Es muss kein lautes Suppe-Schlürfen oder Chips-Krachen sein. Für manche Menschen ist es bereits nicht auszuhalten, wenn jemand Kartoffelbrei isst. Die quietschende Kreide auf der Tafel, das Aneinanderreiben von Styropor oder das hohe Surren des Zahnarztbohrers - während die meisten Menschen diese Geräusche als unangenehm empfinden, lösen sie bei anderen immenses Leid aus. Fachleute nennen dieses Phänomen Misophonie, ein Hass auf Geräusche.
Was ist Misophonie? Definition und Abgrenzung
Der Begriff Misophonie stammt aus dem Griechischen: "misos" für Hass und "phone" für Geräusch. Anne Möllmann, eine Psychologin, die seit 2014 zu dieser Störung forscht, beschreibt es so, dass manche Menschen bestimmte Geräusche weniger gut aushalten können. Misophonie ist eine Störung emotionaler Kontrollmechanismen, bei der individuell spezifische Geräusche übermäßig ausgeprägte aversive Reaktionen hervorrufen. Die Betroffenen sind gegenüber selektiven Geräuschen, sowie teils auch visuellen Reizen, sehr intolerant. Bisher findet sich das Krankheitsbild nicht in den beiden gängigen, internationalen Krankheitsklassifikationssystemen ICD-10 der WHO und DSM-V der APA.
Nicht zu verwechseln ist die Misophonie mit der Hyperakusis, einer allgemeinen Geräuschempfindlichkeit gegenüber nicht besonders lautem Schall. Während sich Misophonie auf bestimmte Geräusche und Klänge bezieht, geht es bei Hyperakusis um den Geräuschpegel.
Symptome: Wut, Ekel und Aggression
Was Misophonie ausmacht: Betroffene sind nicht nur genervt von den Geräuschen, die andere verursachen, sie verspüren Wut, Ekel und Aggressionen. Die Bandbreite der Gefühle geht von einfachem Missfallen bis hin zu stark aggressiven Reaktionen. Auf die emotionale Reaktion können sich bei den unter Misophonie Leidenden auch körperliche Reaktionen einstellen. Folglich vermeiden Betroffene eine Konfrontation mit den spezifischen Geräuschen.
Typisch für Misophonie ist eine höchst selektive Geräuschintoleranz. Die meisten Alltagsgeräusche, wie sie bei einem starken Regen entstehen, und auch unangenehme Geräusche wie das Schreien eines Babys stören die Betroffenen nicht mehr als andere Menschen. Die Geräusche, die sie hassen, sind bei den einzelnen Menschen mit Misophonie recht unterschiedlich. Häufige Geräusche, die Betroffene nur sehr schwer ertragen können, sind Essgeräusche, Räuspern, Schniefen, Atemgeräusche, Umgebungsgeräusche, Trommeln von Fingern, Schnarchen, Fingerknacken, Papierrascheln, Klicken von Kugelschreibern und Trittgeräusche von Schuhen. Auch visuelle Reize, wie Lippen- und Kieferbewegungen beim Essen, Zwinkern, Wippen, Schaukeln oder Spielen mit Haarsträhnen, können aversive Reaktionen hervorrufen.
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Ursachenforschung: Was steckt dahinter?
Die Ätiologie von Misophonie gilt als weitestgehend unbekannt. Der Beginn der Symptomatik wird oft in der Kindheit, im Mittel bei 13 Jahren, beobachtet. Es handle sich dabei um einen Lernprozess, also eine Fehlverknüpfung zwischen einem neutralen Geräusch und einer aversiven Emotion. Ein Kindheitstrauma könnte ursächlich sein, bewiesen ist das nicht. Interessanterweise kommt es zu keiner Reaktion, wenn die Betroffenen die Geräusche selber verursachen. Die Welle negativer Gefühle überrollt sie immer nur dann, wenn sie in Interaktion mit anderen sind.
Klar ist laut Anne Möllmann: Das Beschwerdebild stamme nicht von den Ohren. Eher scheine es Unterschiede bei der Verarbeitung der Geräusche auf dem Weg zum Gehirn zu geben. Tatsächlich ist es so, dass bei dem bestimmten, verhassten Geräusch im Gehirn des Betroffenen eine Verknüpfung zu einem Hirnareal hergestellt wird, der vorderen Inselrinde (AIC), das für emotionale Reaktionen zuständig ist. Eine Verknüpfung, die im Falle eines Schmatzens oder Klickens sozusagen zu viel ist. Eventuell ist also eine Art Fehlschaltung der Grund für die Abwehrgefühle.
In der wissenschaftlichen Forschung haben Untersuchungen mit beispielsweise dem bildgebenden Verfahren „fMRT“ erste Hinweise zu möglichen Ursachen des Krankheitsbildes Misophonie gezeigt:
- Veränderte Introzeption im Sinne einer gesteigerte Selbstwahrnehmung
- Besonderheiten im Gehirn bei spezifischen Geräuschen: Aktivierung der vorderen Inselrinde, die Sinneseindrücken und Emotionen verknüpft.
Misophonie und andere psychische Erkrankungen
Die psychiatrischen Manuale (DSM-V und ICD-10) erwähnen Misophonie bisher nicht. Die meisten Psychiater würden bei den Patienten eher an eine Phobie, eine post-traumatische Belastungsstörung oder eine Zwangsstörung denken. Der niederländische Psychiater Damiaan Denys von der Freien Universität Amsterdam hat jedoch kürzlich Unterschiede herausgearbeitet. So sei die Reaktion bei Menschen mit Misophonie grundsätzlich anders als bei einer Phobie. Sie zeigten keine Angst, sondern eher eine Aggression. Ein schweres traumatisches Erlebnis wie bei der post-traumatischen Belastungsstörung sei in der Regel nicht erkennbar. Und im Unterschied zur Zwangsstörung würden die Patienten die Geräusche in der Regel zu vermeiden suchen.
In den Oberberg Fachkliniken für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie können Misophonie und alle weiteren psychische Erkrankungen behandelt werden.
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Auswirkungen auf den Alltag und Beziehungen
Betroffene organisieren ihren kompletten Alltag dann oft ausweichend um ihre Geräuschintoleranz herum. Übrigens ist es typisch, dass sich Misophonie meist nicht auf fremde Menschen - etwa in der Kantine oder der Pizzeria - bezieht, sondern auf nahe stehende Personen. Wenn man den Eindruck hat, sein Gegenüber wegen Essensgeräuschen nicht mehr ertragen zu können, läuft das oft auf starke Schuldgefühle hinaus. Inzwischen wissen die Forscher jedoch, dass Misophonie kein Zeichen für Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen ist, die sich über Jahre aufgestaut haben. Bereits Kinder können betroffen sein.
Was tun gegen Misophonie? Therapie und Bewältigungsstrategien
Weil der Leidensdruck für die Betroffenen sehr hoch sei, hält die Wissenschaftlerin eine psychotherapeutische Behandlung für sinnvoll. "Auf jeden Fall sollte man dieses Krankheitsbild ernst nehmen", sagt sie. Denn inzwischen hat die Forschung festgestellt, dass eine unbehandelte Misophonie zu Begleit- und Folgeerscheinungen führen kann.
Die Verknüpfung im Hirn lässt sich nicht in kurzer Zeit „umbauen“. Die Misophonie-Behandlung kann deshalb nur darauf abzielen, die aufflammenden Gefühle kontrollieren zu lernen. Eine Psychotherapie kann bei Misophonie effektiv sein. Dabei können unterschiedliche Psychotherapie-Verfahren zum Einsatz kommen. Die kognitive Verhaltenstherapie beginnt beispielsweise oft mit einer Untersuchung der affektiven und physischen Reaktionen von Betroffenen, wenn diese mit den für sie individuell unerträglichen Reizen konfrontiert werden. Anschließend werden dabei auftretende negative Gedanken und bewertende Überlegungen eruiert und in der Psychotherapie bearbeitet.
Für die Behandlung von Misophonie wird, aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Hyperakusis bei einem Tinnitus, sich häufig an dessen Behandlungsmethodik orientiert. So kann als Therapie bei Misophonie eine Tinnitus-Retraining-Therapie erfolgen, wo eine bewusste und unbewusste Bewältigung der Geräusche angestrebt wird. Eine Maskierung der triggernden Geräusche, in dem präferierte Musik, Kopfhörer und Ohrstöpsel miteingesetzt werden, können dabei unterstützen. Auch eine Psychotherapie findet zur Behandlung bei Misophonie häufig statt.
Einige Familien essen getrennt. "Es ist keine günstige Strategie, weil die Menschen diese Zeit grundsätzlich lieber zusammen verbringen würden. Der allererste Schritt, um langfristig Misophonie zu verhindern, sei daher Seebeck zufolge ganz leicht: "Die Eltern müssten nur ihren Kindern erlauben, vom Tisch aufzustehen. Denn Seebeck ist überzeugt, dass Betroffene Situationen mit unangenehmen Essensgeräuschen nicht lernen müssen auszuhalten. Zwar werden Angsterkrankungen verstärkt, wenn man bestimmte Situationen vermeidet. Bei der Misophonie sei das jedoch anders, so Seebeck.
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Betroffene von Misophenie können auch im Austausch mit anderen Betroffenen Erleichterung und Strategien finden. Ein Besuch einer Selbsthilfegruppe kann hilfreich sein. Entspannung generell, sowie insbesondere Entspannungsverfahren bzw. Entspannungstechniken kann Betroffenen als therapeutische Maßnahme bei Misophonie weiterhelfen.
Umgang mit Misophonie: Tipps für Betroffene und Angehörige
Über eine Misophonie offen zu sprechen ist wichtig. Denn im schlechtesten Falle kann sich aus einer Misophonie eine echte Phonophobie entwickeln. Diese regelrechte Angst vor Geräuschen kann dazu führen, dass alle Situationen gemieden werden, die diese psychologischen Trigger bedienen könnten. Eine starke Empfindlichkeit gegen Geräusche wie z. B. Essgeräusche würde dann dazu führen, dass der Phonophobiker nicht mehr in Gesellschaft essen will. Damit die Misophonie sich von einer harmlosen Störung nicht zu einem Problem entwickelt, ist kommunizieren besser als ignorieren. Oft hilft es schon, dass die Ablehnung der Geräusche einen Namen hat. Viele Misophoniker sind schon alleine dadurch beruhigt, zu wissen, dass sie mit dem Problem nicht alleine sind. Auch die Angehörigen und Freunde sind dann eher bereit, die „Überempfindlichkeit“ zu tolerieren.
Wer an Misophonie leidet, kann dies seinen Mitmenschen oft schwer verständlich machen. Schmatzen oder Nase hochziehen werden von anderen einfach als nervige Geräusche abgetan und vergessen. Wer unter einer Misophonie leidet, muss den anderen erklären, dass ihn manche Alltagsgeräusche unwillkürlich belasten.
Fazit
Misophonie ist eine komplexe Störung, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen kann. Es ist wichtig, das Krankheitsbild ernst zu nehmen und Betroffenen Unterstützung anzubieten. Durch offene Kommunikation, geeignete Therapien und Bewältigungsstrategien können Menschen mit Misophonie lernen, mit ihrer Geräuschempfindlichkeit umzugehen und ihre Lebensqualität zu verbessern.
Weitere Informationen und Anlaufstellen
- Dr. Anne Möllmann und Dr. Andreas Seebeck sind Experten auf dem Gebiet der Misophonie.
- In Betroffenenforen und Selbsthilfegruppen können sich Betroffene austauschen und gegenseitig unterstützen.
- Bei Verdacht auf Misophonie sollte ein Arzt oder Psychotherapeut hinzugezogen werden.
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