Sehen findet im Gehirn statt: Wie es funktioniert

Die Umwandlung eines Bildes auf der Netzhaut in elektrische Nervensignale ist lediglich der Auftakt des Sehens. Der eigentliche Prozess, bei dem diese Signale interpretiert und in ein verständliches Bild umgewandelt werden, findet im Gehirn statt. Das Gehirn analysiert und interpretiert die weitergeleiteten Lichtreize, um sie einzuordnen.

Die Sehbahn: Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zum Gehirn

Die Sehbahn leitet visuelle Signale blitzschnell an das Gehirn weiter. Der Sehnerv, auch Nervus opticus genannt, besteht aus etwa einer Million Axonen der Ganglienzellen der Netzhaut und hat einen Durchmesser von bis zu sieben Millimetern. Er verlässt das Auge auf der Rückseite und verursacht dort den blinden Fleck.

Die Sehnerven beider Augen treffen sich nach etwa 4,5 Zentimetern am Chiasma opticum, der Sehnervenkreuzung. Hier kreuzt etwa die Hälfte der Fasern beider Nervenstränge die Seite, sodass Signale aus dem linken Auge auch in der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden und umgekehrt. Die anderen fünfzig Prozent verlaufen weiter auf der Seite des Auges, dem sie entspringen. Jenseits der Kreuzung werden die Sehnerven als Sehtrakt oder Tractus opticus bezeichnet.

Verschaltung der Nervenfasern an der Sehnervenkreuzung

Die Kreuzung der Nervenfasern richtet sich nach dem Gesichtsfeld: Licht aus dem linken Bereich unseres Gesichtsfeldes fällt im linken Auge auf die innere, nasale Seite der Netzhaut, im rechten Auge auf die äußere, temporale Hälfte und umgekehrt. An der Sehnervkreuzung wechseln die nasalen Fasern die Seite (kontralateral), während die temporalen Fasern auf der ursprünglichen Seite verbleiben (ipsilateral).

Diese komplizierte Verschaltung führt dazu, dass jede Hälfte des visuellen Cortex Informationen über eine Seite des Gesichtsfeldes von beiden Augen erhält. Zudem wird das gesamte System auf Effizienz und Schnelligkeit getrimmt. So wird bereits im Zwischenhirn, genauer gesagt im seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale), anhand der Informationen aus den verschiedenen Gesichtsfeldhälften ein Feedback an die Augen gesendet, beispielsweise zur Verbesserung der Helligkeitsadaptation der Pupille.

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Konsequenzen von Störungen auf der visuellen Hochgeschwindigkeitsstrecke

Störungen auf dieser Strecke haben gravierende Konsequenzen. Krankheiten, die die Sehnerven schädigen, führen häufig dazu, dass ganze Areale des Gesichtsfelds eines Auges nicht mehr im Gehirn registriert werden. Wenn beispielsweise ein Tumor, eine Entzündung oder eine Blutung den rechten oder linken Sehnerv zwischen Netzhaut und Sehnervenkreuzung beeinträchtigt, fehlt die gesamte Information aus dem jeweiligen Auge.

Schäden an oder nach der Sehnervenkreuzung können zu besonderen Ausfallmustern führen. Ein Beispiel ist die "Scheuklappenblindheit", bei der das äußere Gesichtsfeld ausfällt, wenn die sich überkreuzenden Bahnen im Chiasma opticum betroffen sind.

Der seitliche Kniehöcker: Umschaltstation zwischen Netzhaut und Sehrinde

Jenseits der Sehnervenkreuzung zieht der Großteil der Nervenfasern als Tractus opticus Richtung Hinterkopf. Ein kleiner Teil liefert Input für die "innere Uhr" im Hypothalamus, hat aber nichts mit dem bewussten Sehen zu tun. Der Großteil der Fasern erreicht mit dem seitlichen Kniehöcker die einzige Umschaltstation zwischen Netzhaut und primärer Sehrinde. Diese einzige Verschaltstelle ist entscheidend für unsere Fähigkeit, visuelle Eindrücke nahezu ohne Verzögerung wahrzunehmen.

Struktur und Funktion des seitlichen Kniehöckers

Der seitliche Kniehöcker besteht aus sechs Schichten, die jeweils bestimmte Nervenfasern aufnehmen. In den Schichten 2, 3 und 5 enden Fasern aus dem ipsilateralen Auge, in den Schichten 1, 4 und 6 die Stränge aus dem kontralateralen Auge.

Die Schichten 1 und 2 sind die magnozellulären Schichten mit größeren Zellkörpern und Axondurchmessern. Sie reagieren vor allem auf Bewegungen. Die parvozellulären Schichten 3 bis 6 setzen sich aus kleineren Nervenzellen zusammen und liefern Input für die Verarbeitung von Form und Farbe.

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Retinotopie: Eine Landkarte des Gesehenen

Der Ausdruck Sehstrahlung verweist auf die retinotope Organisation: Bestimmte Netzhautbezirke senden Signale nur an bestimmte, immer gleiche Regionen des visuellen Cortex. Was von benachbarten Fotorezeptoren der Netzhaut kommt, wird auch von benachbarten Cortexneuronen bearbeitet. Auf diese Weise wird eine Art Landkarte des Gesehenen übermittelt, die jedoch stark verzerrt ist.

Diese Verzerrung hat ihren Sinn: Was wir fokussieren, fällt auf die Fovea, den Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Entsprechend wird diese Region überproportional betont: Etwa 80 Prozent des primären visuellen Cortex beschäftigen sich mit Impulsen aus der Fovea, die selbst keinen Millimeter groß ist.

Diese Fokussierung auf die Fovea mag auf den ersten Blick wie eine Reduktion wirken, ist aber sinnvoll. Hätten wir über die gesamte Netzhaut ein Auflösungsvermögen wie in der Fovea, bräuchten wir einen Sehnerv ganz anderen Ausmaßes.

Die Sehrinde: Der Beginn der eigentlichen Analyse

In der Sehrinde beginnt die eigentliche Analyse des Gesehenen. Dies geschieht rasend schnell: Von der Codierung des Bildes in der Netzhaut bis zu den ersten messbaren Impulsen in der primären Sehrinde vergehen bei gesunden Menschen kaum 100 Millisekunden. Diese Geschwindigkeit wird durch die Ummantelung der Nervenfasern mit Myelinhüllen ermöglicht, die eine sehr hohe Leitungsgeschwindigkeit erlauben, und durch die Reduktion auf nur eine Umschaltstelle.

Wahrnehmung ist selektiv

Das Gehirn entscheidet ständig, welche Informationen wichtig genug sind, um ins Bewusstsein vorzulassen. Ein Großteil der Informationen, die permanent von den Sinnesorganen ins Gehirn strömen, wird nicht bewusst verarbeitet. Komplexe Mechanismen filtern die eingehende Sinnesinformation und gestalten das Bild der Welt, das in unseren Köpfen entsteht.

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Binokulare Rivalität: Ein Beispiel für selektive Wahrnehmung

Ein gutes Beispiel dafür ist das Phänomen der binokularen Rivalität: Wenn dem rechten Auge ein Apfel und gleichzeitig dem linken Auge eine Rose gezeigt wird, können wir niemals beide Objekte gleichzeitig wahrnehmen. Vielmehr sehen wir manchmal bewusst die Rose, dann wieder den Apfel. Die Wahrnehmung wechselt spontan, ohne Einfluss äußerer Reize, vom einen zum anderen Objekt.

Gehirnwellen im präfrontalen Cortex und Wahrnehmungswechsel

Ein internationales Forschungsteam hat untersucht, welche Gehirnaktivitäten mit Änderungen in der subjektiven Wahrnehmung einhergehen, und dabei charakteristische Muster von Gehirnwellen im präfrontalen Cortex gefunden. Diese Muster im Bereich von niedrigfrequenten (1 bis 9 Hertz) und Betawellen (20 bis 40 Hertz) ändern sich unmittelbar vor einem Wahrnehmungswechsel.

Die Ergebnisse stellen eine weitverbreitete neurowissenschaftliche Auffassung in Frage, nach der die Impulse einzelner Neuronen ausschlaggebend für bewusste Wahrnehmung sind. Stattdessen scheinen die langsamen Schwingungen größerer Gehirnregionen die eigentliche Arbeit zu erledigen und zu entscheiden, welche Sinnesinformation Zugang zu unserem Bewusstsein bekommt.

Es ist jedoch unmöglich, Bewusstseinsinhalte aus den Gehirnwellen abzulesen oder abzuleiten, ob die Gehirnwellenmuster den Wechsel verursachen oder ihm lediglich vorangehen.

Weiterentwicklung einer Bewusstseinstheorie

Die Ergebnisse berühren die Frage, wie bewusste Erfahrungen im Gehirn entstehen können, und verfeinern die Globale Arbeitsraumtheorie, einer Bewusstseinstheorie, die dem präfrontalen Cortex eine zentrale Rolle zuschreibt.

Visuelle Wahrnehmungsstörungen und ihre Behandlung

Patienten in der Neurorehabilitation sind häufig von Sehstörungen betroffen, beispielsweise infolge eines Schlaganfalls, eines Schädelhirntraumas oder im Rahmen chronischer neurologischer Erkrankungen. Diese Störungen können verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise Verletzungen der Sehnerven, Schäden durch Schlaganfälle im Gehirn oder ein schlechtes Sehvermögen.

Auswirkungen und Erkennung von visuellen Wahrnehmungsstörungen

Die Auswirkungen einer visuellen Wahrnehmungsstörung sind individuell und können die schulische und persönliche Entwicklung eines Menschen nachhaltig beeinträchtigen. Umso wichtiger ist es, die Anzeichen frühzeitig zu erkennen und bei Verdacht einen Arzt aufzusuchen.

Häufig reicht ein einfacher Sehtest nicht aus, um eine Störung festzustellen, daher sind spezielle Untersuchungen nötig.

Therapiemöglichkeiten

Im Falle einer Erkrankung gibt es zahlreiche Therapiemöglichkeiten. Für Kinder werden häufig pädagogische Maßnahmen eingesetzt, wie beispielsweise die verstärkte Einbeziehung in den Haushalt und die Förderung der Selbstständigkeit. Spielen, insbesondere Fangen, Werfen und Memory, beansprucht die visuelle Wahrnehmung stark.

Die Behandlung von Erwachsenen funktioniert ähnlich. Gehirnjogging ist eine beliebte Methode, um die visuelle Wahrnehmung zu fördern. In klassischen Gehirnjoggingaufgaben müssen Formen erkannt, Unterschiede festgestellt und die Hände koordiniert werden.

Jeder Mensch kann und sollte seine visuelle Wahrnehmung trainieren, am besten mit Aufgaben, die Spaß machen. Auf Dauer wird die visuelle Wahrnehmung so schneller und vielfältiger.

Die Rolle der visuellen Wahrnehmung im Alltag

Ohne visuelle Wahrnehmung könnten wir weder lesen noch schreiben. Sie beschreibt, wie unser Gehirn die Umwelt mithilfe der Augen interpretiert. Die visuelle Wahrnehmung passiert hauptsächlich unterbewusst und hilft uns beim Lernen, bei der Orientierung im Alltag und bei der gezielten Ausführung von Bewegungen.

Visuomotorik: Die Verknüpfung von Sehen und Bewegung

Die Visuomotorik verknüpft visuelle Wahrnehmung mit unserer Motorik. Um eine Bewegung gezielt auszuführen, müssen wir sie in der Regel mit unseren Augen steuern. Das heißt, wenn wir nach etwas greifen, müssen wir den Gegenstand zuerst visualisieren, um unsere Bewegung darauf anzupassen.

Visuelle Wahrnehmung und Visuomotorik sind wichtige Bestandteile der Entwicklung von Kindern, aber auch in jedem Lebensalter profitieren wir von einer guten visuellen Wahrnehmung, ob in der Schule, auf der Arbeit oder im Alltag.

Gruppierungsgesetze der Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung vollzieht eine Musteranalyse, bei der wir nie eine Summe oder Folge von einzelnen Sehreizen wahrnehmen, sondern das Bild als Gesamtheit. Dabei streben unsere Sinne stets nach Ordnung, nach einer möglichst einfachen, sinnvollen Interpretation des Gesehenen. Die Betrachtung einer Szene führt demnach immer zur Wahrnehmung einer möglichst einfachen Struktur.

Unsere Wahrnehmung kann sich durch künstliche Sehbedingungen täuschen lassen. Optische Täuschungen werden jedoch nicht durch mangelnde Leistungsfähigkeit des Auges hervorgerufen, sondern durch visuelle Reize, die die Verarbeitungsroutinen unseres Sehsystems in die Irre führen.

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