Rückenmark Nerven Regeneration Forschung: Fortschritte und Zukunftsperspektiven

Jährlich erleiden allein in Deutschland etwa 1.100 Menschen eine traumatische Querschnittlähmung. Obwohl Fortschritte in der Akut- und Rehabilitationsbehandlung die Lebensqualität dieser Patienten deutlich verbessert und ihre Lebenserwartung kaum eingeschränkt haben, bleibt die bleibende Behinderung nach Rückenmarkstrauma ein ungelöstes Problem. Die experimentelle Paraplegiologie hat sich in den letzten zehn Jahren als Schwerpunkt der neurotraumatologischen Forschung herauskristallisiert, um die zellulären und molekularen Reparatur- und Reorganisationsvorgänge nach spinalem Trauma zu studieren und therapeutische Strategien zur Förderung der zentralen Axonregeneration zu entwickeln.

Das Dilemma der Nervenregeneration im ZNS

Im Gegensatz zur effizienten Regenerationsfähigkeit durchtrennter peripherer Nerven, die eine Reinnervation des diskonnektierten Zielgewebes mit Wiederherstellung der Funktion ermöglicht, bleibt eine funktionell signifikante Nervenregeneration im verletzten Zentralnervensystem (ZNS) aus. Während periphere Nervenfasern nach einer Läsion degenerieren und von Makrophagen abgeräumt werden, entsteht in den Hüllstrukturen des distalen Nervenstumpfs ein regenerationsförderndes Milieu, das von Schwannschen Zellen, aktivierten Makrophagen und Fibroblasten generiert wird und den aussprossenden Axonen als Leitschiene dient. Im ZNS hingegen, wo das gliale Milieu aus Oligodendrozyten, Astrozyten und Mikrogliazellen besteht, können zentrale Neurone zwar ein molekulares Regenerationsprogramm starten, dieses aber nicht in eine funktionell ausreichende Axonaussprossung umsetzen.

Ursachen der unzureichenden Axonregeneration im ZNS

Mehrere Faktoren tragen zu diesem Regenerationsdefizit bei. Obwohl die Regenerationsbemühungen zentraler Neurone mit einer lokalen Aussprossung zahlreicher Axone im Läsionsbereich des Rückenmarks einhergehen, gelangen die axonalen Wachstumsfortsätze nicht über die Verletzungsstelle hinaus. Diese ungenügende Nervenregeneration wird durch Schwannsche Zellen, die aus angrenzenden spinalen Wurzeln in die Parenchymwunde des Rückenmarks infiltrieren, sowie durch lokale Entzündungsvorgänge gefördert. Nach mehreren Wochen entsteht im Wundbereich eine Narbe aus Astrozyten und mesenchymalen Elementen, die als mechanische Barriere die Regenerationsvorgänge behindert.

Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Expression wachstumshemmender Glykoproteine durch Oligodendrozyten im Gehirn und Rückenmark. Diese "Nogo"-Moleküle, die am zentralen Myelin gebunden sind, gehören zur normalen Ausstattung des ausgereiften ZNS von Säugern und wirken als allgegenwärtige Wachstumsbremse.

Wachstumsinhibition als Schutzmechanismus?

Die Frage nach dem biologischen Sinn der funktionell unzureichenden Nervenregeneration im adulten ZNS ist noch nicht abschließend beantwortet. Eine mögliche Erklärung ist, dass die wachstumshemmenden myelinassoziierten Moleküle nach Beendigung der Ausreifung des ZNS eine stabilisierende Funktion auf die Integrität der neuronalen Verschaltungen ausüben. Demnach könnten posttraumatische axonale Fehlaussprossungen mit Innervation "falscher" Neurone funktionell ungünstiger sein als überhaupt keine Regeneration.

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Experimentelle Therapiestrategien zur Förderung der Axonregeneration

Auf der Grundlage des Wissens über die zellulären und molekularen Mechanismen, die sich unterstützend oder hemmend auf die Nervenregeneration auswirken, wurden in Tierversuchen erfolgreiche therapeutische Strategien zur Förderung der zentralen Axonregeneration im verletzten Rückenmark entwickelt. Diese Interventionen zielen im Wesentlichen darauf ab, neurotrophe Faktoren zu applizieren oder zu induzieren, myelinassoziierte Wachstumsinhibitoren zu inaktivieren und regenerationsfördernde zelluläre Substrate zu transplantieren.

Applikation oder Induktion neurotropher Faktoren

Neurotrophe Faktoren regulieren die Differenzierung, das Überleben und die Regeneration von Neuronen. Mehrere dieser Substanzen fördern nach experimentellem Rückenmarkstrauma die Regeneration durchtrennter Axone, wenn sie exogen appliziert werden. Vielversprechend sind Transplantationen genetisch modifizierter Zellen, die neurotrophe Faktoren produzieren und sezernieren können, sowie Gentransfer-Techniken, bei denen die regenerationsfördernden Moleküle in bestimmte Neuronenpopulationen des ZNS eingeschleust werden.

Inaktivierung myelinassoziierter Wachstumsinhibitoren

Durch intrathekale Applikation spezifischer Antikörper (IN-1) gegen die "Nogo"-Moleküle kann eine langstreckige Aussprossung durchtrennter kortikospinaler Axone im verletzten Rückenmark der Ratte induziert werden, insbesondere wenn zusätzlich der neurotrophe Faktor NT-3 gegeben wird. Dadurch können systemspezifische motorische Funktionen restituiert werden, was darauf hindeutet, dass die aussprossenden Nervenfasern ihre ursprünglichen Zielneurone wiederfinden und reinnervieren. Außerdem wird nach einseitiger Durchtrennung der Pyramidenbahn durch den Einsatz von IN-1-Antikörpern die Reorganisation intakt gebliebener neuronaler Systeme intensiviert, was ebenfalls zur Erholung motorischer Funktionen beiträgt.

Transplantation peripherer Nerven

Bei der Ratte konnte ein besonders günstiges funktionelles Ergebnis beobachtet werden, wenn nach kompletter Rückenmarksdurchtrennung mit mikrochirurgischen Techniken mehrere Fragmente von Interkostalnerven als Brücken implantiert wurden, wobei definierte deszendierende motorische Bahnen proximal der Läsion mit der grauen Substanz distal der Läsion verbunden wurden. Die durchtrennten Axone deszendierender Projektionen sprossen durch die Nervenbrücken hindurch und reinnervierten jenseits der Läsion spinale Neurone, was zur Wiedererlangung bestimmter motorischer Fähigkeiten führte.

Mikrotransplantation von Schwannschen Zellen oder Gliazellen

Die Erkenntnis, dass die Schwannschen Zellen in den transplantierten Nerven eine Schlüsselrolle bei der Regenerationsförderung spielen, führte zur Transplantation in vitro kultivierter Schwannscher Zellen in zahlreichen spinalen Läsionsmodellen, wodurch eine lokale Regeneration verschiedener Axonpopulationen im Wundbereich erzielt werden konnte. Auch die Gliazellen des N. olfactorius (GNO) besitzen regenerationsfördernde Eigenschaften. Durchtrennte Axone des Tractus corticospinalis können nach lokaler Transplantation von kultivierten GNO langstreckig durch das Transplantat hindurch in das denervierte Rückenmark distal der Läsion aussprossen und zur Erholung spezifischer motorischer Funktionen beitragen.

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Transplantation von embryonalem oder fetalem Nervengewebe

Derartige myelinfreie Transplantate entfalten im verletzten Rückenmark regenerationsfördernde Effekte auf durchtrennte Axone. Dabei kann das Implantat als Brücke zwischen den beiden Enden der durchschnittenen Medulla spinalis fungieren, oder es dient als "Relais", indem transplantierte Nervenzellen synaptische Kontakte aus Axonen des Empfängers erhalten und ihrerseits zu Neuronen distal der Läsion projizieren. Serotonerge embryonale Nervenzellen aus den Raphe-Kernen, die unterhalb einer kompletten Rückenmarksdurchtrennung implantiert werden, können aufgrund ihrer ausgeprägten Plastizitätseigenschaften nach distal in das gesunde Rückenmark einsprossen und sich mit intrinsischen spinalen Neuronen derart organisieren, dass unabhängig von einer zerebralen Steuerung elementare motorische und vegetative Funktionen partiell restituiert werden.

Kombinierte Therapieansätze und Zukunftsperspektiven

Als besonders erfolgversprechend haben sich in Tierversuchen kombinierte Anwendungen der skizzierten Therapieansätze erwiesen, wobei der zusätzliche Einsatz von neuroprotektiven Pharmaka eine wertvolle Ergänzung zu sein scheint. Trotzdem ist eine klinische Umsetzung dieser experimentellen Fortschritte noch nicht absehbar.

Um die Strategien zur Regenerationsförderung zentraler Axone den klinischen Erfordernissen anpassen zu können, ist eine genauere Kenntnis der spontan ablaufenden neuronalen, glialen und immunologischen Reparatur- und Reorganisationsvorgänge im verletzten Rückenmark erforderlich. Dabei muss das ausgeprägte Reorganisationspotential, das von intakt gebliebenen neuronalen Systemen ausgeht und bei inkompletten Rückenmarkläsionen zu einer signifikanten Erholung motorischer Funktionen beitragen kann, ausreichend berücksichtigt werden.

Um den klinischen Einsatz von IN-1-Antikörpern, neurotrophen Faktoren und Transplantationen bei querschnittverletzten Patienten realisieren zu können, müssen noch umfangreiche methodische Probleme, insbesondere bezüglich der Applikationsweise, gelöst werden. Außerdem müssen unerwünschte Nebenwirkungen und die hohen Kosten einkalkuliert werden.

Große Hoffnungen richten sich auf die Antikörper (IN-1) gegen die myelingebundenen Wachstumsinhibitoren des ZNS. Bei einer möglichen künftigen Anwendung in der Klinik muss berücksichtigt werden, dass die "Nogo"-Moleküle wahrscheinlich eine Schutzfunktion auf die Integrität der etablierten neuronalen Kontakte ausüben. Daher kann die Ausschaltung der Wachstumsinhibitoren auch nachteilige Folgen für unverletzte Regionen des ZNS mit sich bringen. Es ist nicht bekannt, welche Interaktionen oder gar Interferenzen dabei zwischen den regenerierenden durchtrennten Nervenfasern und den sich reorganisierenden intakt gebliebenen Projektionen stattfinden. Die gleichen Vorbehalte müssen auch im Zusammenhang mit dem Einsatz von neurotrophen Faktoren geäußert werden, wenn dadurch die physiologischen, myelinassoziierten Wachstumsbarrieren überwunden und in verschiedenen, auch unverletzten Systemen des Gehirns und des Rückenmarks möglicherweise ungeordnete axonale Aussprossungen und Synapsenneubildungen mit pathologischen funktionellen Auswirkungen induziert werden.

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Neue Erkenntnisse und Therapieansätze

Stabilisierung von Mikrotubuli

Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass die Stabilisierung zellinterner Protein-Röhrchen, der Mikrotubuli, eine wichtige Bedeutung beim Wachsen von Nervenzellen zukommt. Der Wirkstoff Paclitaxel, der Mikrotubuli stabilisiert, zeigte in Versuchen mit Zellkulturen ermutigende Effekte, indem er verletzte Nervenzellen des Zentralen Nervensystems wieder auswachsen ließ, selbst wenn wachstumshemmende Substanzen aus dem Zentralen Nervensystem zugegeben wurden. Auch ausgereifte Dendriten konnten durch Paclitaxel dazu gebracht werden, ihre Identität zu ändern und Informationen an andere Nervenzellen weiterzugeben.

Hemmung der synaptischen Verschaltung

Eine andere Studie identifizierte das Gen Cacna2d2, das für die Ausbildung der Synapsen eine wichtige Rolle spielt, als Wachstumsbremse für Nervenzellen. Die Verabreichung des Wirkstoffs Pregabalin (PGB), der die Aktivität dieses Gens beeinflusst, ließ verletzte Nervenleitungen bei Mäusen regenerieren. PGB wird bereits bei Rückenmarksverletzungen als Schmerzmittel eingesetzt, könnte aber bei frühzeitiger Verabreichung möglicherweise auch einen regenerativen Effekt haben.

Beeinflussung von Vasohibinen

Ein Kölner Forschungsteam untersuchte Proteine, sogenannte Vasohibine, die den Zustand des Skeletts der axonalen Wachstumsspitzen (Mikrotubuli) beeinflussen. Sie stellten fest, dass sich das Gleichgewicht zwischen detyrosinierten und tyrosinierten Mikrotubuli zwischen erwachsenen Tieren und Neugeborenen unterscheidet. Mithilfe eines Inhaltsstoffes aus dem Mutterkraut (Tanacetum Parthenium) wurden die Vasohibine so stark gehemmt, dass sich das Gleichgewicht bei Nervenzellen von adulten Tieren dem von neugeborenen Tieren annäherte, was zu einer deutlichen Beschleunigung der axonalen Regeneration führte.

Identifizierung von SLRPs als Inhibitoren der Nervenregeneration

Ein internationales Team identifizierte Proteine, die zur Familie der kleinen leucinreichen Proteoglykane (SLRPs) gehören, die in großen Mengen im Narbengewebe von Ratten, Mäusen und Menschen vorkommen. Durch Hinzufügen von SLRP-Proteinen zum Wundgewebe von Zebrafischen konnte die Regenerationsfähigkeit der manipulierten Fische signifikant reduziert werden.

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