Spurt das Gehirn Schmerzen Ursachen

Chronische Schmerzen sind ein weit verbreitetes Problem, von dem in Deutschland 17 Prozent der Bevölkerung betroffen sind - mehr als 12 Millionen Menschen. In Österreich und der Schweiz sind die Zahlen in Relation zur Bevölkerung vergleichbar hoch: Hier sind jeweils 1,5 Millionen Menschen betroffen. Verantwortlich dafür ist das Schmerzgedächtnis. Schmerzen sind zwar unangenehm, aber als Frühwarnsystem schützen sie unseren Körper vor schwereren Gewebeschäden. Akute Schmerzen können jedoch chronisch werden und fortbestehen, selbst wenn die Ursache längst vergangen ist. Der Körper hat den Schmerz "gelernt", was Experten als Schmerzgedächtnis bezeichnen.

Entstehung des Schmerzgedächtnisses

Schmerz wird auf Rückenmarks-Ebene "eingraviert"

Schmerzreize wie Hitze, Druck oder eine Verletzung werden von speziellen Sinneszellen, den Nozizeptoren, registriert. Diese finden sich beinahe überall in unserem Körper und leiten den Reiz über das Rückenmark an das Gehirn weiter, wo er von uns schließlich als Schmerz wahrgenommen wird.

Ende der 1980er-Jahre fanden Wissenschaftler jedoch heraus, dass ein Schmerzreiz nicht einfach nur an das Gehirn weitergeleitet wird, sondern auch die betroffenen Nervenzellen verändert. "Die Nervenzelle lernt den Schmerz", sagt Professor Thomas Tölle, Leiter des Zentrums für interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS) am Klinikum rechts der Isar in München.

Durch den Schmerzreiz wird in der Zelle eine sogenannte Stimulus-Transkriptions-Kaskade in Gang gesetzt, in der verschiedene Gene aktiviert werden. Das führt zum Beispiel dazu, dass die Nervenzelle mehr Rezeptoren auf ihrer Oberfläche ausbildet und empfindlicher wird. "Der Schmerz wird auf Rückenmarks-Ebene 'eingraviert'", sagt Tölle.

Ist ein Rückenmarksnerv einem andauernden Sturm von Schmerzreizen ausgesetzt, wird er so mit der Zeit überempfindlich und leitet Schmerzsignale verstärkt an das Gehirn weiter - selbst wenn der neue Reiz geringer ist oder sogar ganz fehlt.

Lesen Sie auch: Leitfaden zur Schlaganfall-Erkennung

Schmerz hinterlässt Spuren im Gehirn

Auch im Gehirn kommt es durch anhaltende oder wiederkehrende Schmerzen zu Umbauarbeiten. "Die Veränderung auf molekularer Ebene der Nervenzellen führt dazu, dass im Gehirn Areale anders verschaltet werden", erklärt Tölle. Sie werden effektiver und damit sensibler.

Das zeigte sich sehr anschaulich in einem Experiment, das Tölle und seine Kollegen vor einigen Jahren durchführten. Gesunde Testpersonen wurden darin an zwölf aufeinanderfolgenden Tagen für je fünf Minuten einem Schmerzreiz ausgesetzt. "Es hat sich gezeigt, dass sich schon nach diesen zwölf Schmerzreizen im Gehirn eine Gedächtnisspur bildet", sagt Tölle.

Diese Spur im Gehirn ist mit Bildgebungsverfahren abbildbar. Dabei zeigte sich, dass drei Gehirnareale besonders aktiv wurden: Der präfrontale Cortex, von wo aus wir unsere eigene Schmerzabwehr steuern, der parahippocampale Gyrus, wo wir alle unsere Erinnerungen abspeichern, und die Amygdala, dem "Schmutzfänger für unangenehme Erinnerungen", wie Tölle erklärt. Und diese Gehirnareale waren nicht nur stärker aktiv, auch die neuronalen Verbindungen im Gehirn veränderten sich durch Schmerzreize. Dabei fanden die Forscher jedoch Unterschiede zwischen den Testpersonen. Es gebe zwei Gruppen, erklärt Tölle: Während die einen den Schmerz von Sitzung zu Sitzung als weniger unangenehm empfanden, nahm das Schmerzempfinden bei der anderen Gruppe hingegen zu. "Offenbar gibt es Menschen, die eine effektivere Schmerzabwehr haben als andere."

Die Rolle der Psyche beim Schmerzgedächtnis

Im Prinzip können selbst banale Verletzungen zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses führen, doch das passiert zum Glück in aller Regel nicht. Bei neuropathischen Schmerzen, die das Nervensystem betreffen, kommt es besonders häufig zur Entstehung eines Schmerzgedächtnisses. Bei Gürtelrose zählen chronische Schmerzen zu den gefürchtetsten Folgeschäden.

Ob sich ein Schmerzgedächtnis ausbildet oder nicht, hängt dabei nicht nur von der Intensität und Dauer des Schmerzes sowie genetischen Faktoren ab. Auch die Psyche hat großen Einfluss. "Menschen in schwierigen Lebenssituationen, die Depressionen oder Konflikte durchmachen, haben ein höheres Risiko", sagt Tölle. Entscheidend sei, wie bedrohlich oder belastend ein Patient die Schmerzen empfinde - und Menschen in schwierigen Lebenssituationen seien dem Schmerz viel mehr ausgeliefert.

Lesen Sie auch: Schlaganfall: Symptome und Früherkennung

Wie groß der Einfluss der Psyche auf die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses ist, konnten Wissenschaftler in Chicago zeigen. Für eine Studie legten sie Patienten mit Rückenschmerzen in einen Kernspintomographen, um die Gehirnaktivität im Zusammenhang mit dem Schmerz zu untersuchen. Anhand der Bilder konnten die Wissenschaftler mit großer Treffsicherheit voraussagen, welche Patienten noch in einem Jahr Beschwerden haben würden: "Nämlich diejenigen, die schon zu Beginn den Schmerz mit einer hohen Beteiligung des limbischen Systems - also unserem emotionalen Gedächtnis - verarbeitet haben", sagt Tölle. Die Aktivität des emotionalen Gedächtnisses zeigte an, dass diese Patienten den Schmerz als besonders belastend und unangenehm empfanden.

Umgang mit chronischen Schmerzen

Schmerzgedächtnis kann nicht gelöscht, aber überschrieben werden

Habe sich erst einmal ein Schmerzgedächtnis ausgebildet, lasse es sich nicht mehr löschen, sagt Tölle. Selbst bei Amputationspatienten, die beschwerdefrei seien, könnten sich Phantomschmerzen etwa durch einen Bandscheibenvorfall wieder "ausrollen"; "das Schmerzgedächtnis ist also immer noch irgendwo präsent", sagt Tölle. Es habe zwar Ansätze gegeben, Schmerzpatienten mit hohen Opiatdosen zu behandeln oder für mehrere Tage in eine Ketamin-Narkose zu legen, um das Schmerzgedächtnis zu löschen. "Vom Ansatz her kein schlechter Gedanke", sagt Tölle, "aber in der Praxis nicht umsetzbar. Bei hoch dosierten Opiaten riskieren Sie den Patienten, die Mortalität wäre gewaltig."

Es gibt aber Wege zu lernen, mit chronischen Schmerzen zu leben und das Schmerzgedächtnis mit neuen Inhalten zu überschreiben, etwa durch Ablenkung, Entspannungsübungen und neue Bewegungsmuster. Daher kommen in der multimodalen Schmerztherapie heute verschiedene Disziplinen wie Physio- und Ergotherapie sowie Psychotherapie zum Einsatz. "Das hilft enorm, um die Erinnerungsspur des Schmerzes in den Hintergrund treten zu lassen", sagt Tölle. Wie mächtig gezielte Meditationsübungen gegen Schmerzen wirken können, zeigt eine Anekdote des TV-Moderators Ranga Yogeshwar, der vor ein paar Jahren für Dreharbeiten am Klinikum rechts der Isar in München zu Besuch war. "Er hat erzählt, dass er selbst größere Eingriffe beim Zahnarzt ohne Narkose übersteht", erzählt Tölle. Wie Yogeshwar das gelingt, sollten Aufnahmen aus dem Kernspintomografen zeigen.

Auf den Bildern konnte man sehen, dass das gesamte Gehirn des Moderators aktiv war. "Für mich sah das aus wie ein epileptischer Anfall, aber er hatte natürlich keinen", sagt Tölle. Wenn der Schmerz komme, habe Yogeshwar erklärt, sei er im Geiste auf der Flucht. "In seiner Fantasie entzieht er sich dem Schmerz wie ein Fluidum, und um sich das vorzustellen, muss das ganze Gehirn aktiv sein." Man könne also einen besonderen Umgang mit dem Schmerz finden und müsse sich ihm nicht unterwerfen.

Schmerzen besser nicht aushalten

Am besten ist, das Schmerzgedächtnis gar nicht erst entstehen zu lassen. Nach derzeitigem Kenntnisstand gelinge das vor allem durch ausreichende Gabe von Schmerzmitteln. Dabei ist es wichtig, früh zu reagieren - denn die Veränderung an Gehirn und Nervensystem treten schnell ein. "Eigentlich sollte man bei Schmerzen so früh wie möglich und so effektiv wie möglich behandeln", sagt Tölle.

Lesen Sie auch: Faszination Nesseltiere: Wie sie ohne Gehirn leben

Welches Schmerzmittel infrage kommt, hängt dabei immer vom Schmerz ab. "Was eben wirksam ist", sagt Tölle. "Bei Schmerzen im Nervenbereich helfen Aspirin, Ibuprofen oder Diclofenac zum Beispiel gar nichts." Spätestens wenn ein Schmerz über Tage bestehen bleibt, sollten Sie eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen, um abzuklären, ob die Ursache des Schmerzes behandelt werden muss.

Viele Menschen und auch manche Ärzte glaubten heute noch, dass man Kopf- oder Rückenschmerzen bis zu einem gewissen Grad aushalten muss. Nach Ansicht von Tölle ist diese Einstellung daher grundfalsch. Natürlich müsse man nicht bei jedem blauen Fleck zu einem Schmerzmittel greifen. "Aber wenn der Schmerz eine Weile bleibt und eine gewisse Intensität hat, sollten Sie sich das nicht aushalten", sagt Tölle. "Tun Sie sich das doch nicht an!"

Weitere Aspekte chronischer Schmerzen

Jennifer Hillebrandts Leidensgeschichte

Vor 15 Jahren bekommt Jennifer Hillebrandt plötzlich enorme Schmerzen im Gesicht. „Es fühlt sich an, wie wenn dir jemand mit einem Backstein ins Gesicht geschlagen hat. Das ist ein brennendes, ziehendes, elektrisierendes und auch ein schneidendes Gefühl“, versucht Jennifer Hillebrandt, den Schmerz zu umschreiben. Obwohl sie die Schmerzen fast täglich quälen, arbeitet die damals 30-Jährige weiter. Woher kommen die Schmerzen? „Es war ganz, ganz schlimm. Vor allen Dingen fühlt man sich hilflos, alleingelassen. Man kriegt den Schmerz ja nicht mit einer Schmerztablette weg.“ Besonders beängstigend sei gewesen, dass auch die Ärzte, mit denen sie zu tun hatte, irgendwann nicht mehr wussten, was noch zu tun sei. Zwei Jahre lang sucht Jennifer Hillebrandt Hilfe bei verschiedenen Ärzten, schließlich landet sie bei dem Schmerztherapeuten Dr. Oliver Emrich. Der Spezialist führt zu Beginn ein ausführliches Anamnese-Gespräch mit ihr, hört sich ihre Schmerzgeschichte genau an und analysiert ihre MRT-Bilder. Doch bei einer weiteren Untersuchung entdeckt Dr. Emerich plötzlich eine kleine Narbe an ihrem Kinn: eine Spur. Tatsächlich hatte Jennifer Hillebrandt im Alter von 21 Jahren genau an dieser Stelle eine Gürtelrose, die nie behandelt wurde. Liegt hier tatsächlich die Ursache ihrer Schmerzen? Eine Gürtelrose kann sich als Folge von Windpocken entwickeln. Denn nach einer Windpockenerkrankung nisten sich Zoster-Viren unbemerkt in den Nervenwurzeln ein. Wenn das Immunsystem geschwächt ist, können die Viren wieder aktiv werden. Es kommt zu einer Entzündung des Nervengewebes, die dazu führt, dass die von ihm versorgten Hautbereiche schmerzen. Der typische Hautausschlag entsteht. Mehr als 300.000 Deutsche erkranken jährlich an einer Gürtelrose. Jennifer Hillebrandts Narbe sei ein Überbleibsel der Nervenentzündung durch die Gürtelrose, erklärt Dr. Emrich. Bei Jennifer Hillebrandt hat sich ein sogenanntes Schmerzgedächtnis entwickelt. Dabei haben die Nerven so lange Impulse an das Gehirn gesendet, dass es dort zu einer Überreaktion gekommen ist. Das hat zur Folge, dass das Gehirn, anstelle von Hormonen zur Schmerzhemmung nun Botenstoffe aussendet, die die Schmerzempfindlichkeit erhöhen. Und das kann selbst dann noch geschehen, wenn die eigentliche Schmerzursache behoben oder verheilt ist. Die Schmerzen sind in Körper und Geist fest abgespeichert und könnten jederzeit leicht abgerufen werden, erklärt Dr. Emrich. Das sei vergleichbar mit einem motorischen Ablauf, wie zum Beispiel Tennisspielen. Dr. Emrich sagt: „Das vergesse ich mein ganzes Leben nicht mehr, wie der Ablauf ist, einen Tennisball zu schlagen. Das ist auch der Grund, warum die Schmerzen bis heute immer wieder kommen - und Jennifer Hillebrandt regelmäßig behandelt werden muss.

Neuroplastizität und chronische Schmerzen

Große Fortschritte der Forschung haben die klinischen Vorstellungen vom Schmerz stark beeinflußt. Insbesondere die Frage, was Schmerzen chronisch macht, ist zu einem zentralen Thema der Schmerzforschung geworden. Zur Erinnerung: Schmerzreize werden über Nozizeptoren im peripheren Nervensystem aufgenommen, innerhalb des Rückenmarks auf Neurone des Hinterhorns umgeschaltet und zum Gehirn weitergeleitet. Das Zentralnervensystem (ZNS) verfügt über verschiedene Mechanismen, die das Schmerzempfinden regulieren. So hat das Gehirn zum Beispiel durch die vom Hirnstamm zum Rückenmark absteigenden Hemmungssysteme vielfältige Möglichkeiten, die empfangenen sensorischen Informationen zu kontrollieren. Dabei werden hemmende chemische Botenstoffe ausgeschüttet, zu denen unter anderem die Opioide gehören. In der Klinik kennt man seit langem Phänomene wie die Phantomschmerzen, die ohne eine fortwährende afferente Erregung aus der Peripherie auftreten. Das legt die Vermutung nahe, daß sich in solchen Fällen im ZNS ein Schmerzgedächtnis (Engramm) gebildet hat. Auch psychophysiologische Untersuchungen an Patienten weisen darauf hin, daß im Nervensystem plastische Veränderungen stattfinden können, die chronische Schmerzen verursachen oder deren Entstehen begünstigen. So sind evozierte Potentiale auf Schmerzreize bei Schmerzpatienten erhöht und zeigen bei Reizwiederholung eine geringere Habituation als beiGesunden.

Wie kann die Neuroplastizität des ZNS zur Entstehung chronischer Schmerzen beitragen? Ein Trauma löst nicht nur Impulse in den Schmerznerven aus, die zum ZNS geleitet werden und dort eine Schmerzwahrnehmung verursachen. Experimentelle Untersuchungen der letzten Jahre haben vielmehr gezeigt, daß es bei persistierenden noxischen Reizen im Nervensystem zu biochemischen, molekularbiologischen und funktionellen Langzeitveränderungen kommt. So werden nach Durchtrennung eines peripheren Nervs in den betroffenen Neuronen langfristig neue Transmitter gebildet (zum Beispiel Galanin und das "vasoactive intestinal peptide"), während die bekannten nozizeptiven Transmitter "Substanz P" und das "calcitoningene-related peptide" (CGRP) herunterreguliert werden. Dadurch wird das Zusammenspiel erregender und hemmender Faktoren bei der spinalen Schmerzverarbeitung gestört.

Neuropeptide und Migräne

Auch bei der Migräne spielt die Fehlregulation von Neuropeptiden eine wichtige Rolle. Die Störungen gehen vor allem von den perivaskulären Nervenfasern der meningealen Blutgefäße aus. Aus den Nervenenden, die wahrscheinlich gleichzeitig Nozizeptoren sind, werden Substanz P und CGRP ausgeschüttet. Letzteres läßt sich während eines Migräneanfalls auch vermehrt im venösen Blut des Kopfes nachweisen. Durch die Ausschüttung der Neuropeptide beginnt ein Teufelskreis: Peptidfreisetzung - Vasodilatation und kapilläre Permeabilitätssteigerung - vermehrte Erregung der Nozizeptoren - vermehrte Peptidfreisetzung und so weiter. Die Wirkstoffe Azetylsalizylsäure, Ergotamin und Sumatripan bremsen die Freisetzung der Neuropeptide undunterbrechen so den schmerzauslösenden Kreislauf.

Genetische Faktoren und Genexpression

Inzwischen weiß man aus Tierexperimenten, daß die beobachtete Neuroplastizität auf Veränderungen der Genexpression beruht. Nervenzellen enthalten induzierbare Gene (immediate-early genes), die durch noxische Reize aktiviert werden können. Es handelt sich dabei zum Teil um Gene, die man aus der Krebsforschung als Onkogene kennt. Offensichtlich sind die von ihnen codierten Proteine an der Regulation vielfältiger Zellvorgänge beteiligt. Schmerzreize induzieren zum Beispiel die Gene c-fos und c-jun. Die daraus resultierenden Proteine binden an bestimmte Stellen der DNA und lösen so die Transkription weiterer Gene und die Synthese der entsprechenden Proteine aus (wie Dynorphin und GABA). Schmerzreize und andere pathophysiologische Situationen des Nervensystems, wie Ischämie oder Epilepsie, induzieren also eine Kaskade von Genexpressionen in den Nervenzellen. Die bereits früher beobachteten Veränderungen bei den Neuropeptiden, erregenden und hemmenden Transmittern und die nach Nervenläsionen auftretendeÜbererregbarkeit im Rückenmark können auf solchen Beeinflussungen der Gentranskription beruhen.

Diese Vorgänge bewirken wahrscheinlich tiefgreifende und langfristige biochemische Funktionsverschiebungen im Nervensystem, zum Beispiel durch die Veränderung der Synthese von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorproteine. Dabei kann es zu pathologischen Fehlentwicklungen der neuronalen Funktionen kommen, die zu einer erhöhten Sensibilisierung führen und das Entstehen von Schmerzsignalen im Nervensystem begünstigen.

Präventive Analgesie

Wenn man also zum Beispiel bei einem chirurgischen Eingriff zusätzlich zur Narkose auch Analgetika (wie Morphin) oder Lokalanästhetika zur Blockade der sensiblen Nerven aus dem Operationsgebiet gibt, sollte man langwirkende Veränderungen im Zentralnervensystem vermeiden können, die sonst als "Engramm" oder "Gedächtnisspur" der Schmerzsituation haftenblieben. Man stellt sich vor, daß die genannten Maßnahmen letztendlich das Auslösen der Transkription der oben genannten Gene (IEGs) verhindern. Eine solcheSchmerzbehandlung sollte frühzeitig einsetzen und lange genug andauern.

Kortikale Reorganisation und Schmerzgedächtnis

Eine besonders wichtige Rolle spielen neuroplastische Veränderungen in Rückenmark und Gehirn. Man fasst sie unter dem Begriff "Schmerzgedächtnis" zusammen. Veränderungen des Gehirns, die mit der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses einhergehen, sind ein Schwerpunkt unserer Forschungsarbeiten.

Ausgangspunkt unserer Untersuchungen waren Berichte über eine bislang unbekannte Plastizität der Großhirnrinde (des Kortex). Was wir sehen, hören oder tasten wird von bestimmten Zentren des Gehirns verarbeitet, die wie Landkarten organisiert sind. Tastreize aus dem Arm werden beispielsweise neben Tastreizen aus dem Mund verarbeitet - jedoch fern von Tastreizen aus dem Bein. Je größer ein Körperteil im Gehirn repräsentiert ist, desto größer ist auch seine Empfindlichkeit. Der Mund ist beispielsweise besonders groß, der Oberarm hingegen besonders klein im Gehirn repräsentiert. Dementsprechend ist der Mund deutlich empfindlicher als der Oberarm. Lange Zeit waren Neurowissenschaftler der Meinung, dass die primären sensorischen Areale des Großhirns - die Gebiete, in denen Sinnesreize beispielsweise von Auge, Ohr oder der Haut ankommen - nach einer empfindlichen Phase im Laufe der Entwicklung nicht mehr plastisch und damit nicht mehr veränderlich sind. Untersuchungen der letzten Jahre haben jedoch gezeigt, dass eine umfangreiche Neuorganisation dieser Gebiete nach Verletzungen oder infolge von Lernprozessen möglich ist. Dabei können sich sowohl die Größe als auch die Lage der Repräsentationen im Gehirn verändern. Diese Veränderungen bezeichnet man als kortikale Reorganisationen.

"Brain Fog" als Begleiterscheinung

Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme beim Strukturieren von Handlungen: Wenn das Gehirn wie in Wolken liegt, kann das den Alltag schwer beeinträchtigen. Es ist mühsam, sich zu konzentrieren. Man ringt nach Begriffen oder Namen. Dinge, die gerade noch im Bewusstsein waren, fallen einem plötzlich nicht mehr ein. „Verpeilt“, „neben der Spur“ oder „durch den Wind“ sagt der Volksmund dazu.

Meist sind es eher harmlose Faktoren, die für solche Probleme sorgen: zu wenig Schlaf, zu viel Stress oder der Abend gestern, der ein wenig länger wurde. Schafft man es, das Schlafdefizit auszugleiche oder zur Ruhe zu kommen, dann funktioniert auch das Denken wieder wie es soll.

Allerdings gibt es auch Menschen, bei denen solche Zustände keine vorübergehende Sache sind. Stattdessen halten sie Wochen, Monate oder sogar Jahre an. Dafür hat sich der Begriff „Brain Fog“ etabliert. Er beschreibt keine exakte medizinische Diagnose, sondern eine Reihe von Symptomen, die durch unterschiedliche Ursachen ausgelöst werden können und es den Betroffenen schwer machen, strukturiert zu denken und zu arbeiten. Durch die Covid-Welle ist das Thema verstärkt ins Blickfeld gerückt - denn Brain Fog kann eines der Symptome von Long Covid sein.

tags: #spurt #das #gehirn #schmerzen #ursachen