht von Olanzapin (1 bis 10 mg) und Quetiapin (25 bis 600 mg). Es kam vermehrt zu Somnolenz, Harnwegsinfektionen, Inkontinenz und zerebrovaskulären Ereignissen. Unter Risperidon und Olanzapin traten zusätzlich extrapyramidale Symptome und Verschlechterung des Gehens auf. Die kognitive Leistung verschlechterte sich unter allen Wirkstoffen. Das Mortalitätsrisiko stieg signifikant um den Faktor 1,54.
Personenzentrierte Pflege als Alternative
Der britische Theologe und Psychogerontologe Tom Kitwood entwickelte ab Mitte der 1980er-Jahre den Ansatz der person-centered care. Das Konzept der person-zentrierten Pflege und Betreuung zielt darauf ab, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu steigern und herausforderndes Verhalten zu reduzieren. Kitwoods Ansatz fokussiert nicht die krankheitsbedingte Beeinträchtigung, sondern die Individualität des Menschen mit Demenz. Pflegerische und therapeutische Maßnahmen sollen das Wohlbefinden des oder der Pflegebedürftigen und eine gelingende Beziehung zu den Mitmenschen in den Mittelpunkt stellen.
Leitlinien empfehlen primär psychosoziale und umgebungsmodifizierende Maßnahmen. Bei herausfordernden Verhaltensweisen haben sich nicht-pharmakologische Interventionen als wirksam erwiesen, die individuell auf die Person mit Demenz zugeschnitten sind. Dazu zählen unter anderem Angebote körperlicher Aktivität, aktive und rezeptive Musiktherapie, die Anwendung von Aromastoffen sowie multisensorische Verfahren. Ein Cochrane-Review, der die Wirksamkeit psychosozialer Interventionen zur Reduktion von Antipsychotika-Verordnungen in Pflegeheimen untersuchte, ergab: Eine Schulung und Unterstützung der in die Versorgung involvierten Personen hat positive Effekte.
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EPCentCare-Studie: Ernüchternde Ergebnisse
Ein vielversprechender britischer Ansatz wurde an die deutschen Verhältnisse angepasst und im Rahmen der großen kontrollierten Studie EPCentCare (Effekt person-zentrierter Pflege und Versorgung auf die Verschreibungshäufigkeit von Antipsychotika in Pflegeheimen) in Deutschland erprobt. Die Ergebnisse der Studie nach zwölf Monaten Beobachtungszeit waren jedoch enttäuschend. Der erhoffte Rückgang bei den Verordnungen blieb aus. In den Einrichtungen der Interventionsgruppe war der durchschnittliche Anteil der Menschen, die mindestens ein Antipsychotikum erhielten, bei Studienende sogar geringfügig gestiegen (von 44,6 auf 44,8 Prozent), während er in den Einrichtungen der Kontrollgruppe abgenommen hatte (von 39,8 auf 33,3 Prozent). Offenbar haben die Bewohner in der Interventionsgruppe nicht von dem person-zentrierten Ansatz profitiert.
Die EPCentCare-Studie zeigte große Unterschiede zwischen den Pflegeheimen hinsichtlich der Verschreibungsrate von Antipsychotika auf. Die Gründe dafür sind unklar. Es ist unwahrscheinlich, dass die Schulung von Pflegenden und Ärzten und der Appell an eben diese, die medizinischen Leitlinien beziehungsweise den besten internationalen Kenntnisstand umzusetzen, unter den gegebenen Bedingungen wirksam werden kann. Der massiven, nicht indizierten Verordnung von Antipsychotika ist so offenbar nicht beizukommen.
Ursachenforschung und Lösungsansätze
Die Gründe für die Diskrepanz zwischen Leitlinienempfehlungen und der tatsächlichen Verordnungspraxis sind vielfältig. Eine wichtige Rolle spielt die Organisationskultur in den Pflegeheimen. Um diese Kultur zu verändern, muss das medizinische und pflegerische Personal nicht-pharmakologische Ansätze stärker berücksichtigen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die hierfür erforderlichen Personal- und Zeitressourcen auch zur Verfügung stehen. Pflegende und Therapeuten verfügen oft nicht über die Kompetenz, herausfordernde Verhaltensweisen zu identifizieren.
Die Verschreibung von Antipsychotika muss ein Qualitätsaspekt werden, den der MDK im Rahmen seiner regelmäßigen Qualitätsprüfungen in den stationären Pflegeeinrichtungen kontrolliert. Die Verschreibungsraten müssen offengelegt werden. Möglicherweise könnten gut ausgebildete Heimärztinnen und -ärzte dazu beitragen, das Ziel Antipsychotika-freier Heime zu erreichen.
Neuroleptika-Einsatz in der psychiatrischen Praxis
Eine retrospektive Querschnittsstudie über den Einsatz verschiedener Medikamente als Regelarznei bei aggressiven und/oder unruhigen Demenzpatienten in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus der Pflichtversorgung ergab interessante Ergebnisse. Der Einsatz zugelassener Arzneistoffe wie Melperon, Zuclopenthixol und Risperidon war gering. Melperon wurde nur in Einzelfällen und Zuclopenthixol gar nicht eingesetzt. Das Nebenwirkungsprofil und die eher unzufrieden stellende Wirksamkeit dieser drei Arzneistoffe spielen dabei wahrscheinlich die größte Rolle. Für das fachgesellschaftlich empfohlene Risperidon gibt es in dieser Querschnittsstudie erste Hinweise für eine vergleichsweise geringere Eignung in der Langzeitbehandlung von verhaltensauffälligen Demenzpatienten. Der am häufigsten eingesetzte Arzneistoff war Prothipendyl, das weder eine Zulassung noch eine fachgesellschaftliche Empfehlung zur Behandlung von verhaltensauffälligen Demenzpatienten hat.
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Insgesamt kann festgestellt werden, dass trotz der Nichtbefolgung der fachgesellschaftlichen Empfehlungen der dauerhafte Behandlungserfolg in der vorliegenden Querschnittsstudie durchaus beachtlich ist. Dies deutet darauf hin, dass die Auswahl der Medikamente und die Behandlungsstrategien in der Praxis oft von den Empfehlungen abweichen, aber dennoch zu positiven Ergebnissen führen können.
Antidementiva und ihre Rolle bei Verhaltensstörungen
Acetylcholinesterase-Hemmer wie Galantamin, Rivastigmin und Donepezil sind Mittel der Wahl zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz. Bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz wirkt nur Memantin mit geringer Effektstärke positiv auf die Verhaltensstörungen.
In der aktualisierten S3-Leitlinie zur Diagnostik, Behandlung und Prävention von Demenzen ist die Aussage zur Langzeitbehandlung mit Antidementiva konkretisiert worden. Das Absetzen von Donepezil bei bereits behandelten, mittelschwer erkrankten Patienten mit Alzheimerdemenz führte in einer randomisierten Studie zu einer signifikanten Verschlechterung im Vergleich zur Weiterbehandlung mit Donepezil oder zur Umstellung auf Memantin. Daraus folgt, daß die Langzeitbehandlung auch bei Patienten, die sich verschlechtern, einen klinischen Effekt hat und empfohlen wird.
Neben den Antidementiva kann eine Behandlung mit dem Ginkgo Biloba Extrakt EGb 761 durchgeführt werden. In neueren Studien zeigte sich bei Patienten mit Alzheimerdemenz, gemischter Demenz oder vaskulärer Demenz, bei denen nicht-psychotische Verhaltenssymptome wie zum Beispiel Depressivität oder Apathie vorlagen, eine Überlegenheit im Vergleich zu einer Placebobehandlung.
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