Die Kraft des Gesangs: Forschung zu Angstlinderung und Gehirnaktivität

Singen ist eine universelle menschliche Aktivität, die in allen Kulturen und Religionen verwurzelt ist. Ob Kinderlieder, die mit Leidenschaft gesungen werden, oder das Trällern unter der Dusche - Gesang begleitet uns in vielen Lebensmomenten. Doch Singen ist mehr als nur ein Hobby; es hat eine tiefgreifende positive Wirkung auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Aktuelle Forschungen untersuchen die vielfältigen Auswirkungen des Singens auf das menschliche Gehirn, insbesondere im Zusammenhang mit Angstlinderung, Stressabbau und der Förderung von sozialer Bindung.

Ursprünge, Entwicklung und Verbreitung des Gesangs

Die Ursprünge des menschlichen Gesangs liegen im Dunkeln der Vergangenheit. Fest steht jedoch, dass keine menschliche Kultur jemals ohne Gesang und Tanz existierte. Die genetische Veranlagung für musikalische Fähigkeiten ist vielfach untersucht worden. Nur ein geringer Prozentsatz der Menschen ist von Amusie betroffen, einer neurologisch bedingten Unfähigkeit, Töne und Melodien im Gedächtnis zu behalten und gesanglich wiederzugeben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Menschheit überwiegend in der Lage ist, gemeinsam zu singen, zu tanzen und zu musizieren - und von dieser Teilhabe gesundheitlich zu profitieren.

Anthropologen sehen Musik, Gesang und Tanz zwar nicht als unmittelbar überlebensnotwendig an, halten sie aber für die menschliche Entwicklung dennoch für bedeutsam. Verschiedene Theorien gehen davon aus, dass musikalische Aktivitäten soziale Bindungen stärken und zur Integration von Individuen in Gruppen beitragen. Schlaf- und Wiegenlieder sind interkulturell verbreitet und prägen frühe Sozialisations- und Bindungserfahrungen.

Singen als Gesundheitsförderung

Singen erfüllt viele Kriterien einer alltagsnahen Gesundheitsförderung. Seine psychischen, körperlichen und sozialen Wirkungen können als ein therapeutisch nutzbares kulturelles Kapital betrachtet werden. So kann Singen Angststörungen oder Depressionen lindern, aber auch Symptome bei neurodegenerativen Erkrankungen und Lungenerkrankungen.

Ein Mensch mit einer chronischen Lungenerkrankung wird beispielsweise dazu angeregt, Atmung und Stimme neu zu bewerten, nämlich als körpereigenes Instrument zur Teilhabe. Ältere Menschen, die nach dem Verlust eines Lebenspartners von depressiven Symptomen betroffen sind, können in einer Singgruppe Trost und Zuspruch finden und möglicherweise weniger wahrscheinlich von natürlicher Trauer in eine klinische Depression abgleiten. Auch Personen, die unter demenziellen Erkrankungen leiden, finden häufig starke kognitive, emotionale und motorische Anregungen in einer Singgruppe, sodass viele Symptome zumindest temporär, manchmal auch nachhaltiger zurückgehen.

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Selbstberichte und Studienergebnisse

Studien zeigen, dass Singen sich positiv auf das menschliche Wohlbefinden auswirkt. Clift und Hancox fanden heraus, dass das psychische, soziale und körperliche Wohlbefinden in einem Universitätschor eine große Rolle spielte und mit dem gemeinsamen Singen verbunden war. Nachfolgende Studien wiesen häufig auf positive Veränderungen der Stimmung, der Entspanntheit und Aktivierung bei gleichzeitig reduziertem Stressempfinden nach dem Singen hin.

Bemerkenswert ist, dass sich aus Befragungen sehr viel mehr Facetten ergeben, als dies in den Stimmungsveränderungen allein ablesbar ist. Im Einzelfall ändert sich im Vorher-nachher-Vergleich kaum etwas, die betreffende Person berichtet aber gleichwohl, dass sich ihre Gemütslage zumindest während der musikalischen Aktivität verbessert hat und allein diese kurzfristige Veränderung genug Anlass bietet, regelmäßig zur Singgruppe zurückzukehren.

Psychische und endokrine Veränderungen

Die Beobachtungen einer kalifornischen Forschergruppe, die immunologische Veränderungen im Speichel von Chorsängerinnen und -sängern berichteten, motivierten Kreutz et al. zu einem ähnlichen Experiment in einem Kirchenchor. Im Unterschied zur Vorläuferstudie ging es hier um einen Vergleich zwischen Singen und Musikhören. Speichelproben jeweils vor und nach den Interventionen sowie die Erfassung positiver und negativer Stimmungsanteile ließen jeweils unterschiedliche Wirkungsmuster erkennen. Positive Stimmungen und auch die Konzentration des Proteins Immunoglobulin A nahmen beim Singen zu, nicht aber beim Musikhören. Folgestudien konnten diese Veränderungen bestätigen und zahlreiche weitere Facetten hinzufügen, teilweise auch mit gemischten Befunden.

Dabei gerieten auch verschiedene Bindungs- und Stresshormone, etwa Oxytocin und Cortisol, in den Fokus. Zusammenfassend spiegeln sich in den endokrinen Markern die oftmals positiven psychischen Veränderungen wider und lassen den Schluss zu, dass gesangliche Aktivitäten von affektiven, psychoregulatorischen Prozessen im Mittelgehirn begleitet werden.

Klinische und prospektive Studien

Evidenzbasierte Medizin erfordert methodisch hochwertige Ansätze, die Interventionen in spezifischen Populationen nach definierten Kriterien einschließen. Solche randomisierten kontrollierten Studien sind in den vergangenen Jahrzehnten etwa im Bereich der psychischen Gesundheit, bei neurodegenerativen Erkrankungen oder auch bei Lungenerkrankungen unternommen worden. Die hierzu erarbeiteten Forschungsübersichten zeichnen ein insgesamt eher positives Bild der Wirkpotenziale von Gruppensingen.

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Daykin et al. fanden in ihrer Metaanalyse, dass sich Angststörungen um 21 % und Depressivität um 43 % verringerten, wenn Personen mit entsprechenden Symptomen an Singgruppen teilnahmen. Zwar bemängeln die Autor*innen, dass lediglich 1-2 von 10 Studien hohen methodischen Standards entsprechen, bescheinigen Singaktivitäten bei psychisch kranken Menschen dennoch positive Wirkungen auf Lebensqualität und Emotionsregulation. Weiterhin sind Singgruppen auch geeignet, um etwa pflegende Angehörige einzubinden, die aufgrund ihrer Belastungen als Risikogruppe gelten können.

Baker et al. untersuchten in einem klinischen, Cluster-randomisierten Trial die Auswirkungen von Gruppenmusiktherapie im Vergleich zu Singgruppen bei Bewohnern von Altenheimen mit demenzieller und depressiver Symptomatik. Die Ergebnisse weisen auf eine signifikant verbesserte Lebensqualität bei den Teilnehmenden der Singgruppe hin, während die Befunde der Gruppenmusiktherapie unklar blieben.

Physiologische Wirkungen des Singens

  • Vertiefte Atmung: Singen vertieft die Atmung und führt zu einer besseren Sauerstoffversorgung der Körperorgane und des Gehirns. Es aktiviert die Zwerchfellatmung, was zu einer besseren Entgiftung des Körpers und Entspannung führt.
  • Herz-Kreislauf-Fitness: Regelmäßiges Singen erhöht die Herz-Kreislauf-Fitness. Studien zeigen bei Profi-Sängern eine deutlich erhöhte Herzratenvariabilität, vergleichbar der von Dauerläufern.
  • Glücksgefühle: Singen kann glücklich machen, da es die Ausschüttung von Serotonin, Noradrenalin und Beta-Endorphinen fördert. Diese Botenstoffe versetzen uns in eine gehobene Stimmung und reduzieren Angst- und Schmerzerleben.
  • Verbundenheit: Sowohl das Gehirn als auch das Herz produzieren beim Singen das "Liebes- und Kuschelhormon" Oxytocin, das soziale Bindungen stärkt und liebevolle Gefühle fördert.
  • Immunsystem: Studien haben gezeigt, dass Singen den Anteil an Immunglobulin A bereits nach kurzer Zeit deutlich erhöht.
  • Stressabbau: Beim Singen kommt es zu einem raschen Abbau von Stresshormonen wie Kortisol und Adrenalin.

Singen im Alltag integrieren

Um die gesundheitlichen Vorteile des Singens mehr für sich zu nutzen, gibt es viele Möglichkeiten:

  • Atemübungen: Vor dem Singen können Atemübungen durchgeführt werden, um die Atmung zu vertiefen und zu entspannen.
  • Gemeinsames Singen: Der Beitritt zu einem Chor bietet die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen zu singen und soziale Kontakte zu pflegen.
  • Singen zu besonderen Anlässen: Ob Geburtstage, Weihnachten oder Hochzeiten - Singen kann besondere Momente verschönern und die Gemeinschaft stärken.
  • Musik laut aufdrehen: Beim Staubsaugen, Abwaschen oder Entspannen auf dem Sofa kann man die Lieblingssongs laut aufdrehen und mitsingen.
  • Singen mit Kindern: Gemeinsames Singen mit Kindern fördert die sprachliche Entwicklung, die Lernfähigkeit und das Gefühl von Verlässlichkeit und Geborgenheit.

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