Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland mehr als 9.000 Menschen das Leben, weil sie keinen anderen Ausweg sehen. Besonders betroffen sind ältere Menschen. Die vorliegende Abhandlung beleuchtet die Ursachen von Suizidgedanken und -handlungen bei Demenz, insbesondere im höheren Lebensalter, und zeigt Möglichkeiten der Prävention und Hilfestellung auf.
Suizid in Deutschland: Ein Überblick
Suizidalität ist in Deutschland nach wie vor ein Tabuthema. Laut Statistischem Bundesamt begingen im Jahr 2023 insgesamt 10.304 Menschen Suizid, was mehr als 28 Menschen pro Tag entspricht. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) betont, dass die Zahl der Suizidtoten in Deutschland ungefähr dreimal so hoch ist wie die der Verkehrstoten. Experten schätzen zudem, dass auf einen Suizid 10 bis 20 Suizidversuche entfallen. Etwa 75 Prozent der Suizidtoten sind Männer.
Das erhöhte Suizidrisiko im Alter
Das Suizidrisiko steigt im Alter signifikant an. Im Jahr 2021 wurden 42 Prozent aller Suizide in Deutschland von Menschen begangen, die älter als 65 Jahre waren. Bei den über 80-Jährigen steigt die Rate sogar noch weiter an. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Suizidalität und Alter keine direkten "Geschwister" sind, sondern soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge eine Rolle spielen. Negative Altersbilder und die Frage nach der sozialen Rolle älterer Menschen in der Gesellschaft tragen dazu bei.
Faktoren, die Suizidalität im Alter begünstigen
Verschiedene Faktoren können das Suizidrisiko im Alter erhöhen:
- Einsamkeit und Vereinsamung: Viele ältere Menschen sind lange am Tag allein und haben wenig Anregungen.
- Verlust von Bezugspersonen: Das Erlebnis eines Suizids im engsten Familien- oder Freundeskreis, der Verlust des Partners oder Todesfälle im Freundeskreis können belastend sein.
- Eingeschränkte Mobilität und Selbstständigkeit: Eine zunehmende Reduzierung der Selbstständigkeit bis hin zur Pflegebedürftigkeit kann die Lebensqualität erheblich mindern.
- Erkrankungen: Erkrankungen, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren, wie Schwerhörigkeit, Sehstörungen, Inkontinenz oder sensorische Störungen, sowie belastende Erkrankungen wie Krebs oder dauerhafte Schmerzzustände, können das Suizidrisiko erhöhen.
- Abhängigkeitserkrankungen: Alkoholismus oder Tablettensucht können ebenfalls eine Rolle spielen.
- Selbstisolierung: Der Rückzug aus dem sozialen Leben kann zu Isolation und Einsamkeit führen.
- Psychische Erkrankungen: Depressionen sind ein wichtiger Risikofaktor für Suizidalität im Alter.
Suizid und Demenz: Ein komplexer Zusammenhang
Die Suizidforschung geht davon aus, dass psychische Erkrankungen in rund 90 Prozent der Fälle eine zentrale Rolle spielen, wobei Demenz nicht zu den häufigsten Ursachen zählt. Die Suizidrate bei Demenzkranken entspricht etwa der der Gesamtbevölkerung. Allerdings kann die Diagnose einer Demenzform bei den Betroffenen zu einer existenziellen Krise führen und das Suizidrisiko erhöhen, insbesondere in den ersten drei Monaten nach Diagnosestellung. Ausschlaggebend sind hierbei die Unumkehrbarkeit und der Verlauf der Erkrankung, verbunden mit dem Verlust der eigenen Selbstständigkeit.
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Suizidgedanken bei Demenz: Ursachen und Umgang
Suizidgedanken und -wünsche bei Menschen mit Demenz werden immer wieder berichtet, insbesondere nach der Diagnosestellung und in der ersten Phase der Erkrankung. Sie sind Ausdruck von Trauer über die Diagnose, Angst vor dem Verlust von Fähigkeiten und der Befürchtung, anderen zur Last zu fallen. In dieser Situation bedürfen Betroffene der Begleitung durch einfühlsame Gespräche, wobei das Thema Suizid weder tabuisiert noch überspielt werden sollte. Es ist wichtig, lebensbejahende Perspektiven aufzuzeigen und Suizidgedanken nicht mit einem erleichterten Zugang zu assistiertem Suizid zu beantworten.
Demenzformen und unterschiedliches Suizidrisiko
Jüngere Forschung hat einen Zusammenhang zwischen Demenz und Suizidrisiko aufgezeigt. Eine Studie aus Großbritannien untersuchte, inwieweit sich das Suizidrisiko zwischen verschiedenen Demenzarten unterscheidet. Das Ergebnis: Das Suizidrisiko ist nicht bei allen Demenzformen gleich. Seltenere Demenzarten weisen im Vergleich zur Alzheimer-Krankheit (AD) spezifische und oft höhere Risiken für bestimmte suizidale Verhaltensweisen auf.
- Menschen mit Lewy-Körperchen-Demenz äußern häufiger Suizidgedanken, unternehmen aber nicht unbedingt Suizidversuche.
- Menschen mit Frontotemporaler Demenz und Gemischter Demenz haben eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, Suizidversuche zu unternehmen, äußern aber nicht unbedingt Suizidgedanken. Dieses Verhalten könnte auf erhöhte Impulsivität und geringere Krankheitseinsicht hinweisen.
Depression und Demenz: Eine schwierige Unterscheidung
Depressionen können in jedem Alter auftreten, und im höheren Lebensalter können sie sich auf sehr ähnliche Weise wie Demenz zeigen. Vergesslichkeit, Konzentrationsprobleme und Antriebslosigkeit können bei beiden Erkrankungen auftreten. Ein zentraler Unterschied besteht darin, dass Menschen mit einer Depression ihre kognitiven Einschränkungen meist sehr bewusst wahrnehmen und ansprechen, während Menschen mit Demenz ihre Ausfälle oft nicht erkennen oder herunterspielen. Auch beim Gedächtnis zeigen sich Unterschiede: Bei einer Depression treten Gedächtnisprobleme oft nur phasenweise auf und können durch Stress verstärkt werden.
Behandlung von Depressionen bei Demenz
Auch bei bestehender Demenz lässt sich eine Depression behandeln. Ziel ist es, die Stimmung zu stabilisieren, Unruhe und Rückzug zu verringern und die Lebensqualität spürbar zu verbessern. Im Vordergrund stehen nicht-medikamentöse Maßnahmen wie strukturierende Tagesabläufe, Bewegung, Musik, Gespräche, kreative Angebote oder soziale Kontakte. In bestimmten Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva sinnvoll sein.
Warnsignale und Prävention
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass durch das Ansprechen des Themas Menschen in den Suizid getrieben werden. Nicht auf Warnsignale zu reagieren, birgt das größere Risiko. Folgende Verhaltensweisen können auf eine Suizidgefährdung hindeuten:
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- Äußerungen von Lebensmüdigkeit oder Lebensüberdruss
- Rückzug und fehlendes Interesse an gewohnten Aktivitäten
- Das Verschenken oder Vermachen von Besitz
- Eine plötzlich eingetretene Ruhe beziehungsweise eine unerwartete Art von Zufriedenheit nach großer Aufregung
- Verzicht auf Selbstversorgung und Selbstpflege
- "Tunnelblick" auf Defizite, Schwierigkeiten, Negatives
Präventive Maßnahmen
Verschiedene Maßnahmen können zur Suizidprävention im Alter beitragen:
- Förderung der sozialen Unterstützung: Ältere Menschen, die sich isoliert und einsam fühlen, haben ein höheres Suizidrisiko.
- Behandlung von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen: Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung ist wichtig.
- Verfügbarkeit von Hilfsangeboten: Psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung sowie palliative Versorgung können hilfreich sein.
- Entfernen von Gegenständen, die für eine Selbsttötung genutzt werden könnten: Dies bietet jedoch keine abschließende Sicherheit und ersetzt nicht das Gespräch mit den Betroffenen.
Was können Angehörige tun?
Angehörige spielen eine wichtige Rolle bei der Suizidprävention. Sie können aufmerksam beobachten, verständnisvoll begleiten und dabei helfen, dass professionelle Unterstützung in Anspruch genommen wird. Es ist wichtig, auf mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten zu achten, soziale Kontakte zu fördern, Bewegung zu ermöglichen und große Veränderungen zu vermeiden.
Selbstbestimmung und Suizidwunsch bei Menschen mit Demenz
Menschen mit Demenz können in allen Phasen der Erkrankung noch eigene Entscheidungen treffen. Solange sie über die Fähigkeiten verfügen, kompliziertere Sachverhalte zu verstehen, Folgen abzuschätzen und Entscheidungen stabil über einen längeren Zeitraum zu vertreten, können sie prinzipiell auch eine ernstzunehmende Suizidentscheidung treffen und Suizidassistenz in Anspruch nehmen. Allerdings ist bei Menschen mit Demenz nicht nur der Schutz vor sozialem Druck, sondern auch die Frage, ob eine Willensbildung autonom und nach den Maßstäben der Freiverantwortlichkeit erfolgt ist, in besonderem Maße zu prüfen.
Empfehlungen für den Umgang mit Suizidassistenzwünschen
Beim Umgang mit Suizidassistenzwünschen von Menschen mit Demenz sind folgende Fragen von Bedeutung:
- Fühlt sich der/die Betroffene einer Erwartungshaltung oder einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt?
- Welche familiären, sozialen oder finanziellen Krisen könnten der/die Betroffene gerade oder bald ausgesetzt sein?
- Sind die Gründe, die der/die Betroffene angibt, ausreichend und ernst zu nehmen?
- Hat der/die Betroffene eine Ansprechperson für emotionale oder organisatorische Probleme?
- Sind alle Alternativen zum Suizid ausreichend besprochen und verstanden worden?
- Kann eine medikamentös behandelbare Depression ausgeschlossen werden?
- Wie manifest ist der Suizidwunsch?
- Ist das konkrete Geschehen bei einer Suizidassistenz bekannt?
Gespräche und Begleitung
Die Gespräche und Begleitung sollten auf drei Ebenen stattfinden:
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- Allgemeine Gespräche durch Angehörige, Zugehörige oder Pflegende, zu denen der/die Betroffene ein Vertrauensverhältnis hat.
- Gesprächsführung über die Gründe des Suizidwunsches und zum Ausschluss einer durch Druck von außen herbeigeführten Entscheidung durch qualifizierte Fachkräfte mit Kenntnissen in psychosozialer Beratung, Suizidprävention und Sozialrecht.
- Überprüfung der Willensfähigkeit, der Freiwilligkeit und Ernsthaftigkeit durch qualifizierte Fachkräfte mit einer speziellen Befähigung auf gerontopsychiatrischem oder geriatrischem Fachgebiet.
Zusätzlich empfiehlt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft eine Dokumentationspflicht für jeden Fall einer Suizidassistenz und die Notwendigkeit einer Zustimmung durch eine multiprofessionelle Ethikkommission.
Fazit
Suizid bei Demenz ist ein komplexes und sensibles Thema, das eine differenzierte Betrachtung erfordert. Es ist wichtig, die Ursachen und Risikofaktoren zu kennen, Warnsignale ernst zu nehmen und Betroffenen und ihren Angehörigen Unterstützung anzubieten. Eine offene Kommunikation, eine umfassende Versorgung und die Berücksichtigung der Selbstbestimmung der Betroffenen sind entscheidend, um Suiziden vorzubeugen und die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu verbessern.