Die Sehrinde: Das Zentrum des Sehens im Gehirn

Das Sehen ist einer der wichtigsten Sinne des Menschen, der es uns ermöglicht, die Welt um uns herum wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren. Dieser komplexe Prozess erfordert das Zusammenspiel verschiedener Strukturen im Gehirn, wobei die Sehrinde eine zentrale Rolle spielt. Die Sehrinde, auch visueller Kortex oder visuelles Zentrum genannt, ist der Bereich im Gehirn, der für die Verarbeitung visueller Informationen verantwortlich ist.

Anatomie und Lokalisation der Sehrinde

Die Sehrinde befindet sich im Okzipitallappen des Gehirns, dem hinteren Bereich des Gehirns. Sie ist ein Teil der Großhirnrinde und umfasst die Brodmann-Areale 17, 18 und 19. Die primäre Sehrinde, auch Area striata oder V1 genannt, entspricht dem Brodmann-Areal 17 und liegt medial im Okzipitallappen, ober- und unterhalb des Sulcus calcarinus. Der Name "Area striata" leitet sich von einer charakteristischen weißen Streifung ab, die durch Bündel markhaltiger, weißer Substanz entsteht.

Die Sehrinde wird durch die Arterie cerebri posterior mit Blut versorgt. Die Fasern des vierten Neurons im Thalamus erreichen den visuellen Kortex über die sogenannte Sehstrahlung (Radiatio optica).

Funktionelle Organisation der Sehrinde

Die Sehrinde ist in verschiedene Areale unterteilt, die jeweils unterschiedliche Aspekte der visuellen Verarbeitung übernehmen. Die primäre Sehrinde (V1) ist die erste Station der Verarbeitung visueller Reize im Kortex. Sie empfängt Informationen direkt von der Netzhaut über den Thalamus und ist für die grundlegende Analyse visueller Informationen zuständig, wie z. B. die Wahrnehmung von Kontrasten, Linien und Bewegungen.

Die sekundäre Sehrinde (V2, V3) und die tertiäre Sehrinde (V4, V5) werden gemeinsam als visuelle Assoziationscortices bezeichnet. Diese Areale sind auf verschiedene Teilaspekte des Sehens spezialisiert und ergänzen die Funktion der primären Sehrinde. Die Hauptaufgabe dieser Bereiche besteht in der Interpretation und weiterführenden Verarbeitung der visuellen Eindrücke, die aus der primären Sehrinde stammen. Während die sekundäre Sehrinde grundlegende visuelle Informationen weiterverarbeitet, übernehmen die höheren Areale spezifischere Funktionen, wie zum Beispiel die Verarbeitung von Farben (V4) und Bewegungen (V5). Die Areale MT (auch V5 genannt) und MST sind spezialisierte Regionen im visuellen Kortex, die für die Verarbeitung von Bewegungsinformationen zuständig sind. MT steht für mediotemporaler Kortex und MST für medio-superior temporales Areal. Diese Bereiche sind Teil der sogenannten "Wo-Bahn" der visuellen Wahrnehmung, die Bewegungs- und Positionsinformationen verarbeitet. Neuronen in MT und MST sind richtungs- und geschwindigkeitssensitiv und reagieren stark auf kohärente Bewegungen in der Umgebung.

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Retinotopie in der primären Sehrinde

Eine Besonderheit der primären Sehrinde ist ihre strenge Retinotopie, bei der jedem Punkt auf der Retina ein bestimmter Ort auf der Sehrinde zugeordnet ist. Diese Organisation sorgt dafür, dass die Nachbarschaften der Punkte auf der Retina auch im Gehirn erhalten bleiben. Die Informationen, die in der primären Sehrinde verarbeitet werden, stammen aus der kontralateralen Gesichtshälfte. Die Fasern aus der Fovea centralis, dem Bereich des schärfsten Sehens, sind stark überrepräsentiert. Obwohl die Fovea nur etwa 1,5 Millimeter groß ist, nimmt sie etwa vier Fünftel der Area striata ein und erstreckt sich bis zum Okzipitalpol. Im Gegensatz dazu werden Informationen aus der Netzhautperipherie im vorderen Bereich der Area striata verarbeitet.

Kortikale Säulen und Schichten

Strukturell besteht der visuelle Kortex aus nebeneinander angeordneten kortikalen Säulen (Kolumnen) und sechs horizontalen Schichten. Orientierungssäulen reagieren nur auf speziell ausgerichtete Linien an bestimmten Punkten der Retina. Dominanzsäulen hingegen bestehen aus mehreren Orientierungssäulen, die dieselbe Stelle der Retina abbilden, jedoch auf unterschiedlich ausgerichtete Linien reagieren. Hyperkolumnen repräsentieren Verarbeitungsmodule der primären Sehrinde und bestehen aus jeweils zwei Dominanzsäulen, die Informationen desselben Ortes im Gesichtsfeld für beide Augen integrieren.

Verarbeitung visueller Informationen

Die Sehrinde ist für die Aufnahme optischer Reize und deren schrittweise Verarbeitung zu einem vollständigen Bild der Umwelt verantwortlich. Die primäre Sehrinde (V1) bildet die Grundlage für diese Prozesse, indem sie die Gesichtsfeldpunkte nach Linien, Bewegungen und Farben „durchleuchtet“. Mit zunehmender Verarbeitungstiefe werden die Verknüpfungen immer komplexer. Dabei spielen auch im Gedächtnis gespeicherte Inhalte eine wichtige Rolle, beispielsweise bei der Unterscheidung zwischen vertrauten und unbekannten Objekten.

Der Weg des Sehens: Von der Netzhaut zur Sehrinde

Die Lichtrezeptoren in der Netzhaut wandeln Licht in Nervenreize um, die dann über den Sehnerv weitergeleitet werden. Schon in der Netzhaut liegen weitere Nervenzellen, die die Daten bereits vorverarbeiten. Rund eine Million Fasern des Sehnervs leiten diese Signale weiter ins Gehirn. Dabei überkreuzen sich die Fasern von rechtem und linkem Auge zum Teil. Jede Gehirnhälfte erhält also Informationen aus beiden Augen - die rechte Gehirnhälfte von dem, was links im Gesichtsfeld passiert, die linke Gehirnhälfte bearbeitet die Informationen aus dem rechten Gesichtsfeld.

Vom seitlichen Kniehöcker aus ziehen die Nervenzellen in die so genannte primäre Sehrinde, auch „Visueller Cortex“ genannt. Dort liegen etwa 500 Millionen Nervenzellen, die fürs Sehen zuständig sind. Sie bilden funktionelle Einheiten, die jeweils bestimmte Aufgaben übernehmen. Einige Gruppen reagieren zum Beispiel auf diffuse Lichtreize, andere nur auf bestimmte Farbkombinationen, auf Hell-Dunkel-Kontraste oder wenn sich ein Lichtreiz in eine bestimmte Richtung bewegt, etwa von rechts nach links. Solche Eindrücke vergleicht das Gehirn mit gespeicherten Bildern. Aus diesen Gesamteindrücken nimmt das Gehirn letztlich Form, Farbe und Bewegungen wahr und ist dazu in der Lage, Muster oder Formen wiederzuerkennen.

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Zusammenspiel mit anderen Hirnbereichen

Sehen ist nicht nur Bildwahrnehmung, sondern ein Großteil unseres Gehirns ist mit der Koordination der Augenbewegungen, der Abstimmung mit dem Gleichgewichtssinn und unseren Körperbewegungen beschäftigt. Nervenzellen aus dem seitlichen Kniehöcker geben direktes Feedback ans Auge, ob Helligkeit und Schärfe stimmen, passen also zum Beispiel die Pupille an die jeweiligen Helligkeitsverhältnisse an und regulieren das Scharfsehen.

Auswirkungen von Schädigungen der Sehrinde

Die essenzielle Bedeutung der Sehrinde wird besonders bei Schädigungen und den damit verbundenen Störungen deutlich. Wenn die primäre Sehrinde (V1) geschädigt ist, treten häufig Gesichtsfeldausfälle auf. Ist die gesamte primäre Sehrinde betroffen, kommt es zur sogenannten „Rindenblindheit“. Betroffene sind dann vollständig blind, obwohl Retina und Sehbahn weiterhin intakt sind. Schädigungen der sekundären Sehrinde (V2) können zur visuellen Agnosie führen. Dabei haben Betroffene Schwierigkeiten, Gesehenes zu erkennen oder einzuordnen. Diese Störung kann sich auf verschiedene Aspekte auswirken, wie die Wahrnehmung von Farben, Formen oder Gesichtern.

Diagnostik von Sehrindenfunktionsstörungen

Bei der Diagnostik von Sehrindenfunktionsstörungen kommen MRT- und CT-Scans zur Untersuchung der Sehrinde zum Einsatz. Außerdem kann man mit visuell evozierten Potentialen (VEPs) die elektrische Aktivität im Gehirn als Antwort auf visuelle Reize messen. Eine genaue Diagnose ist entscheidend für die Entwicklung eines effektiven Behandlungsplans. Neurologen setzen bildgebende Verfahren ein, um strukturelle Veränderungen oder Schädigungen der Sehrinde zu erkennen.

Behandlung von Sehrindenfunktionsstörungen

Bei der Behandlung von Störungen der Sehrinde steht die Wiederherstellung der Sehfunktionen an erster Stelle. Je nach Art und Umfang der Störung gibt es verschiedene Ansätze, die oft eine Kombination aus Medikamenten, operativen Eingriffen und speziellen Trainingsprogrammen umfassen. Die Wahl der Behandlung hängt von der individuellen Situation und den spezifischen Bedürfnissen jeder Person ab.

Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, sich an Veränderungen anzupassen und neue neuronale Verbindungen zu bilden. Dieses Konzept ist besonders relevant, wenn es um Schädigungen der Sehrinde geht. Die Förderung der Neuroplastizität kann durch gezieltes Sehtraining begünstigt werden. Solche Trainingsprogramme zielen darauf ab, das Gehirn zu stimulieren und die Zusammenarbeit von Augen und Gehirn zu optimieren.

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Forschung und neue Erkenntnisse

Neurowissenschaftler:innen der Charité - Universitätsmedizin Berlin und des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz (in Gründung) zeigen erstmals, wie sensorische Nervenzellen in der Netzhaut präzise mit Nervenzellen der Colliculi superiores, einer Struktur im Mittelhirn, verbunden sind. Im Fachjournal Nature Communications beschreiben die Forschenden nun ein Grundprinzip im Sehsystem von Säugetieren und Vögeln.

Für die aktuellen Untersuchungen hat das Forschungsteam eine Methode entwickelt, die auf Messungen neuartiger, hochdichter Elektroden, sogenannter Neuropixels-Sonden, basiert. Diese Elektroden, genauer Elektrodenarrays, sind winzig klein und versammeln rund eintausend Aufzeichnungsstellen auf einem dünnen Schaft. Sie erlauben es, die elektrische Aktivität zwischen Neuronen im Gehirn gleichzeitig mit 384 Elektroden zu messen und verändern das neurowissenschaftliche Forschungsfeld derzeit deutlich.

Dem Team um Dr. Kremkow ist es erstmalig gelungen, die Aktivität von Nervenzellen in der Retina und von Signalempfängern im Mittelhirn zeitgleich zu messen. Die genaue Verbindung der Nervenbahnen zwischen Auge und Mittelhirn war bislang eine Unbekannte. Jetzt konnten die Forschenden einzelzellgenau aufzeigen, dass die Anordnung der Eingänge von Signalen der retinalen Ganglienzellen im Mittelhirn exakt die Anordnung in der Retina widerspiegelt.

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